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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Angewandte Psychologie

dies, zu zeigen, daß die zusammenhängenden Erzählungen eines Menschen über
ein Erlebnis meist sehr lückenhaft, und daß die Antworten auf Verhörsfragen
meist sehr fehlerhaft sind, sondern vielmehr in erster Reihe dies, wie man eine
Zeugenvernehmung zu gestalten hat, wie z. B. die Fragen zu formulieren sind,
um möglichst vollständige und richtige Aussagen zu erzielen (vgl. z. B. Livmann,
die Technik der Vernehmung vom psychologischen Standpunkte, "Monatsschrift
für Kriminalpsychologie 1909; Livmann, "Die Wirkung von Suggestivfragen"
1908). Ein anderes Problem der forensischen Psychologie, die Psychologie
des Angeklagten, die sogenannte Tatbestandsdiagnostik oder Spurensymptomatho-
logie wurde zuerst von Wertheimer und Klein im Jahre 1904 in Angriff ge¬
nommen. Die Fragestellung lautet hier: ist die Auffassung, die Aufmerksamkeits-
richtung, das Gedächtnis eines Menschen, der mit großer innerer Anteilnahme
ein bestimmtes Erlebnis gehabt hat, so verändert, daß sich aus seinen in ver¬
schiedenen Experimenten zu beobachtenden Reaktionen auch gegen seinen Willen
seine Teilnahme an diesem Erlebnis ergibt? (Vgl. Livmann, "Die Spuren
interessebetonter Erlebnisse und ihr Symptom" 1911). Das Interesse an der
Kriminalpsychologie, der Psychologie des Verbrechers und des Verbrechens, eine
psychognostische Frage, wurde in Deutschland im Anschluß an die Vorarbeiten
Lombrosos, insbesondere durch Sommer 1904 und Aschaffenburg 1905 angeregt.
(Vgl. z. B. Wulffen, "Psychologie des Verbrechers".)

Die forensische Psychologie blieb übrigens nicht das einzige Anwendungs¬
gebiet der Aussageforschung. Um nur noch ein weiteres zu nennen, so zieht
natürlich auch die Geschichtswissenschaft ihre Konsequenzen aus den Feststellungen
über die Fehlerquellen von Berichten. (Vgl. z. B. Bernheim, "Das Verhältnis
der historischen Methodik zur Zeugenaussage." Beiträge zur Psychologie der
Aussage 1903.)

Die Religionspsychologie fand ihr erstes Zentralorgan in der "Zeitschrift
für Religionspsychologie", die im Jahre 1907 durch Brester und Vorbrodt be¬
gründet wurde. Von den Problemen der Religionspsychologie sei hier nur das
des Ursprungs der Religion angeführt, mit dem sich z. B. Wobbermin in einem
Aufsatze in der "Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1915 beschäftigt.

Wirtschaftspsychologische Forschungen wurden zum ersten Male im Jahre
1908 durch Weber angeregt; doch wurden weitere Kreise erst durch Münster¬
bergs Buch über Psychologie und Wirtschaftsleben, das im Jahre 1912 er¬
schien, und durch Piorkowskis Beiträge zur psychologischen Methodologie der
wirtschaftlichen Berufseignung (1915) für diese Fragen interessiert. Neuerdings
sind hier besonders die Unternehmungen der Berliner "Zentralstelle für Volks¬
wohlfahrt" zu nennen, die auch ein berusspsychologisches Laboratorium ins
Leben gerufen hat. (Vgl. Livmann, "Psychische Berufseignung und psycho¬
logische Berufsberatung", "Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1916). Wie
es möglich ist, als wesentliche Eigenschaft des Fliegers das schnelle Reagieren
auf kleine Gleichgewichtsstörungen, als eine wesentliche Eigenschaft des Kraft-


Angewandte Psychologie

dies, zu zeigen, daß die zusammenhängenden Erzählungen eines Menschen über
ein Erlebnis meist sehr lückenhaft, und daß die Antworten auf Verhörsfragen
meist sehr fehlerhaft sind, sondern vielmehr in erster Reihe dies, wie man eine
Zeugenvernehmung zu gestalten hat, wie z. B. die Fragen zu formulieren sind,
um möglichst vollständige und richtige Aussagen zu erzielen (vgl. z. B. Livmann,
die Technik der Vernehmung vom psychologischen Standpunkte, „Monatsschrift
für Kriminalpsychologie 1909; Livmann, „Die Wirkung von Suggestivfragen"
1908). Ein anderes Problem der forensischen Psychologie, die Psychologie
des Angeklagten, die sogenannte Tatbestandsdiagnostik oder Spurensymptomatho-
logie wurde zuerst von Wertheimer und Klein im Jahre 1904 in Angriff ge¬
nommen. Die Fragestellung lautet hier: ist die Auffassung, die Aufmerksamkeits-
richtung, das Gedächtnis eines Menschen, der mit großer innerer Anteilnahme
ein bestimmtes Erlebnis gehabt hat, so verändert, daß sich aus seinen in ver¬
schiedenen Experimenten zu beobachtenden Reaktionen auch gegen seinen Willen
seine Teilnahme an diesem Erlebnis ergibt? (Vgl. Livmann, „Die Spuren
interessebetonter Erlebnisse und ihr Symptom" 1911). Das Interesse an der
Kriminalpsychologie, der Psychologie des Verbrechers und des Verbrechens, eine
psychognostische Frage, wurde in Deutschland im Anschluß an die Vorarbeiten
Lombrosos, insbesondere durch Sommer 1904 und Aschaffenburg 1905 angeregt.
(Vgl. z. B. Wulffen, „Psychologie des Verbrechers".)

Die forensische Psychologie blieb übrigens nicht das einzige Anwendungs¬
gebiet der Aussageforschung. Um nur noch ein weiteres zu nennen, so zieht
natürlich auch die Geschichtswissenschaft ihre Konsequenzen aus den Feststellungen
über die Fehlerquellen von Berichten. (Vgl. z. B. Bernheim, „Das Verhältnis
der historischen Methodik zur Zeugenaussage." Beiträge zur Psychologie der
Aussage 1903.)

Die Religionspsychologie fand ihr erstes Zentralorgan in der „Zeitschrift
für Religionspsychologie", die im Jahre 1907 durch Brester und Vorbrodt be¬
gründet wurde. Von den Problemen der Religionspsychologie sei hier nur das
des Ursprungs der Religion angeführt, mit dem sich z. B. Wobbermin in einem
Aufsatze in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1915 beschäftigt.

Wirtschaftspsychologische Forschungen wurden zum ersten Male im Jahre
1908 durch Weber angeregt; doch wurden weitere Kreise erst durch Münster¬
bergs Buch über Psychologie und Wirtschaftsleben, das im Jahre 1912 er¬
schien, und durch Piorkowskis Beiträge zur psychologischen Methodologie der
wirtschaftlichen Berufseignung (1915) für diese Fragen interessiert. Neuerdings
sind hier besonders die Unternehmungen der Berliner „Zentralstelle für Volks¬
wohlfahrt" zu nennen, die auch ein berusspsychologisches Laboratorium ins
Leben gerufen hat. (Vgl. Livmann, „Psychische Berufseignung und psycho¬
logische Berufsberatung", „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1916). Wie
es möglich ist, als wesentliche Eigenschaft des Fliegers das schnelle Reagieren
auf kleine Gleichgewichtsstörungen, als eine wesentliche Eigenschaft des Kraft-


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[0296] Angewandte Psychologie dies, zu zeigen, daß die zusammenhängenden Erzählungen eines Menschen über ein Erlebnis meist sehr lückenhaft, und daß die Antworten auf Verhörsfragen meist sehr fehlerhaft sind, sondern vielmehr in erster Reihe dies, wie man eine Zeugenvernehmung zu gestalten hat, wie z. B. die Fragen zu formulieren sind, um möglichst vollständige und richtige Aussagen zu erzielen (vgl. z. B. Livmann, die Technik der Vernehmung vom psychologischen Standpunkte, „Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1909; Livmann, „Die Wirkung von Suggestivfragen" 1908). Ein anderes Problem der forensischen Psychologie, die Psychologie des Angeklagten, die sogenannte Tatbestandsdiagnostik oder Spurensymptomatho- logie wurde zuerst von Wertheimer und Klein im Jahre 1904 in Angriff ge¬ nommen. Die Fragestellung lautet hier: ist die Auffassung, die Aufmerksamkeits- richtung, das Gedächtnis eines Menschen, der mit großer innerer Anteilnahme ein bestimmtes Erlebnis gehabt hat, so verändert, daß sich aus seinen in ver¬ schiedenen Experimenten zu beobachtenden Reaktionen auch gegen seinen Willen seine Teilnahme an diesem Erlebnis ergibt? (Vgl. Livmann, „Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihr Symptom" 1911). Das Interesse an der Kriminalpsychologie, der Psychologie des Verbrechers und des Verbrechens, eine psychognostische Frage, wurde in Deutschland im Anschluß an die Vorarbeiten Lombrosos, insbesondere durch Sommer 1904 und Aschaffenburg 1905 angeregt. (Vgl. z. B. Wulffen, „Psychologie des Verbrechers".) Die forensische Psychologie blieb übrigens nicht das einzige Anwendungs¬ gebiet der Aussageforschung. Um nur noch ein weiteres zu nennen, so zieht natürlich auch die Geschichtswissenschaft ihre Konsequenzen aus den Feststellungen über die Fehlerquellen von Berichten. (Vgl. z. B. Bernheim, „Das Verhältnis der historischen Methodik zur Zeugenaussage." Beiträge zur Psychologie der Aussage 1903.) Die Religionspsychologie fand ihr erstes Zentralorgan in der „Zeitschrift für Religionspsychologie", die im Jahre 1907 durch Brester und Vorbrodt be¬ gründet wurde. Von den Problemen der Religionspsychologie sei hier nur das des Ursprungs der Religion angeführt, mit dem sich z. B. Wobbermin in einem Aufsatze in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1915 beschäftigt. Wirtschaftspsychologische Forschungen wurden zum ersten Male im Jahre 1908 durch Weber angeregt; doch wurden weitere Kreise erst durch Münster¬ bergs Buch über Psychologie und Wirtschaftsleben, das im Jahre 1912 er¬ schien, und durch Piorkowskis Beiträge zur psychologischen Methodologie der wirtschaftlichen Berufseignung (1915) für diese Fragen interessiert. Neuerdings sind hier besonders die Unternehmungen der Berliner „Zentralstelle für Volks¬ wohlfahrt" zu nennen, die auch ein berusspsychologisches Laboratorium ins Leben gerufen hat. (Vgl. Livmann, „Psychische Berufseignung und psycho¬ logische Berufsberatung", „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1916). Wie es möglich ist, als wesentliche Eigenschaft des Fliegers das schnelle Reagieren auf kleine Gleichgewichtsstörungen, als eine wesentliche Eigenschaft des Kraft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/296>, abgerufen am 28.09.2024.