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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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vom französischen Sozialismus

sie von der starren deutschen Genossin so merklich unterschied. Daher stammt
großenteils auch die Überschätzung ihres Einflusses und ihrer Macht. Literatur
und Presse, Rednerpult und Salon waren ihr offen, und "ttumanite" und
"Ouerrs sociale" wurden auch von den Gebildeten verschlungen.

Jaurös hat überdies die Partei erst zu einer parlamentarischen, wenn
auch nicht geistigen Einheit zusammengeschweißt. Der überragende Schwung
seiner Persönlichkeit und die führende Kraft seines Geistes vermochten alle Be¬
denken und Einwände mindestens im entscheidenden Moment zu lähmen und
abzuschwächen, die Compere-Morel und Sembat, die Guesde und Vcüllant in
gleicher Weise an seinen Wagen zu spannen und -- beim französischen Indi¬
vidualismus ein Wunder -- geschlossene Abstimmungen der Fraktion zu er¬
zielen. Er war oft die Partei, wie ja auch die ttumamtö das sozialistische
Zentralorgan, er war. Über alle Gegensätze der schärferen Guesdisten und der
opportunistischeren Jaurösisten hinaus wußte er die parlamentarische Ge¬
schlossenheit der Partei aufrecht zu erhalten und gab damit dem französischen
Parlament, wenigstens seinem republikanischen Teil, die einzige einigermaßen
organisierte und geschlossene wirkliche Partei. Auf dem Boden eines so zerklüfteten
Volkshauses, wie des französischen, mußte im Rahmen eines so ausgeprägten
Parlamentarismus, in friedlichen Zeiten, Zeiten der parlamentarischen Taktik
und Intrige, politischer Manipulationen und Zufallsabstimmungen, eine
solche Partei, mußte ein so packender Redner und so überlegener Taktiker
wie Jaurös großen Einfluß haben, mußten die Sozialisten oft das Zünglein
an der Wage bilden und eine Bedeutung erlangen, die über die Zahl ihrer
Wähler weit hinausging. Jaurös ist auch der Vater der langjährigen Taktik
seiner Partei, der Schöpfer der nächstwichtigen Grundlage dieses Einflusses.
Auf ihn geht das Zusammenwirken mit der republikanischen Linken und damit
die Anerkennung der demokratischen Republik zurück. Was das bedeutete, zeigte
sich erst, als diese Taktik verlassen wurde, als man sich im Streite über Post¬
beamtenausstand und Eisenbahnersabotage trennte, als die Unifizierten ihre
eigenen Wege gingen und damit nie facto die Rechte parlamentarisch
stützten. Da konnte der Nationalismus täglich mehr an Boden gewinnen, da
konnte das Dreijahrsgesetz durchgehen, der Nationalist Poincarö gegen den
Radikalen Pans gewählt werden und die Bekämpfung der Syndikate der C.G.T..
des Sozialismus in Beamtentum und selbst Intelligenz mehr und mehr be¬
trieben werden, da zeigte sich, daß die Partei, auf sich selbst gestellt, zu einer
ausschlaggebenden parlamentarischen Aktion an Zahl lange nicht stark genug war.

Vermochte Jaurös die Partei parlamentarisch zu einigen, so gelang ihm
das zwar auch geistig bis zu gewissem Grade, aber doch nicht vollständig.
Daß er sich und die Partei bewußt auf den Boden des Parlamentarismus
stellte, deutet an, daß er dem deutschen Standpunkt von der Möglichkeit einer
friedlichen Entwicklung zum Zukunftsstaat hin durchaus nicht so fern stand. Der
logische Widerspruch zwischen einer positiven parlamentarischen Betätigung und


vom französischen Sozialismus

sie von der starren deutschen Genossin so merklich unterschied. Daher stammt
großenteils auch die Überschätzung ihres Einflusses und ihrer Macht. Literatur
und Presse, Rednerpult und Salon waren ihr offen, und „ttumanite" und
„Ouerrs sociale" wurden auch von den Gebildeten verschlungen.

Jaurös hat überdies die Partei erst zu einer parlamentarischen, wenn
auch nicht geistigen Einheit zusammengeschweißt. Der überragende Schwung
seiner Persönlichkeit und die führende Kraft seines Geistes vermochten alle Be¬
denken und Einwände mindestens im entscheidenden Moment zu lähmen und
abzuschwächen, die Compere-Morel und Sembat, die Guesde und Vcüllant in
gleicher Weise an seinen Wagen zu spannen und — beim französischen Indi¬
vidualismus ein Wunder — geschlossene Abstimmungen der Fraktion zu er¬
zielen. Er war oft die Partei, wie ja auch die ttumamtö das sozialistische
Zentralorgan, er war. Über alle Gegensätze der schärferen Guesdisten und der
opportunistischeren Jaurösisten hinaus wußte er die parlamentarische Ge¬
schlossenheit der Partei aufrecht zu erhalten und gab damit dem französischen
Parlament, wenigstens seinem republikanischen Teil, die einzige einigermaßen
organisierte und geschlossene wirkliche Partei. Auf dem Boden eines so zerklüfteten
Volkshauses, wie des französischen, mußte im Rahmen eines so ausgeprägten
Parlamentarismus, in friedlichen Zeiten, Zeiten der parlamentarischen Taktik
und Intrige, politischer Manipulationen und Zufallsabstimmungen, eine
solche Partei, mußte ein so packender Redner und so überlegener Taktiker
wie Jaurös großen Einfluß haben, mußten die Sozialisten oft das Zünglein
an der Wage bilden und eine Bedeutung erlangen, die über die Zahl ihrer
Wähler weit hinausging. Jaurös ist auch der Vater der langjährigen Taktik
seiner Partei, der Schöpfer der nächstwichtigen Grundlage dieses Einflusses.
Auf ihn geht das Zusammenwirken mit der republikanischen Linken und damit
die Anerkennung der demokratischen Republik zurück. Was das bedeutete, zeigte
sich erst, als diese Taktik verlassen wurde, als man sich im Streite über Post¬
beamtenausstand und Eisenbahnersabotage trennte, als die Unifizierten ihre
eigenen Wege gingen und damit nie facto die Rechte parlamentarisch
stützten. Da konnte der Nationalismus täglich mehr an Boden gewinnen, da
konnte das Dreijahrsgesetz durchgehen, der Nationalist Poincarö gegen den
Radikalen Pans gewählt werden und die Bekämpfung der Syndikate der C.G.T..
des Sozialismus in Beamtentum und selbst Intelligenz mehr und mehr be¬
trieben werden, da zeigte sich, daß die Partei, auf sich selbst gestellt, zu einer
ausschlaggebenden parlamentarischen Aktion an Zahl lange nicht stark genug war.

Vermochte Jaurös die Partei parlamentarisch zu einigen, so gelang ihm
das zwar auch geistig bis zu gewissem Grade, aber doch nicht vollständig.
Daß er sich und die Partei bewußt auf den Boden des Parlamentarismus
stellte, deutet an, daß er dem deutschen Standpunkt von der Möglichkeit einer
friedlichen Entwicklung zum Zukunftsstaat hin durchaus nicht so fern stand. Der
logische Widerspruch zwischen einer positiven parlamentarischen Betätigung und


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[0277] vom französischen Sozialismus sie von der starren deutschen Genossin so merklich unterschied. Daher stammt großenteils auch die Überschätzung ihres Einflusses und ihrer Macht. Literatur und Presse, Rednerpult und Salon waren ihr offen, und „ttumanite" und „Ouerrs sociale" wurden auch von den Gebildeten verschlungen. Jaurös hat überdies die Partei erst zu einer parlamentarischen, wenn auch nicht geistigen Einheit zusammengeschweißt. Der überragende Schwung seiner Persönlichkeit und die führende Kraft seines Geistes vermochten alle Be¬ denken und Einwände mindestens im entscheidenden Moment zu lähmen und abzuschwächen, die Compere-Morel und Sembat, die Guesde und Vcüllant in gleicher Weise an seinen Wagen zu spannen und — beim französischen Indi¬ vidualismus ein Wunder — geschlossene Abstimmungen der Fraktion zu er¬ zielen. Er war oft die Partei, wie ja auch die ttumamtö das sozialistische Zentralorgan, er war. Über alle Gegensätze der schärferen Guesdisten und der opportunistischeren Jaurösisten hinaus wußte er die parlamentarische Ge¬ schlossenheit der Partei aufrecht zu erhalten und gab damit dem französischen Parlament, wenigstens seinem republikanischen Teil, die einzige einigermaßen organisierte und geschlossene wirkliche Partei. Auf dem Boden eines so zerklüfteten Volkshauses, wie des französischen, mußte im Rahmen eines so ausgeprägten Parlamentarismus, in friedlichen Zeiten, Zeiten der parlamentarischen Taktik und Intrige, politischer Manipulationen und Zufallsabstimmungen, eine solche Partei, mußte ein so packender Redner und so überlegener Taktiker wie Jaurös großen Einfluß haben, mußten die Sozialisten oft das Zünglein an der Wage bilden und eine Bedeutung erlangen, die über die Zahl ihrer Wähler weit hinausging. Jaurös ist auch der Vater der langjährigen Taktik seiner Partei, der Schöpfer der nächstwichtigen Grundlage dieses Einflusses. Auf ihn geht das Zusammenwirken mit der republikanischen Linken und damit die Anerkennung der demokratischen Republik zurück. Was das bedeutete, zeigte sich erst, als diese Taktik verlassen wurde, als man sich im Streite über Post¬ beamtenausstand und Eisenbahnersabotage trennte, als die Unifizierten ihre eigenen Wege gingen und damit nie facto die Rechte parlamentarisch stützten. Da konnte der Nationalismus täglich mehr an Boden gewinnen, da konnte das Dreijahrsgesetz durchgehen, der Nationalist Poincarö gegen den Radikalen Pans gewählt werden und die Bekämpfung der Syndikate der C.G.T.. des Sozialismus in Beamtentum und selbst Intelligenz mehr und mehr be¬ trieben werden, da zeigte sich, daß die Partei, auf sich selbst gestellt, zu einer ausschlaggebenden parlamentarischen Aktion an Zahl lange nicht stark genug war. Vermochte Jaurös die Partei parlamentarisch zu einigen, so gelang ihm das zwar auch geistig bis zu gewissem Grade, aber doch nicht vollständig. Daß er sich und die Partei bewußt auf den Boden des Parlamentarismus stellte, deutet an, daß er dem deutschen Standpunkt von der Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung zum Zukunftsstaat hin durchaus nicht so fern stand. Der logische Widerspruch zwischen einer positiven parlamentarischen Betätigung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/277>, abgerufen am 30.06.2024.