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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

umgeht, den Grenzstreit schlichten hilft. Ihr Wert ist auch sehr erheblich,
wenn es sich nur um Errichtung von innerstaatlichen Grenzen handelt. Wir
erkennen aber, wie notwendig es ist. eine Unterscheidung innerhalb des Begriffs
der "natürlichen Grenze" zu treffen. So hat man "naturentlehnte" Grenzen
oder auch "natürliche Grenzlinien" unterschieden von "natürlichen Grenzen"
oder "Naturgrenzen". Wir haben uns bisher mit den letzteren befaßt. Nur
gelegentlich der Betrachtung der Wasserscheiden kamen wir in die Nähe des
anderen Begriffs. Und hier nutz nun festgestellt werden, daß jede natur¬
entlehnte Grenze wie ein Eindringling abzuwehren ist, sofern sie auf Allgemein¬
gültigkeit Anspruch erheben sollte, ein Anspruch, der in der üblichen Bezeichnung
als natürliche Grenze ganz von selbst mit anklingt.

Bekanntlich greift man bei Verhandlungen über Grenzfragen in entlegenen
Gegenden oder anderen Erdteilen gern wie früher zur Wasserscheide, so heute
zur Anwendung von mathematisch bestimmbaren geraden Linien, z. B. Längen-
nnd Breitenkreisen. Man hat selbst diese Linien natürliche Grenzen genannt,
weil sie durch Naturbeobachtung auffindbar sind. Aber gerade ihr Auftreten
in dieser Gesellschaft legt es nahe, den Unterschied von naturentlehnten und
natürlichen Grenzen durch Sprachgewöhnung geflissentlich zu betonen und da¬
durch klarzustellen, daß es bei ersteren sich genau genommen um künstliche,
d. h. gewollte Grenzen handelt. Das Wesen der natürlichen Grenzen aber
läßt sich durch den Gegensatz zu den naturentlehnten um so vollständiger er¬
fassen.

Ein natürliches Lebensgebiet ist ein natürliches Verkehrsgebiet. Seinen Abschluß
bilden Verkehrserschwerungen, mit der Wirkung um so regeren Austausches im
Innern. Die Gegend der Verkehrshemmnngen macht ein Grenzgebiet, einen
Grenzstreifen, aus. Er ist gewissermaßen neutraler Boden, der auf beiden
Seiten von Grenzlinien eingeschlossen werden könnte. Das benachbarte natür¬
liche Verkehrsgebiet sieht sich an dem hemmenden Saum in seinem natürlichen
Ausdehnungsbestreben behindert und ist seinerseits vor Bedrohung sicher. Er¬
leichterte Abwehr und erschwerter Angriff für beide Teile. Schutz und Schranke
machen Grenzstreit zur Seltenheit. Darin liegt ein Wert der natürlichen
Grenze. Im äußersten Fall ist Grenzstreit sogar unmöglich, wenn nämlich
absolute Trennung durch sie hervorgerufen wird. Ihre Autorität ist dann
die Tatsache der Beziehungslosigkeit. Freilich der Wert dieses Extrems ist
natürlich sehr bedingt, zeitlich wie sachlich.

Der Krieg ist Ausnahme. Der Frieden aber arbeitet, wie wir sahen,
unablässig an der Beseitigung der Verkehrshemmungen, welche natürliche
Grenzen hervorrufen. Damit führt die zivilisatorische Arbeit meist ganz gegen
ihre Absicht die Gefahr kriegerischen Zusammenstoßes herbei. Auseinander¬
setzungen, allein schon wegen der Festsetzung der Grenzlinie im einzelnen, z. B.
wegen des Besitzes der Pässe, treten ein. Ist aber einmal die Überführung
des Grenzstreifens in eine Grenzlinie vertragsmäßig erreicht, so bedeutet das


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

umgeht, den Grenzstreit schlichten hilft. Ihr Wert ist auch sehr erheblich,
wenn es sich nur um Errichtung von innerstaatlichen Grenzen handelt. Wir
erkennen aber, wie notwendig es ist. eine Unterscheidung innerhalb des Begriffs
der „natürlichen Grenze" zu treffen. So hat man „naturentlehnte" Grenzen
oder auch „natürliche Grenzlinien" unterschieden von „natürlichen Grenzen"
oder „Naturgrenzen". Wir haben uns bisher mit den letzteren befaßt. Nur
gelegentlich der Betrachtung der Wasserscheiden kamen wir in die Nähe des
anderen Begriffs. Und hier nutz nun festgestellt werden, daß jede natur¬
entlehnte Grenze wie ein Eindringling abzuwehren ist, sofern sie auf Allgemein¬
gültigkeit Anspruch erheben sollte, ein Anspruch, der in der üblichen Bezeichnung
als natürliche Grenze ganz von selbst mit anklingt.

Bekanntlich greift man bei Verhandlungen über Grenzfragen in entlegenen
Gegenden oder anderen Erdteilen gern wie früher zur Wasserscheide, so heute
zur Anwendung von mathematisch bestimmbaren geraden Linien, z. B. Längen-
nnd Breitenkreisen. Man hat selbst diese Linien natürliche Grenzen genannt,
weil sie durch Naturbeobachtung auffindbar sind. Aber gerade ihr Auftreten
in dieser Gesellschaft legt es nahe, den Unterschied von naturentlehnten und
natürlichen Grenzen durch Sprachgewöhnung geflissentlich zu betonen und da¬
durch klarzustellen, daß es bei ersteren sich genau genommen um künstliche,
d. h. gewollte Grenzen handelt. Das Wesen der natürlichen Grenzen aber
läßt sich durch den Gegensatz zu den naturentlehnten um so vollständiger er¬
fassen.

Ein natürliches Lebensgebiet ist ein natürliches Verkehrsgebiet. Seinen Abschluß
bilden Verkehrserschwerungen, mit der Wirkung um so regeren Austausches im
Innern. Die Gegend der Verkehrshemmnngen macht ein Grenzgebiet, einen
Grenzstreifen, aus. Er ist gewissermaßen neutraler Boden, der auf beiden
Seiten von Grenzlinien eingeschlossen werden könnte. Das benachbarte natür¬
liche Verkehrsgebiet sieht sich an dem hemmenden Saum in seinem natürlichen
Ausdehnungsbestreben behindert und ist seinerseits vor Bedrohung sicher. Er¬
leichterte Abwehr und erschwerter Angriff für beide Teile. Schutz und Schranke
machen Grenzstreit zur Seltenheit. Darin liegt ein Wert der natürlichen
Grenze. Im äußersten Fall ist Grenzstreit sogar unmöglich, wenn nämlich
absolute Trennung durch sie hervorgerufen wird. Ihre Autorität ist dann
die Tatsache der Beziehungslosigkeit. Freilich der Wert dieses Extrems ist
natürlich sehr bedingt, zeitlich wie sachlich.

Der Krieg ist Ausnahme. Der Frieden aber arbeitet, wie wir sahen,
unablässig an der Beseitigung der Verkehrshemmungen, welche natürliche
Grenzen hervorrufen. Damit führt die zivilisatorische Arbeit meist ganz gegen
ihre Absicht die Gefahr kriegerischen Zusammenstoßes herbei. Auseinander¬
setzungen, allein schon wegen der Festsetzung der Grenzlinie im einzelnen, z. B.
wegen des Besitzes der Pässe, treten ein. Ist aber einmal die Überführung
des Grenzstreifens in eine Grenzlinie vertragsmäßig erreicht, so bedeutet das


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[0215] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen umgeht, den Grenzstreit schlichten hilft. Ihr Wert ist auch sehr erheblich, wenn es sich nur um Errichtung von innerstaatlichen Grenzen handelt. Wir erkennen aber, wie notwendig es ist. eine Unterscheidung innerhalb des Begriffs der „natürlichen Grenze" zu treffen. So hat man „naturentlehnte" Grenzen oder auch „natürliche Grenzlinien" unterschieden von „natürlichen Grenzen" oder „Naturgrenzen". Wir haben uns bisher mit den letzteren befaßt. Nur gelegentlich der Betrachtung der Wasserscheiden kamen wir in die Nähe des anderen Begriffs. Und hier nutz nun festgestellt werden, daß jede natur¬ entlehnte Grenze wie ein Eindringling abzuwehren ist, sofern sie auf Allgemein¬ gültigkeit Anspruch erheben sollte, ein Anspruch, der in der üblichen Bezeichnung als natürliche Grenze ganz von selbst mit anklingt. Bekanntlich greift man bei Verhandlungen über Grenzfragen in entlegenen Gegenden oder anderen Erdteilen gern wie früher zur Wasserscheide, so heute zur Anwendung von mathematisch bestimmbaren geraden Linien, z. B. Längen- nnd Breitenkreisen. Man hat selbst diese Linien natürliche Grenzen genannt, weil sie durch Naturbeobachtung auffindbar sind. Aber gerade ihr Auftreten in dieser Gesellschaft legt es nahe, den Unterschied von naturentlehnten und natürlichen Grenzen durch Sprachgewöhnung geflissentlich zu betonen und da¬ durch klarzustellen, daß es bei ersteren sich genau genommen um künstliche, d. h. gewollte Grenzen handelt. Das Wesen der natürlichen Grenzen aber läßt sich durch den Gegensatz zu den naturentlehnten um so vollständiger er¬ fassen. Ein natürliches Lebensgebiet ist ein natürliches Verkehrsgebiet. Seinen Abschluß bilden Verkehrserschwerungen, mit der Wirkung um so regeren Austausches im Innern. Die Gegend der Verkehrshemmnngen macht ein Grenzgebiet, einen Grenzstreifen, aus. Er ist gewissermaßen neutraler Boden, der auf beiden Seiten von Grenzlinien eingeschlossen werden könnte. Das benachbarte natür¬ liche Verkehrsgebiet sieht sich an dem hemmenden Saum in seinem natürlichen Ausdehnungsbestreben behindert und ist seinerseits vor Bedrohung sicher. Er¬ leichterte Abwehr und erschwerter Angriff für beide Teile. Schutz und Schranke machen Grenzstreit zur Seltenheit. Darin liegt ein Wert der natürlichen Grenze. Im äußersten Fall ist Grenzstreit sogar unmöglich, wenn nämlich absolute Trennung durch sie hervorgerufen wird. Ihre Autorität ist dann die Tatsache der Beziehungslosigkeit. Freilich der Wert dieses Extrems ist natürlich sehr bedingt, zeitlich wie sachlich. Der Krieg ist Ausnahme. Der Frieden aber arbeitet, wie wir sahen, unablässig an der Beseitigung der Verkehrshemmungen, welche natürliche Grenzen hervorrufen. Damit führt die zivilisatorische Arbeit meist ganz gegen ihre Absicht die Gefahr kriegerischen Zusammenstoßes herbei. Auseinander¬ setzungen, allein schon wegen der Festsetzung der Grenzlinie im einzelnen, z. B. wegen des Besitzes der Pässe, treten ein. Ist aber einmal die Überführung des Grenzstreifens in eine Grenzlinie vertragsmäßig erreicht, so bedeutet das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/215>, abgerufen am 28.09.2024.