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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Angewandte Psychologie

Prosarythmus Goethes und Heines; die Psychotechnik dagegen untersucht die
Frage der zweckmäßigsten Lernweise, der geeignetsten Form der Reklame, der
besten Form des Zeugenverhörs, usw.

Was die Teilung nach Anwendungsgebieten betrifft, so sei wiederum ein
kurzer historischer Abriß zugrunde gelegt.

Daß die Astronomie das erste Wissensschaftsgebiet war, in dem psycho¬
logische Tatsachen sich geltend machten und das zuerst eine exakte Formulierung
dieser Gesetzmäßigkeiten verlangte, haben wir bereits erwähnt.

Für die Psychopathologie läßt sich ein bestimmter Zeitpunkt ihres Auf¬
tretens schwer fixieren, da in psychiatrischen Kliniken ja schon lange Zeit hier
und da psychologische Methoden verwendet und psychologische Ergebnisse zur
Erklärung pathologischer Befunde herangezogen wurden. Als eines der ersten
äußeren Anzeichen des ausdrücklich auf moderne psychologische Methoden ge¬
richteten Interesses der Psychiater ist vielleicht dies zu nennen, daß Kraeplin im
Jahre 1896 die Zeitschrift "Psychologische Arbeiten" ins Leben rief.

Für die pädagogische Psychologie reichen die Vorläufer wohl mindestens
ebensoweit zurück wie für die Psychopathologie. Wenn wir von der ver¬
einzelten, bereits erwähnten Untersuchung von Schwabe und Bartholomäi ab¬
sehen, so wird der Zeitpunkt des Eintretens eines intensivierten Interesses an
Problemen und Methoden der modernen Psychologie hier vielleicht durch die Be¬
gründung der "Zeitschrift für pädagogische Psychologie" im Jahre 1899 gekenn¬
zeichnet.

Etwa seit dem Jahre 1900 begann man in Berlin auf Anregung Stumpfs,
systematisch Musikstücke nichteuropäischer Völker phonographisch aufzunehmen.
Das Phonogrammarchiv der Berliner Universität und seine Veröffentlichungen
dienen zugleich der Musikwissenschaft wie der Ethnopsychologie. Eine weitere
Etappe auf dem letzteren Forschungsgebiete bedeuten dann die "Vorschlüge zur
psychologischen Untersuchung primitiver Menschen", die das Institut für an¬
gewandte Psychologie im Jahre 1912 veröffentlichte: hier werden Methoden
und Fragestellungen gegeben zur psychologischen Charakteristik z. B. des Raum¬
sinnes (von Tschermak), des Farbensinnes (Guttmann), des Gedächtnisses
(Lipmann), der Zeitschätzung (Stern), des Zeichnens und der Kunst der Pri¬
mitiven (Vierkandt).

Im Jahre 1901 wandten Thumb und Marbe zum ersten Male ex-
perimentelle Methoden auf Fragen der Sprachwissenschaft an. Es zeigte sich
hier, daß die Gesetze der sprachlichen Analogiebildung ganz oder jedenfalls in
hohem Grade identisch find mit den Gesetzen der assoziativem Verknüpfung
zweier Vorstellungen.

Es folgte die forensische Psychologie, deren eines Problem, die Psycho¬
logie der Zeugenaussage, schon früher durch Alfred Binet in Paris und Groß
in Prag angeschnitten, in Deutschland durch Stern im Jahre 1902 eingeführt
wurde. Das Problem ist hier nicht, wie man zunächst vielfach meinte, nur


Angewandte Psychologie

Prosarythmus Goethes und Heines; die Psychotechnik dagegen untersucht die
Frage der zweckmäßigsten Lernweise, der geeignetsten Form der Reklame, der
besten Form des Zeugenverhörs, usw.

Was die Teilung nach Anwendungsgebieten betrifft, so sei wiederum ein
kurzer historischer Abriß zugrunde gelegt.

Daß die Astronomie das erste Wissensschaftsgebiet war, in dem psycho¬
logische Tatsachen sich geltend machten und das zuerst eine exakte Formulierung
dieser Gesetzmäßigkeiten verlangte, haben wir bereits erwähnt.

Für die Psychopathologie läßt sich ein bestimmter Zeitpunkt ihres Auf¬
tretens schwer fixieren, da in psychiatrischen Kliniken ja schon lange Zeit hier
und da psychologische Methoden verwendet und psychologische Ergebnisse zur
Erklärung pathologischer Befunde herangezogen wurden. Als eines der ersten
äußeren Anzeichen des ausdrücklich auf moderne psychologische Methoden ge¬
richteten Interesses der Psychiater ist vielleicht dies zu nennen, daß Kraeplin im
Jahre 1896 die Zeitschrift „Psychologische Arbeiten" ins Leben rief.

Für die pädagogische Psychologie reichen die Vorläufer wohl mindestens
ebensoweit zurück wie für die Psychopathologie. Wenn wir von der ver¬
einzelten, bereits erwähnten Untersuchung von Schwabe und Bartholomäi ab¬
sehen, so wird der Zeitpunkt des Eintretens eines intensivierten Interesses an
Problemen und Methoden der modernen Psychologie hier vielleicht durch die Be¬
gründung der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie" im Jahre 1899 gekenn¬
zeichnet.

Etwa seit dem Jahre 1900 begann man in Berlin auf Anregung Stumpfs,
systematisch Musikstücke nichteuropäischer Völker phonographisch aufzunehmen.
Das Phonogrammarchiv der Berliner Universität und seine Veröffentlichungen
dienen zugleich der Musikwissenschaft wie der Ethnopsychologie. Eine weitere
Etappe auf dem letzteren Forschungsgebiete bedeuten dann die „Vorschlüge zur
psychologischen Untersuchung primitiver Menschen", die das Institut für an¬
gewandte Psychologie im Jahre 1912 veröffentlichte: hier werden Methoden
und Fragestellungen gegeben zur psychologischen Charakteristik z. B. des Raum¬
sinnes (von Tschermak), des Farbensinnes (Guttmann), des Gedächtnisses
(Lipmann), der Zeitschätzung (Stern), des Zeichnens und der Kunst der Pri¬
mitiven (Vierkandt).

Im Jahre 1901 wandten Thumb und Marbe zum ersten Male ex-
perimentelle Methoden auf Fragen der Sprachwissenschaft an. Es zeigte sich
hier, daß die Gesetze der sprachlichen Analogiebildung ganz oder jedenfalls in
hohem Grade identisch find mit den Gesetzen der assoziativem Verknüpfung
zweier Vorstellungen.

Es folgte die forensische Psychologie, deren eines Problem, die Psycho¬
logie der Zeugenaussage, schon früher durch Alfred Binet in Paris und Groß
in Prag angeschnitten, in Deutschland durch Stern im Jahre 1902 eingeführt
wurde. Das Problem ist hier nicht, wie man zunächst vielfach meinte, nur


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[0295] Angewandte Psychologie Prosarythmus Goethes und Heines; die Psychotechnik dagegen untersucht die Frage der zweckmäßigsten Lernweise, der geeignetsten Form der Reklame, der besten Form des Zeugenverhörs, usw. Was die Teilung nach Anwendungsgebieten betrifft, so sei wiederum ein kurzer historischer Abriß zugrunde gelegt. Daß die Astronomie das erste Wissensschaftsgebiet war, in dem psycho¬ logische Tatsachen sich geltend machten und das zuerst eine exakte Formulierung dieser Gesetzmäßigkeiten verlangte, haben wir bereits erwähnt. Für die Psychopathologie läßt sich ein bestimmter Zeitpunkt ihres Auf¬ tretens schwer fixieren, da in psychiatrischen Kliniken ja schon lange Zeit hier und da psychologische Methoden verwendet und psychologische Ergebnisse zur Erklärung pathologischer Befunde herangezogen wurden. Als eines der ersten äußeren Anzeichen des ausdrücklich auf moderne psychologische Methoden ge¬ richteten Interesses der Psychiater ist vielleicht dies zu nennen, daß Kraeplin im Jahre 1896 die Zeitschrift „Psychologische Arbeiten" ins Leben rief. Für die pädagogische Psychologie reichen die Vorläufer wohl mindestens ebensoweit zurück wie für die Psychopathologie. Wenn wir von der ver¬ einzelten, bereits erwähnten Untersuchung von Schwabe und Bartholomäi ab¬ sehen, so wird der Zeitpunkt des Eintretens eines intensivierten Interesses an Problemen und Methoden der modernen Psychologie hier vielleicht durch die Be¬ gründung der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie" im Jahre 1899 gekenn¬ zeichnet. Etwa seit dem Jahre 1900 begann man in Berlin auf Anregung Stumpfs, systematisch Musikstücke nichteuropäischer Völker phonographisch aufzunehmen. Das Phonogrammarchiv der Berliner Universität und seine Veröffentlichungen dienen zugleich der Musikwissenschaft wie der Ethnopsychologie. Eine weitere Etappe auf dem letzteren Forschungsgebiete bedeuten dann die „Vorschlüge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen", die das Institut für an¬ gewandte Psychologie im Jahre 1912 veröffentlichte: hier werden Methoden und Fragestellungen gegeben zur psychologischen Charakteristik z. B. des Raum¬ sinnes (von Tschermak), des Farbensinnes (Guttmann), des Gedächtnisses (Lipmann), der Zeitschätzung (Stern), des Zeichnens und der Kunst der Pri¬ mitiven (Vierkandt). Im Jahre 1901 wandten Thumb und Marbe zum ersten Male ex- perimentelle Methoden auf Fragen der Sprachwissenschaft an. Es zeigte sich hier, daß die Gesetze der sprachlichen Analogiebildung ganz oder jedenfalls in hohem Grade identisch find mit den Gesetzen der assoziativem Verknüpfung zweier Vorstellungen. Es folgte die forensische Psychologie, deren eines Problem, die Psycho¬ logie der Zeugenaussage, schon früher durch Alfred Binet in Paris und Groß in Prag angeschnitten, in Deutschland durch Stern im Jahre 1902 eingeführt wurde. Das Problem ist hier nicht, wie man zunächst vielfach meinte, nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/295>, abgerufen am 26.06.2024.