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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Aare -- unser Führer im Streit

phantafievollen Jenenser Naturphilosophen; unter seinem Einfluß rückt die
Naturphilosophie in den Mittelpunkt des Interesses der Gebildeten; alles macht
nun Versuche mit dem magnetischen Pendel und primitiven elektrischen Appa¬
raten. Es ist zunächst nichts als der reine Dilettantismus, der von der Lite¬
ratur und Philosophie hergekommen und sich nun das Feld der Naturwissen¬
schaften als neuen Tummelplatz erkoren hatte; aber schon das nächste Geschlecht
arbeitet sich zur Klarheit durch und geht von der schwärmerischen Naturphilosophie
zur exakten Naturwissenschaft über. Nun folgt jene stolze Reihe von deutschen Natur¬
forschern, die seit der Zeit der "Kritik der reinen Vernunft" bis auf unsere Tage den
Neid der anderen Völker bildet: von Humboldt über Helmholtz zu Häckel. Eine
Verehrung der Wissenschaft entsteht, wie sie in keinem andern Lande ihresgleichen
hat; denn wo hat sie wie bei uns eine Stelle im Gesetz, die ein für allemal
verkündet: "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei"? Und neben die reine
tritt die angewandte Wissenschaft. Der rauchende Schlot und das Gerassel der
Maschinen drängt sich in die friedliche Stille der Städte, Fördertürme und
Zechen schaffen die Schätze des Bodens empor, und >MaZs in (FSi-mar^" wird
zur Reklame. Essen wird die zweite Hauptstadt des Reiches im Kriege, und
deutscher Stahl schneidet am schärfsten. Das haben die Feinde gar oft erfahren
müssen. Ahnen sie, daß der friedliche Bürger von Königsberg im schlichten
Alltagsrock der geistige Vater auch unserer technischen Überlegenheit ist?

Wir haben gesehen, wie Kant zwischen der Erfahrungswelt und jener
anderen geheimnisvollen Welt des Dinges an sich eine starre Schranke auf¬
richtete. Und doch ist sie unüberwindbar nur für uns als denkendes Bewußtsein.
Unsere Seele ist aber nicht nur denkendes, sondern auch fühlendes und handelndes
Wesen. Und was ihr als denkender ewig verschlossen bleibt, das wird ihr als
handelnder gleichsam in einer Vision zuteil. Eine Stimme nämlich gibt es aus
jener anderen Welt, deren mahnender Silberton zu jeder Stunde zu uns
herübertönt. Das ist der kategorische Imperativ, jenes Gebot der Pflicht, das
Kant so faßt: Handle so. daß die Maxime deines Willens jederzeit das Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung fein könnte. Das war etwas ganz Neues. Ge¬
waltiges. Vorher war der Richtpunkt menschlichen Strebens immer etwas
anderes gewesen. Nach dem englischen Denker Shaftesbury beispielsweise war
das Mitgefühl die Grundlage der Moral. Ein mitfühlender Mensch wird nicht
böse handeln können, weil er das Leid, das er andern zufügen würde, selbst
als "Mit-Leid" empfinden würde. Nach der zeitgenössischen Philosophie der fran¬
zösischen Materialisten war Selbstliebe das den menschlichen Willen Bestimmende.
Alles, was das eigene Wohl förderte, alles, was für uns gut war, galt ihnen
als an sich gut. Ihnen kam es nur darauf an, das Leben zu genießen bis
zum letzten Augenblick. Cumberland. ein zeitgenössischer englischer Philosoph,
findet das sittliche Prinzip in dem allgemeinen Besten. Sittlich ist nach ihm
alles, was das Wohl der Gesamtheit fördert; jede Rücksichtnahme auf das
eigene Wohl scheidet aus. Nach dem großen deutschen Denker des achtzehnten


Aare — unser Führer im Streit

phantafievollen Jenenser Naturphilosophen; unter seinem Einfluß rückt die
Naturphilosophie in den Mittelpunkt des Interesses der Gebildeten; alles macht
nun Versuche mit dem magnetischen Pendel und primitiven elektrischen Appa¬
raten. Es ist zunächst nichts als der reine Dilettantismus, der von der Lite¬
ratur und Philosophie hergekommen und sich nun das Feld der Naturwissen¬
schaften als neuen Tummelplatz erkoren hatte; aber schon das nächste Geschlecht
arbeitet sich zur Klarheit durch und geht von der schwärmerischen Naturphilosophie
zur exakten Naturwissenschaft über. Nun folgt jene stolze Reihe von deutschen Natur¬
forschern, die seit der Zeit der „Kritik der reinen Vernunft" bis auf unsere Tage den
Neid der anderen Völker bildet: von Humboldt über Helmholtz zu Häckel. Eine
Verehrung der Wissenschaft entsteht, wie sie in keinem andern Lande ihresgleichen
hat; denn wo hat sie wie bei uns eine Stelle im Gesetz, die ein für allemal
verkündet: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei"? Und neben die reine
tritt die angewandte Wissenschaft. Der rauchende Schlot und das Gerassel der
Maschinen drängt sich in die friedliche Stille der Städte, Fördertürme und
Zechen schaffen die Schätze des Bodens empor, und >MaZs in (FSi-mar^" wird
zur Reklame. Essen wird die zweite Hauptstadt des Reiches im Kriege, und
deutscher Stahl schneidet am schärfsten. Das haben die Feinde gar oft erfahren
müssen. Ahnen sie, daß der friedliche Bürger von Königsberg im schlichten
Alltagsrock der geistige Vater auch unserer technischen Überlegenheit ist?

Wir haben gesehen, wie Kant zwischen der Erfahrungswelt und jener
anderen geheimnisvollen Welt des Dinges an sich eine starre Schranke auf¬
richtete. Und doch ist sie unüberwindbar nur für uns als denkendes Bewußtsein.
Unsere Seele ist aber nicht nur denkendes, sondern auch fühlendes und handelndes
Wesen. Und was ihr als denkender ewig verschlossen bleibt, das wird ihr als
handelnder gleichsam in einer Vision zuteil. Eine Stimme nämlich gibt es aus
jener anderen Welt, deren mahnender Silberton zu jeder Stunde zu uns
herübertönt. Das ist der kategorische Imperativ, jenes Gebot der Pflicht, das
Kant so faßt: Handle so. daß die Maxime deines Willens jederzeit das Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung fein könnte. Das war etwas ganz Neues. Ge¬
waltiges. Vorher war der Richtpunkt menschlichen Strebens immer etwas
anderes gewesen. Nach dem englischen Denker Shaftesbury beispielsweise war
das Mitgefühl die Grundlage der Moral. Ein mitfühlender Mensch wird nicht
böse handeln können, weil er das Leid, das er andern zufügen würde, selbst
als „Mit-Leid" empfinden würde. Nach der zeitgenössischen Philosophie der fran¬
zösischen Materialisten war Selbstliebe das den menschlichen Willen Bestimmende.
Alles, was das eigene Wohl förderte, alles, was für uns gut war, galt ihnen
als an sich gut. Ihnen kam es nur darauf an, das Leben zu genießen bis
zum letzten Augenblick. Cumberland. ein zeitgenössischer englischer Philosoph,
findet das sittliche Prinzip in dem allgemeinen Besten. Sittlich ist nach ihm
alles, was das Wohl der Gesamtheit fördert; jede Rücksichtnahme auf das
eigene Wohl scheidet aus. Nach dem großen deutschen Denker des achtzehnten


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[0192] Aare — unser Führer im Streit phantafievollen Jenenser Naturphilosophen; unter seinem Einfluß rückt die Naturphilosophie in den Mittelpunkt des Interesses der Gebildeten; alles macht nun Versuche mit dem magnetischen Pendel und primitiven elektrischen Appa¬ raten. Es ist zunächst nichts als der reine Dilettantismus, der von der Lite¬ ratur und Philosophie hergekommen und sich nun das Feld der Naturwissen¬ schaften als neuen Tummelplatz erkoren hatte; aber schon das nächste Geschlecht arbeitet sich zur Klarheit durch und geht von der schwärmerischen Naturphilosophie zur exakten Naturwissenschaft über. Nun folgt jene stolze Reihe von deutschen Natur¬ forschern, die seit der Zeit der „Kritik der reinen Vernunft" bis auf unsere Tage den Neid der anderen Völker bildet: von Humboldt über Helmholtz zu Häckel. Eine Verehrung der Wissenschaft entsteht, wie sie in keinem andern Lande ihresgleichen hat; denn wo hat sie wie bei uns eine Stelle im Gesetz, die ein für allemal verkündet: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei"? Und neben die reine tritt die angewandte Wissenschaft. Der rauchende Schlot und das Gerassel der Maschinen drängt sich in die friedliche Stille der Städte, Fördertürme und Zechen schaffen die Schätze des Bodens empor, und >MaZs in (FSi-mar^" wird zur Reklame. Essen wird die zweite Hauptstadt des Reiches im Kriege, und deutscher Stahl schneidet am schärfsten. Das haben die Feinde gar oft erfahren müssen. Ahnen sie, daß der friedliche Bürger von Königsberg im schlichten Alltagsrock der geistige Vater auch unserer technischen Überlegenheit ist? Wir haben gesehen, wie Kant zwischen der Erfahrungswelt und jener anderen geheimnisvollen Welt des Dinges an sich eine starre Schranke auf¬ richtete. Und doch ist sie unüberwindbar nur für uns als denkendes Bewußtsein. Unsere Seele ist aber nicht nur denkendes, sondern auch fühlendes und handelndes Wesen. Und was ihr als denkender ewig verschlossen bleibt, das wird ihr als handelnder gleichsam in einer Vision zuteil. Eine Stimme nämlich gibt es aus jener anderen Welt, deren mahnender Silberton zu jeder Stunde zu uns herübertönt. Das ist der kategorische Imperativ, jenes Gebot der Pflicht, das Kant so faßt: Handle so. daß die Maxime deines Willens jederzeit das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung fein könnte. Das war etwas ganz Neues. Ge¬ waltiges. Vorher war der Richtpunkt menschlichen Strebens immer etwas anderes gewesen. Nach dem englischen Denker Shaftesbury beispielsweise war das Mitgefühl die Grundlage der Moral. Ein mitfühlender Mensch wird nicht böse handeln können, weil er das Leid, das er andern zufügen würde, selbst als „Mit-Leid" empfinden würde. Nach der zeitgenössischen Philosophie der fran¬ zösischen Materialisten war Selbstliebe das den menschlichen Willen Bestimmende. Alles, was das eigene Wohl förderte, alles, was für uns gut war, galt ihnen als an sich gut. Ihnen kam es nur darauf an, das Leben zu genießen bis zum letzten Augenblick. Cumberland. ein zeitgenössischer englischer Philosoph, findet das sittliche Prinzip in dem allgemeinen Besten. Sittlich ist nach ihm alles, was das Wohl der Gesamtheit fördert; jede Rücksichtnahme auf das eigene Wohl scheidet aus. Nach dem großen deutschen Denker des achtzehnten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/192>, abgerufen am 23.07.2024.