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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

doch keineswegs immer die Beseitigung oder auch nur eine starke Minderung
seines Grenzwertes. Vielmehr bleibt häufig neben der neuen, vielleicht natur-
entlehnten Linie, wie es die Wasserscheide z. B. ist, die Wirkung des Grcnz-
gebirges mehr oder weniger bestehen. Die neue Linie erhält dann doch erst
durch dieses ihre militärische Festigkeit und Dauer, ihre Autorität, wo nicht
im einzelnen, so doch im ganzen. Die natürliche Grenze steht und fällt mit dem
Grenzgebiet, dem Saum. Die naturentlehnte Grenze aber ist eine Linie, wie
es die vertragsmäßige oder historische Grenze ist, oder wenigstens heute sein
sollte. Auf Übergänge zwischen beiden Begriffen wollen wir uns nicht ein¬
lassen, so wenig wir verkennen, daß auch bei linearen Grenzen die peripherische
Eigenart der Grenzgegenden die Anwendung des Ausdrucks Grenzsaum recht¬
fertigt oder notwendig macht.

Während heute fast überall die mühsame und kämpfereiche Arbeit der
Reduzierung des herrenlosen Grenzgebietes auf eine Grenzlinie an Land durch¬
geführt ist, macht die Küstengrenze eine Ausnahme. Die ganze Wasserfläche ist ja
das, einst absolut trennende, heute überschreitbare Grenzgebiet. Seine Aufteilung
aber zu einer Linie ist in der sogenannten Hoheitsgrenze nur im Ansatz vor¬
handen. Die Verbreiterung der Dreimeilenzone auf Grund der heutigen Ge-
schützlragweite würde freilich die Straße von Dover auf eine gute Strecke
zwischen England und Frankreich aufteilen. Aber auch dazu wird es nicht
kommen, so lange wir der Losung "Freiheit der Meere" Geltung zu ver¬
schaffen vermögen. Die Sonderstellung der Wassergrenze, die wir übrigens
auch weiterhin einfach Küstmgrenze nennen werden, kommt also hier in der
Erhaltung der neutralen Grenzfläche wieder zum Ausdruck, wobei kaum noch
daraus hingewiesen zu werden braucht, daß durch sie statt einer Verkehrs¬
behinderung die Nachbarschaft mit allen Uferstaaten, d. h. mit fast sämtlichen
Staaten, gewonnen wird.

Küstengrenzen haben mit anderen natürlichen Grenzen den häufigen Wechsel
ihrer Eigenart im einzelnen gemeinsam. Zugängliche und unnahbare Uferstrecken
wechseln miteinander, wie auf dem Festland Gebirgslücken und Pässe, Furten
und Sumpfübergänge bald hier, bald dort auftreten. Hier haben zu allen
Zeiten starke Völker eingesetzt, um, dem friedlichen Handel folgend, ins jenseitige
Verkehrsgebiet erobernd einzudringen. Außenposten, Nebenländer, Brückenköpfe
jenseits des Meeres und Kolonien wurden erworben. Sogar über eine fo gute
natürliche Grenze wie die Pyrenäen hat die historische Grenze zeitweilig hin¬
übergegriffen. Zumal die Weltreiche der Vergangenheit haben sich über solche
Grenzen vielfach hinweggesetzt und die Völker unter einem Staatsgedanken
geeint. Und es ist der Beweis einer erstmals durch England angestrebten
wirklichen Weltherrschaft, daß England die Freiheit der Meere zu seinen Gunsten
zu beseitigen unternimmt.

Jene Außenbesttzungen gehen aber nun vielfach wieder verloren. Die
Selbständigkeit der Einzelstaaten stellt sich wieder her. Oder wenn das nicht


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

doch keineswegs immer die Beseitigung oder auch nur eine starke Minderung
seines Grenzwertes. Vielmehr bleibt häufig neben der neuen, vielleicht natur-
entlehnten Linie, wie es die Wasserscheide z. B. ist, die Wirkung des Grcnz-
gebirges mehr oder weniger bestehen. Die neue Linie erhält dann doch erst
durch dieses ihre militärische Festigkeit und Dauer, ihre Autorität, wo nicht
im einzelnen, so doch im ganzen. Die natürliche Grenze steht und fällt mit dem
Grenzgebiet, dem Saum. Die naturentlehnte Grenze aber ist eine Linie, wie
es die vertragsmäßige oder historische Grenze ist, oder wenigstens heute sein
sollte. Auf Übergänge zwischen beiden Begriffen wollen wir uns nicht ein¬
lassen, so wenig wir verkennen, daß auch bei linearen Grenzen die peripherische
Eigenart der Grenzgegenden die Anwendung des Ausdrucks Grenzsaum recht¬
fertigt oder notwendig macht.

Während heute fast überall die mühsame und kämpfereiche Arbeit der
Reduzierung des herrenlosen Grenzgebietes auf eine Grenzlinie an Land durch¬
geführt ist, macht die Küstengrenze eine Ausnahme. Die ganze Wasserfläche ist ja
das, einst absolut trennende, heute überschreitbare Grenzgebiet. Seine Aufteilung
aber zu einer Linie ist in der sogenannten Hoheitsgrenze nur im Ansatz vor¬
handen. Die Verbreiterung der Dreimeilenzone auf Grund der heutigen Ge-
schützlragweite würde freilich die Straße von Dover auf eine gute Strecke
zwischen England und Frankreich aufteilen. Aber auch dazu wird es nicht
kommen, so lange wir der Losung „Freiheit der Meere" Geltung zu ver¬
schaffen vermögen. Die Sonderstellung der Wassergrenze, die wir übrigens
auch weiterhin einfach Küstmgrenze nennen werden, kommt also hier in der
Erhaltung der neutralen Grenzfläche wieder zum Ausdruck, wobei kaum noch
daraus hingewiesen zu werden braucht, daß durch sie statt einer Verkehrs¬
behinderung die Nachbarschaft mit allen Uferstaaten, d. h. mit fast sämtlichen
Staaten, gewonnen wird.

Küstengrenzen haben mit anderen natürlichen Grenzen den häufigen Wechsel
ihrer Eigenart im einzelnen gemeinsam. Zugängliche und unnahbare Uferstrecken
wechseln miteinander, wie auf dem Festland Gebirgslücken und Pässe, Furten
und Sumpfübergänge bald hier, bald dort auftreten. Hier haben zu allen
Zeiten starke Völker eingesetzt, um, dem friedlichen Handel folgend, ins jenseitige
Verkehrsgebiet erobernd einzudringen. Außenposten, Nebenländer, Brückenköpfe
jenseits des Meeres und Kolonien wurden erworben. Sogar über eine fo gute
natürliche Grenze wie die Pyrenäen hat die historische Grenze zeitweilig hin¬
übergegriffen. Zumal die Weltreiche der Vergangenheit haben sich über solche
Grenzen vielfach hinweggesetzt und die Völker unter einem Staatsgedanken
geeint. Und es ist der Beweis einer erstmals durch England angestrebten
wirklichen Weltherrschaft, daß England die Freiheit der Meere zu seinen Gunsten
zu beseitigen unternimmt.

Jene Außenbesttzungen gehen aber nun vielfach wieder verloren. Die
Selbständigkeit der Einzelstaaten stellt sich wieder her. Oder wenn das nicht


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[0216] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen doch keineswegs immer die Beseitigung oder auch nur eine starke Minderung seines Grenzwertes. Vielmehr bleibt häufig neben der neuen, vielleicht natur- entlehnten Linie, wie es die Wasserscheide z. B. ist, die Wirkung des Grcnz- gebirges mehr oder weniger bestehen. Die neue Linie erhält dann doch erst durch dieses ihre militärische Festigkeit und Dauer, ihre Autorität, wo nicht im einzelnen, so doch im ganzen. Die natürliche Grenze steht und fällt mit dem Grenzgebiet, dem Saum. Die naturentlehnte Grenze aber ist eine Linie, wie es die vertragsmäßige oder historische Grenze ist, oder wenigstens heute sein sollte. Auf Übergänge zwischen beiden Begriffen wollen wir uns nicht ein¬ lassen, so wenig wir verkennen, daß auch bei linearen Grenzen die peripherische Eigenart der Grenzgegenden die Anwendung des Ausdrucks Grenzsaum recht¬ fertigt oder notwendig macht. Während heute fast überall die mühsame und kämpfereiche Arbeit der Reduzierung des herrenlosen Grenzgebietes auf eine Grenzlinie an Land durch¬ geführt ist, macht die Küstengrenze eine Ausnahme. Die ganze Wasserfläche ist ja das, einst absolut trennende, heute überschreitbare Grenzgebiet. Seine Aufteilung aber zu einer Linie ist in der sogenannten Hoheitsgrenze nur im Ansatz vor¬ handen. Die Verbreiterung der Dreimeilenzone auf Grund der heutigen Ge- schützlragweite würde freilich die Straße von Dover auf eine gute Strecke zwischen England und Frankreich aufteilen. Aber auch dazu wird es nicht kommen, so lange wir der Losung „Freiheit der Meere" Geltung zu ver¬ schaffen vermögen. Die Sonderstellung der Wassergrenze, die wir übrigens auch weiterhin einfach Küstmgrenze nennen werden, kommt also hier in der Erhaltung der neutralen Grenzfläche wieder zum Ausdruck, wobei kaum noch daraus hingewiesen zu werden braucht, daß durch sie statt einer Verkehrs¬ behinderung die Nachbarschaft mit allen Uferstaaten, d. h. mit fast sämtlichen Staaten, gewonnen wird. Küstengrenzen haben mit anderen natürlichen Grenzen den häufigen Wechsel ihrer Eigenart im einzelnen gemeinsam. Zugängliche und unnahbare Uferstrecken wechseln miteinander, wie auf dem Festland Gebirgslücken und Pässe, Furten und Sumpfübergänge bald hier, bald dort auftreten. Hier haben zu allen Zeiten starke Völker eingesetzt, um, dem friedlichen Handel folgend, ins jenseitige Verkehrsgebiet erobernd einzudringen. Außenposten, Nebenländer, Brückenköpfe jenseits des Meeres und Kolonien wurden erworben. Sogar über eine fo gute natürliche Grenze wie die Pyrenäen hat die historische Grenze zeitweilig hin¬ übergegriffen. Zumal die Weltreiche der Vergangenheit haben sich über solche Grenzen vielfach hinweggesetzt und die Völker unter einem Staatsgedanken geeint. Und es ist der Beweis einer erstmals durch England angestrebten wirklichen Weltherrschaft, daß England die Freiheit der Meere zu seinen Gunsten zu beseitigen unternimmt. Jene Außenbesttzungen gehen aber nun vielfach wieder verloren. Die Selbständigkeit der Einzelstaaten stellt sich wieder her. Oder wenn das nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/216>, abgerufen am 25.08.2024.