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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Kant -- unser Führer im Streit

Jahrhunderts, Leibniz, dagegen, ist gerade die eigene Vollkommenheit das
Prinzip des moralischen Wollens. Alles ist gut, was den Zustand des Menschen
vervollkommnet, ihn auf eine höhere Entwicklungsstufe führt, vom Tier entfernt
und Gott nähert. Und so gab es noch eine Fülle anderer moralphilosophischer
Richtungen, denen aber, so widerstreitend die einzelnen Meinungen sein mochten,
doch eines gemeinsam war. Allen Philosophen vor Kant nämlich war der Wille
bestimmt durch Gründe, die außerhalb der Vernunft lagen. Man fragt nach
dem Wesen des Guten, und wenn man diesen Begriff bestimmt hat. stellt man
die Richtlinien für die Verwirklichung dieses höchsten Guten auf. Dieser
Fremdgesetzgebung oder Heteronomie des Willens stellt Kant die Selbstherrlichkeit
des Willens gegenüber, die Autonomie, bei der der Wille aus sich selbst heraus,
nicht vom Gefühl oder vom Verstand her, die Leitlinien zum sittlichen Wollen
nimmt. Das Grundgesetz der Sittlichkeit ist eben der kategorische Imperativ,
der uns zuruft: Gib deinem Willen die Form der allgemeinen Gesetzgebung!
Nun ist es ganz klar, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Wir
brauchen uns ja nur jedesmal zu fragen: Könntest du wollen, daß alle Menschen
nach dem Grundsatz handeln, nach dem du jetzt deinen Willen bestimmst? Um
nur zwei praktische Beispiele herauszugreifen: den Selbstmord und die Lüge.
Der Selbstmord hatte manchem Philosophen nicht nur als etwas durchaus
Entschuldbares, sondern sogar als etwas sehr Schönes, Erstrebenswertes gegolten.
Denken wir nur etwa an den freiwilligen Tod des Petronius manier seiner
Freunde im Arme seiner Geliebten! Und doch: Könnte der Selbstmord wirklich
das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein? Sicherlich können wir nicht
wünschen, daß jedermann Hand an sich legte und so dem Menschengeschlecht ein
tasch Ende bereitet würde. Und die Lüge, die als Notlüge manchem Moral¬
philosophen als erlaubt galt? Wieder fragen wir uns: Wie wäre es, wenn
alle Menschen nach demselben Grundsatz handelten? Wir finden, die Möglichkeit
jeder moralischen Gemeinschaft wäre dahin. Betrachten wir so alle Handlungen,
die ein allgemeines Gesetz sein können, so sehen wir deutlich zwei Gruppen:
solche, die eigene Vollkommenheit, und solche, die fremde Glückseligkeit als Ziel
haben. Und so ist auch dieses eine Formulierung des kategorischen Imperativs:
eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit zu fördern. Kant hat ja das
Sittengesetz als solches nicht gegeben, sondern nur als bestehende Gesetzlichkeit
erkannt. Es war schon längst ein Eckpfeiler der christlichen Lehre gewesen, Kant
hat ihm nur die eigentümliche Form und die feste Stelle im philosophischen
System gegeben. Ihm bleibt das Verdienst, das autonome Sittengesetz den
heteronomen Lehren der englischen und der rationalistischen Philosophie gegenüber
für alle Zeit unwandelbar fest hingestellt zu haben. So sehr er aber in Gegen¬
satz zu diesen zwei Geistesrichtungen trat, ex reichte beiden wieder die Hand,
indem er aus jeder etwas herüberrettete und das Verschiedenartige an ihnen zu
harmonischer Synthese verband: die Vollkommenheitslehre der Rationalisten mit
der Glückseligkeitslehre der englischen Gefühlsphilosophie.


Kant — unser Führer im Streit

Jahrhunderts, Leibniz, dagegen, ist gerade die eigene Vollkommenheit das
Prinzip des moralischen Wollens. Alles ist gut, was den Zustand des Menschen
vervollkommnet, ihn auf eine höhere Entwicklungsstufe führt, vom Tier entfernt
und Gott nähert. Und so gab es noch eine Fülle anderer moralphilosophischer
Richtungen, denen aber, so widerstreitend die einzelnen Meinungen sein mochten,
doch eines gemeinsam war. Allen Philosophen vor Kant nämlich war der Wille
bestimmt durch Gründe, die außerhalb der Vernunft lagen. Man fragt nach
dem Wesen des Guten, und wenn man diesen Begriff bestimmt hat. stellt man
die Richtlinien für die Verwirklichung dieses höchsten Guten auf. Dieser
Fremdgesetzgebung oder Heteronomie des Willens stellt Kant die Selbstherrlichkeit
des Willens gegenüber, die Autonomie, bei der der Wille aus sich selbst heraus,
nicht vom Gefühl oder vom Verstand her, die Leitlinien zum sittlichen Wollen
nimmt. Das Grundgesetz der Sittlichkeit ist eben der kategorische Imperativ,
der uns zuruft: Gib deinem Willen die Form der allgemeinen Gesetzgebung!
Nun ist es ganz klar, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Wir
brauchen uns ja nur jedesmal zu fragen: Könntest du wollen, daß alle Menschen
nach dem Grundsatz handeln, nach dem du jetzt deinen Willen bestimmst? Um
nur zwei praktische Beispiele herauszugreifen: den Selbstmord und die Lüge.
Der Selbstmord hatte manchem Philosophen nicht nur als etwas durchaus
Entschuldbares, sondern sogar als etwas sehr Schönes, Erstrebenswertes gegolten.
Denken wir nur etwa an den freiwilligen Tod des Petronius manier seiner
Freunde im Arme seiner Geliebten! Und doch: Könnte der Selbstmord wirklich
das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein? Sicherlich können wir nicht
wünschen, daß jedermann Hand an sich legte und so dem Menschengeschlecht ein
tasch Ende bereitet würde. Und die Lüge, die als Notlüge manchem Moral¬
philosophen als erlaubt galt? Wieder fragen wir uns: Wie wäre es, wenn
alle Menschen nach demselben Grundsatz handelten? Wir finden, die Möglichkeit
jeder moralischen Gemeinschaft wäre dahin. Betrachten wir so alle Handlungen,
die ein allgemeines Gesetz sein können, so sehen wir deutlich zwei Gruppen:
solche, die eigene Vollkommenheit, und solche, die fremde Glückseligkeit als Ziel
haben. Und so ist auch dieses eine Formulierung des kategorischen Imperativs:
eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit zu fördern. Kant hat ja das
Sittengesetz als solches nicht gegeben, sondern nur als bestehende Gesetzlichkeit
erkannt. Es war schon längst ein Eckpfeiler der christlichen Lehre gewesen, Kant
hat ihm nur die eigentümliche Form und die feste Stelle im philosophischen
System gegeben. Ihm bleibt das Verdienst, das autonome Sittengesetz den
heteronomen Lehren der englischen und der rationalistischen Philosophie gegenüber
für alle Zeit unwandelbar fest hingestellt zu haben. So sehr er aber in Gegen¬
satz zu diesen zwei Geistesrichtungen trat, ex reichte beiden wieder die Hand,
indem er aus jeder etwas herüberrettete und das Verschiedenartige an ihnen zu
harmonischer Synthese verband: die Vollkommenheitslehre der Rationalisten mit
der Glückseligkeitslehre der englischen Gefühlsphilosophie.


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[0193] Kant — unser Führer im Streit Jahrhunderts, Leibniz, dagegen, ist gerade die eigene Vollkommenheit das Prinzip des moralischen Wollens. Alles ist gut, was den Zustand des Menschen vervollkommnet, ihn auf eine höhere Entwicklungsstufe führt, vom Tier entfernt und Gott nähert. Und so gab es noch eine Fülle anderer moralphilosophischer Richtungen, denen aber, so widerstreitend die einzelnen Meinungen sein mochten, doch eines gemeinsam war. Allen Philosophen vor Kant nämlich war der Wille bestimmt durch Gründe, die außerhalb der Vernunft lagen. Man fragt nach dem Wesen des Guten, und wenn man diesen Begriff bestimmt hat. stellt man die Richtlinien für die Verwirklichung dieses höchsten Guten auf. Dieser Fremdgesetzgebung oder Heteronomie des Willens stellt Kant die Selbstherrlichkeit des Willens gegenüber, die Autonomie, bei der der Wille aus sich selbst heraus, nicht vom Gefühl oder vom Verstand her, die Leitlinien zum sittlichen Wollen nimmt. Das Grundgesetz der Sittlichkeit ist eben der kategorische Imperativ, der uns zuruft: Gib deinem Willen die Form der allgemeinen Gesetzgebung! Nun ist es ganz klar, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Wir brauchen uns ja nur jedesmal zu fragen: Könntest du wollen, daß alle Menschen nach dem Grundsatz handeln, nach dem du jetzt deinen Willen bestimmst? Um nur zwei praktische Beispiele herauszugreifen: den Selbstmord und die Lüge. Der Selbstmord hatte manchem Philosophen nicht nur als etwas durchaus Entschuldbares, sondern sogar als etwas sehr Schönes, Erstrebenswertes gegolten. Denken wir nur etwa an den freiwilligen Tod des Petronius manier seiner Freunde im Arme seiner Geliebten! Und doch: Könnte der Selbstmord wirklich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein? Sicherlich können wir nicht wünschen, daß jedermann Hand an sich legte und so dem Menschengeschlecht ein tasch Ende bereitet würde. Und die Lüge, die als Notlüge manchem Moral¬ philosophen als erlaubt galt? Wieder fragen wir uns: Wie wäre es, wenn alle Menschen nach demselben Grundsatz handelten? Wir finden, die Möglichkeit jeder moralischen Gemeinschaft wäre dahin. Betrachten wir so alle Handlungen, die ein allgemeines Gesetz sein können, so sehen wir deutlich zwei Gruppen: solche, die eigene Vollkommenheit, und solche, die fremde Glückseligkeit als Ziel haben. Und so ist auch dieses eine Formulierung des kategorischen Imperativs: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit zu fördern. Kant hat ja das Sittengesetz als solches nicht gegeben, sondern nur als bestehende Gesetzlichkeit erkannt. Es war schon längst ein Eckpfeiler der christlichen Lehre gewesen, Kant hat ihm nur die eigentümliche Form und die feste Stelle im philosophischen System gegeben. Ihm bleibt das Verdienst, das autonome Sittengesetz den heteronomen Lehren der englischen und der rationalistischen Philosophie gegenüber für alle Zeit unwandelbar fest hingestellt zu haben. So sehr er aber in Gegen¬ satz zu diesen zwei Geistesrichtungen trat, ex reichte beiden wieder die Hand, indem er aus jeder etwas herüberrettete und das Verschiedenartige an ihnen zu harmonischer Synthese verband: die Vollkommenheitslehre der Rationalisten mit der Glückseligkeitslehre der englischen Gefühlsphilosophie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/193>, abgerufen am 23.07.2024.