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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

auch nach Beseitigung der Waldgrenzen. Großstaaten wachsen heran, bis ihnen
das Meer ein Ziel setzt.

Es braucht nur kurz berührt zu werden, daß Wüsten oder gar die Eis¬
regionen gute, allzugute Naturgrenzen sind. Sie sind dauerhafte Rücken¬
deckungen, sind nicht mehr ein Trennungsgebiet, sondern selber unantastbare
Herrschaft der Natur, die "Anökumene".

Wenn wir nun zu den Flußgrenzen übergehen, so scheint auch hier nur
eine Wiederholung des Bisherigen sich zu ergeben. Stromrcgulierungen schaffen
ein festes Bett mit sicheren Ufern, an Stelle sumpfiger, unbewohnbarer Ufer¬
streifen. Dadurch wird der Fährverkehr erleichtert, und feste Brücken entstehen.
Die Unbequemlichkeit der Flußüberquerung wird weit aufgewogen durch die
Vorteile der Verbindungen stromauf und stromab. Aus der natürlichen Grenze
wird immer mehr eine natürliche Verkehrsstraße. Und so ist es nicht ver¬
wunderlich, daß im Laufe der Zeit die Vereinigung beider Flußufer in einer
Hand zur Rege! geworden ist. Ja, das ganze Flußsystem zeigt ein Streben
nach politischer Vereinigung.

Im Gegensatz dazu steht aber noch heute der Fluß im Ruf, eine gute
Grenze zu sein. Wie konnte der Rhein so lange und bis in unsere Tage
hinein mit Erfolg als eine natürliche Grenze bezeichnet werden? Wie konnte
der Anschein eines Naturanrechts auf sein linkes Ufer entstehen? Wie kommt
es, daß selbst kleine, leicht zu überschreitende Wasserläufe als Grenzen zu hoher
Berühmtheit gelangt sind? Zur Erklärung genügt die Tatsache nicht, daß die
Flüsse ihren militärisch-taktischen Schutzwert immer behalten. Etwas anderes
kommt hier in Frage.

Aus vergangenen Tagen wird uns wohl erzählt, daß Nachbarstämme in
langen Fehden sich erschöpften deswegen, weil weder Berg noch Fluß ihren
Grenzstreit schlichtete; und es ist gar keine Frage, ein kleiner Fluß oder ein
anderer unbedeutender natürlicher Anhaltspunkt kann ein sehr willkommener,
beiden Teilen erwünschter Helfer im Grenzstreit sein. Es wird berichtet, daß
Steppenvölker kaum merkliche Geländeerhebungen als Grenzen achten. Auch
Flußbetten mit nur periodischem oder abgeleiteten Wasserlauf dienen dem
gleichen Zweck. Außerordentlich bezeichnend für die rein praktische Begründung
solcher Verlegenheitsgrenzen wäre es. wenn folgender Bericht aus dem östlichen
Okkupationsgebiet zuträfe. Die Grenze zwischen dem deutschen und öster¬
reichischen Verwaltungsgebiet in Kongreßpolen soll teilweise auf einem Bahn¬
damm hinlaufen. Bei all diesen Beispielen ist natürlich von Verkehrshemmung
oder von Unmöglichkeit der Siedlung keine Rede. Es handelt sich lediglich
um Befriedigung des Grenzbedürfnisses, nicht aber um naturgeschaffene
Schranken. So kam also die Flußlinie in den Ruf einer guten Grenze. Sie
leistet gute Dienste, wo menschliche Hilflosigkeit zu überwinden oder sachliche
Schwierigkeiten zu beseitigen find, wo sie die diplomatische Verhandlung am
grünen Tisch ermöglicht, die Schwierigkeit der Vereinigung an Ort und Stelle


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

auch nach Beseitigung der Waldgrenzen. Großstaaten wachsen heran, bis ihnen
das Meer ein Ziel setzt.

Es braucht nur kurz berührt zu werden, daß Wüsten oder gar die Eis¬
regionen gute, allzugute Naturgrenzen sind. Sie sind dauerhafte Rücken¬
deckungen, sind nicht mehr ein Trennungsgebiet, sondern selber unantastbare
Herrschaft der Natur, die „Anökumene".

Wenn wir nun zu den Flußgrenzen übergehen, so scheint auch hier nur
eine Wiederholung des Bisherigen sich zu ergeben. Stromrcgulierungen schaffen
ein festes Bett mit sicheren Ufern, an Stelle sumpfiger, unbewohnbarer Ufer¬
streifen. Dadurch wird der Fährverkehr erleichtert, und feste Brücken entstehen.
Die Unbequemlichkeit der Flußüberquerung wird weit aufgewogen durch die
Vorteile der Verbindungen stromauf und stromab. Aus der natürlichen Grenze
wird immer mehr eine natürliche Verkehrsstraße. Und so ist es nicht ver¬
wunderlich, daß im Laufe der Zeit die Vereinigung beider Flußufer in einer
Hand zur Rege! geworden ist. Ja, das ganze Flußsystem zeigt ein Streben
nach politischer Vereinigung.

Im Gegensatz dazu steht aber noch heute der Fluß im Ruf, eine gute
Grenze zu sein. Wie konnte der Rhein so lange und bis in unsere Tage
hinein mit Erfolg als eine natürliche Grenze bezeichnet werden? Wie konnte
der Anschein eines Naturanrechts auf sein linkes Ufer entstehen? Wie kommt
es, daß selbst kleine, leicht zu überschreitende Wasserläufe als Grenzen zu hoher
Berühmtheit gelangt sind? Zur Erklärung genügt die Tatsache nicht, daß die
Flüsse ihren militärisch-taktischen Schutzwert immer behalten. Etwas anderes
kommt hier in Frage.

Aus vergangenen Tagen wird uns wohl erzählt, daß Nachbarstämme in
langen Fehden sich erschöpften deswegen, weil weder Berg noch Fluß ihren
Grenzstreit schlichtete; und es ist gar keine Frage, ein kleiner Fluß oder ein
anderer unbedeutender natürlicher Anhaltspunkt kann ein sehr willkommener,
beiden Teilen erwünschter Helfer im Grenzstreit sein. Es wird berichtet, daß
Steppenvölker kaum merkliche Geländeerhebungen als Grenzen achten. Auch
Flußbetten mit nur periodischem oder abgeleiteten Wasserlauf dienen dem
gleichen Zweck. Außerordentlich bezeichnend für die rein praktische Begründung
solcher Verlegenheitsgrenzen wäre es. wenn folgender Bericht aus dem östlichen
Okkupationsgebiet zuträfe. Die Grenze zwischen dem deutschen und öster¬
reichischen Verwaltungsgebiet in Kongreßpolen soll teilweise auf einem Bahn¬
damm hinlaufen. Bei all diesen Beispielen ist natürlich von Verkehrshemmung
oder von Unmöglichkeit der Siedlung keine Rede. Es handelt sich lediglich
um Befriedigung des Grenzbedürfnisses, nicht aber um naturgeschaffene
Schranken. So kam also die Flußlinie in den Ruf einer guten Grenze. Sie
leistet gute Dienste, wo menschliche Hilflosigkeit zu überwinden oder sachliche
Schwierigkeiten zu beseitigen find, wo sie die diplomatische Verhandlung am
grünen Tisch ermöglicht, die Schwierigkeit der Vereinigung an Ort und Stelle


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[0214] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen auch nach Beseitigung der Waldgrenzen. Großstaaten wachsen heran, bis ihnen das Meer ein Ziel setzt. Es braucht nur kurz berührt zu werden, daß Wüsten oder gar die Eis¬ regionen gute, allzugute Naturgrenzen sind. Sie sind dauerhafte Rücken¬ deckungen, sind nicht mehr ein Trennungsgebiet, sondern selber unantastbare Herrschaft der Natur, die „Anökumene". Wenn wir nun zu den Flußgrenzen übergehen, so scheint auch hier nur eine Wiederholung des Bisherigen sich zu ergeben. Stromrcgulierungen schaffen ein festes Bett mit sicheren Ufern, an Stelle sumpfiger, unbewohnbarer Ufer¬ streifen. Dadurch wird der Fährverkehr erleichtert, und feste Brücken entstehen. Die Unbequemlichkeit der Flußüberquerung wird weit aufgewogen durch die Vorteile der Verbindungen stromauf und stromab. Aus der natürlichen Grenze wird immer mehr eine natürliche Verkehrsstraße. Und so ist es nicht ver¬ wunderlich, daß im Laufe der Zeit die Vereinigung beider Flußufer in einer Hand zur Rege! geworden ist. Ja, das ganze Flußsystem zeigt ein Streben nach politischer Vereinigung. Im Gegensatz dazu steht aber noch heute der Fluß im Ruf, eine gute Grenze zu sein. Wie konnte der Rhein so lange und bis in unsere Tage hinein mit Erfolg als eine natürliche Grenze bezeichnet werden? Wie konnte der Anschein eines Naturanrechts auf sein linkes Ufer entstehen? Wie kommt es, daß selbst kleine, leicht zu überschreitende Wasserläufe als Grenzen zu hoher Berühmtheit gelangt sind? Zur Erklärung genügt die Tatsache nicht, daß die Flüsse ihren militärisch-taktischen Schutzwert immer behalten. Etwas anderes kommt hier in Frage. Aus vergangenen Tagen wird uns wohl erzählt, daß Nachbarstämme in langen Fehden sich erschöpften deswegen, weil weder Berg noch Fluß ihren Grenzstreit schlichtete; und es ist gar keine Frage, ein kleiner Fluß oder ein anderer unbedeutender natürlicher Anhaltspunkt kann ein sehr willkommener, beiden Teilen erwünschter Helfer im Grenzstreit sein. Es wird berichtet, daß Steppenvölker kaum merkliche Geländeerhebungen als Grenzen achten. Auch Flußbetten mit nur periodischem oder abgeleiteten Wasserlauf dienen dem gleichen Zweck. Außerordentlich bezeichnend für die rein praktische Begründung solcher Verlegenheitsgrenzen wäre es. wenn folgender Bericht aus dem östlichen Okkupationsgebiet zuträfe. Die Grenze zwischen dem deutschen und öster¬ reichischen Verwaltungsgebiet in Kongreßpolen soll teilweise auf einem Bahn¬ damm hinlaufen. Bei all diesen Beispielen ist natürlich von Verkehrshemmung oder von Unmöglichkeit der Siedlung keine Rede. Es handelt sich lediglich um Befriedigung des Grenzbedürfnisses, nicht aber um naturgeschaffene Schranken. So kam also die Flußlinie in den Ruf einer guten Grenze. Sie leistet gute Dienste, wo menschliche Hilflosigkeit zu überwinden oder sachliche Schwierigkeiten zu beseitigen find, wo sie die diplomatische Verhandlung am grünen Tisch ermöglicht, die Schwierigkeit der Vereinigung an Ort und Stelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/214>, abgerufen am 26.06.2024.