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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Poincarö, Frankreich und die Revanche

eigentlich ja nur ein Unterschied der Betonung, da auch von der Linken die
Notwendigkeit der Staatsmacht nicht geleugnet wird.

Das Ende des Kirchenstreits, die steigende Unzufriedenheit mit dem
regierenden Radikalismus und seiner Selbstzufriedenheit und die wachsenden
Marokkokrisen trafen also ausgezeichnet zusammen, um einerseits den latenten
Nationalismus wieder unverhüllt aufflammen zu lassen und andererseits dem
nationalen Machtgedanken und seinen Vertretern mehr und mehr Ansehen zu
verschaffen. Die Hetzpresse spiegelt nur eine innere Entwicklung wieder, die
sie freilich ihrerseits wieder beschleunigt, verstärkt und vergröbert hat. Sie hätte
jedoch nie die Bedeutung und Wirkung erlangen können, die sie tatsächlich hatte
und noch hat, wäre nicht vorher die Hauptmacht der Intelligenz, vor allem
die gesamte Jungintelligenz in das Lager des Nationalismus und zu den
Vertretern des Machtgedankens übergegangen. Grade die sogenannte Intelligenz,
am Anfang des Jahrhunderts parteipolitisch noch radikal und außenpolitisch
pessimistisch, ist seit den Marokkokrisen rationalistisch und agressiv, ist dem
nationalen Ideal neu gewonnen, hat es mehr und mehr wieder als politischen
Haupt- und Grundgedanken, als das Ideal ansehen gelernt. Mit ihr aber,
als ganz anders wie in Deutschland willig anerkannten Führerin des politischen
Lebens, werden auch die breiteren Schichten des Bürgertums auf nationalem
Gebiet mehr und mehr vom Instinkt zum bewußten politischen Gedanken geführt
und erzogen, immer mehr im eigentlichen Sinne rationalistisch orientiert.

Die radikale Partei, wenn sie auch stark abbröckelte, behielt zunächst noch
aus Gewohnheit die Masse der Wähler, an Intelligenz aber verarmte sie. Das
wurde von Jahr zu Jahr offenkundiger. Ihre Mittelmäßigkeit und geistige
Unbedeutendheit wurden offenes Ziel für den Hohn und den Witz nicht nur
einzelner Intellektuellen, sondern fast der gesamten Presse. Sie war eben die
Partei der kleinen Bourgeoisie. Im Lager des rechten Flügels der Linken
hingegen war bald Überfluß an bedeutenden und starken Persönlichkeiten.
Überaus empfänglich, wie der Franzose trotz allem, was man sagen mag, gerade
hierfür ist. konnten sich die Radikalen besonders mit ihrer anarchistischen Partei¬
organisation gegen deren Einfluß nicht wehren. Mochten sie auch theoretisch
noch immer ihren alten Ideen und ihrem Programm aus der Zeit des Kirchen¬
streits anhängen, sie sahen die Stimmung der Wählermassen sich ändern, sahen
den Einfluß der nach rechts gerichteten Elemente und konnten sich praktisch dem
nicht entziehen.

Starke Gruppen der Radikalen wie Pichon, DelcaM und bedingter auch
Clömenceau hatten schon früher auf durchaus nationalistischen Boden gestanden
oder sie wurden jetzt bewußt und völlig zu Nationalisten. Briand, Millerand usw.
sind bekannte Beispiele für die scharfe und dem Deutschen oft fast unverständliche
Wandlung der französischen Intelligenz nach dieser Richtung hin. Die Partei¬
unterschiede zwischen all diesen verschiedenen Elementen waren nur noch gering.
Sie schlossen sich immer enger zusammen, fanden sich immer öfter in gemein-


Poincarö, Frankreich und die Revanche

eigentlich ja nur ein Unterschied der Betonung, da auch von der Linken die
Notwendigkeit der Staatsmacht nicht geleugnet wird.

Das Ende des Kirchenstreits, die steigende Unzufriedenheit mit dem
regierenden Radikalismus und seiner Selbstzufriedenheit und die wachsenden
Marokkokrisen trafen also ausgezeichnet zusammen, um einerseits den latenten
Nationalismus wieder unverhüllt aufflammen zu lassen und andererseits dem
nationalen Machtgedanken und seinen Vertretern mehr und mehr Ansehen zu
verschaffen. Die Hetzpresse spiegelt nur eine innere Entwicklung wieder, die
sie freilich ihrerseits wieder beschleunigt, verstärkt und vergröbert hat. Sie hätte
jedoch nie die Bedeutung und Wirkung erlangen können, die sie tatsächlich hatte
und noch hat, wäre nicht vorher die Hauptmacht der Intelligenz, vor allem
die gesamte Jungintelligenz in das Lager des Nationalismus und zu den
Vertretern des Machtgedankens übergegangen. Grade die sogenannte Intelligenz,
am Anfang des Jahrhunderts parteipolitisch noch radikal und außenpolitisch
pessimistisch, ist seit den Marokkokrisen rationalistisch und agressiv, ist dem
nationalen Ideal neu gewonnen, hat es mehr und mehr wieder als politischen
Haupt- und Grundgedanken, als das Ideal ansehen gelernt. Mit ihr aber,
als ganz anders wie in Deutschland willig anerkannten Führerin des politischen
Lebens, werden auch die breiteren Schichten des Bürgertums auf nationalem
Gebiet mehr und mehr vom Instinkt zum bewußten politischen Gedanken geführt
und erzogen, immer mehr im eigentlichen Sinne rationalistisch orientiert.

Die radikale Partei, wenn sie auch stark abbröckelte, behielt zunächst noch
aus Gewohnheit die Masse der Wähler, an Intelligenz aber verarmte sie. Das
wurde von Jahr zu Jahr offenkundiger. Ihre Mittelmäßigkeit und geistige
Unbedeutendheit wurden offenes Ziel für den Hohn und den Witz nicht nur
einzelner Intellektuellen, sondern fast der gesamten Presse. Sie war eben die
Partei der kleinen Bourgeoisie. Im Lager des rechten Flügels der Linken
hingegen war bald Überfluß an bedeutenden und starken Persönlichkeiten.
Überaus empfänglich, wie der Franzose trotz allem, was man sagen mag, gerade
hierfür ist. konnten sich die Radikalen besonders mit ihrer anarchistischen Partei¬
organisation gegen deren Einfluß nicht wehren. Mochten sie auch theoretisch
noch immer ihren alten Ideen und ihrem Programm aus der Zeit des Kirchen¬
streits anhängen, sie sahen die Stimmung der Wählermassen sich ändern, sahen
den Einfluß der nach rechts gerichteten Elemente und konnten sich praktisch dem
nicht entziehen.

Starke Gruppen der Radikalen wie Pichon, DelcaM und bedingter auch
Clömenceau hatten schon früher auf durchaus nationalistischen Boden gestanden
oder sie wurden jetzt bewußt und völlig zu Nationalisten. Briand, Millerand usw.
sind bekannte Beispiele für die scharfe und dem Deutschen oft fast unverständliche
Wandlung der französischen Intelligenz nach dieser Richtung hin. Die Partei¬
unterschiede zwischen all diesen verschiedenen Elementen waren nur noch gering.
Sie schlossen sich immer enger zusammen, fanden sich immer öfter in gemein-


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[0082] Poincarö, Frankreich und die Revanche eigentlich ja nur ein Unterschied der Betonung, da auch von der Linken die Notwendigkeit der Staatsmacht nicht geleugnet wird. Das Ende des Kirchenstreits, die steigende Unzufriedenheit mit dem regierenden Radikalismus und seiner Selbstzufriedenheit und die wachsenden Marokkokrisen trafen also ausgezeichnet zusammen, um einerseits den latenten Nationalismus wieder unverhüllt aufflammen zu lassen und andererseits dem nationalen Machtgedanken und seinen Vertretern mehr und mehr Ansehen zu verschaffen. Die Hetzpresse spiegelt nur eine innere Entwicklung wieder, die sie freilich ihrerseits wieder beschleunigt, verstärkt und vergröbert hat. Sie hätte jedoch nie die Bedeutung und Wirkung erlangen können, die sie tatsächlich hatte und noch hat, wäre nicht vorher die Hauptmacht der Intelligenz, vor allem die gesamte Jungintelligenz in das Lager des Nationalismus und zu den Vertretern des Machtgedankens übergegangen. Grade die sogenannte Intelligenz, am Anfang des Jahrhunderts parteipolitisch noch radikal und außenpolitisch pessimistisch, ist seit den Marokkokrisen rationalistisch und agressiv, ist dem nationalen Ideal neu gewonnen, hat es mehr und mehr wieder als politischen Haupt- und Grundgedanken, als das Ideal ansehen gelernt. Mit ihr aber, als ganz anders wie in Deutschland willig anerkannten Führerin des politischen Lebens, werden auch die breiteren Schichten des Bürgertums auf nationalem Gebiet mehr und mehr vom Instinkt zum bewußten politischen Gedanken geführt und erzogen, immer mehr im eigentlichen Sinne rationalistisch orientiert. Die radikale Partei, wenn sie auch stark abbröckelte, behielt zunächst noch aus Gewohnheit die Masse der Wähler, an Intelligenz aber verarmte sie. Das wurde von Jahr zu Jahr offenkundiger. Ihre Mittelmäßigkeit und geistige Unbedeutendheit wurden offenes Ziel für den Hohn und den Witz nicht nur einzelner Intellektuellen, sondern fast der gesamten Presse. Sie war eben die Partei der kleinen Bourgeoisie. Im Lager des rechten Flügels der Linken hingegen war bald Überfluß an bedeutenden und starken Persönlichkeiten. Überaus empfänglich, wie der Franzose trotz allem, was man sagen mag, gerade hierfür ist. konnten sich die Radikalen besonders mit ihrer anarchistischen Partei¬ organisation gegen deren Einfluß nicht wehren. Mochten sie auch theoretisch noch immer ihren alten Ideen und ihrem Programm aus der Zeit des Kirchen¬ streits anhängen, sie sahen die Stimmung der Wählermassen sich ändern, sahen den Einfluß der nach rechts gerichteten Elemente und konnten sich praktisch dem nicht entziehen. Starke Gruppen der Radikalen wie Pichon, DelcaM und bedingter auch Clömenceau hatten schon früher auf durchaus nationalistischen Boden gestanden oder sie wurden jetzt bewußt und völlig zu Nationalisten. Briand, Millerand usw. sind bekannte Beispiele für die scharfe und dem Deutschen oft fast unverständliche Wandlung der französischen Intelligenz nach dieser Richtung hin. Die Partei¬ unterschiede zwischen all diesen verschiedenen Elementen waren nur noch gering. Sie schlossen sich immer enger zusammen, fanden sich immer öfter in gemein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/82>, abgerufen am 29.06.2024.