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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Oven französischen Sozialismus

einem revolutionären Ziele, ein Widerspruch, aus dem die Syndikalisten die
radikale Folgerung zogen, dürfte ihm nicht entgangen sein. Trotzdem ver¬
mochte er die Tendenz zur Revolution in der Partei nicht zu überwinden. Sie
ist dem französischen Sozialismus eine Naturnotwendigkeit. Nicht nur aus an¬
geborener Rassenanlage. Der Deutsche kann an die friedliche Erreichung seines
Zukunftsstaates auf dem Wege der Entwicklung glauben. Der Franzose auf
die Dauer nicht. Wie soll denn ein bäuerlich kapitalistischer Rentnerstaat, wie
es Frankreich ist, ein Staat ohne überragende Industrie, ohne Geburten¬
überschuß, ohne jede Neigung zur Industrialisierung auf friedlichem Wege je
die Herrschaft der Arbeiterklasse bringen! Etwa durch Organisation? Die
mageren Ergebnisse der parteipolitischer Organisation mußte man sich selbst ge¬
stehen. Sie waren nicht ermutigend. Die einzige wirkliche Proletarier¬
organisation, die Syndikate, huldigten dem Ideale der Revolution. Die Be¬
einflussung konnte nicht ausbleiben, schon aus praktisch-parteipolitischer
Wahlrücksichten nicht. So kommen neben parlamentarischer Intervention und
Agitation Massenstreik und Aufstand aufs sozialdemokratische Parteiprogramm.
Und die revolutionären Mittel, die Demonstrationen, Straßentumulte, re°
volutionüreu Aufrufe und Flugblätter überwogen bei der Partei oft derart, daß
man sich manchmal unmittelbar vor der Revolution glauben konnte. Sie waren
einfach Zeichen der Ohnmacht, da man sich zur Organisation unfähig fühlte
und keine andere Möglichkeit sah, seine Ideen geltend zu machen. Das Ideal
auf mangelnder Grundlage machte immer radikaler. Gerade während der
Balkankriege und der damit in Zusammenhang stehenden Agitation gegen den
Krieg, dann während des Kampfes gegen das Dreijahrdienstgesetz hatte ich
als Beobachter des französischen Lebens und Gast eines sozialistischen Studenten-
vereins Gelegenheit genug, den inneren Gehalt solcher Mittel zu würdigen
und das vielfach spielerische und Zufällige, meist Unfertige, Unzusammen¬
hängende und Unorganisierte, das keineswegs Imponierende dieser Mani¬
festationen kennen zu lernen.

Syndikate und Partei marschierten getrennt. Gebildete und Beamte
waren zu Handsester Revolution teils geistig, teils moralisch unfähig. Es fielen
aroße Worte. Man hegte starke Erwartungen. Die Taten blieben aus. Der
"große" Generalstreik im Winter 1912/13, der Protest gegen die Europa vom
Balkan her drohende Kriegsgefahr, waren weiter nichts als eine Farce. Die
Industriestadt Lyon brachte einen armseligen, aber desto lauter gröhlenden
Demonstrationszug von etwa zweitausend Teilnehmern zusammen und schloß
den Tag mit einer Revolte, die durch eine Kompagnie Kürassiere leicht im
Zaum gehalten wurde und der man als unbeteiligter Zuschauer ganz gefahrlos
beiwohnen konnte. Anderwärts war es nach Zeitungsberichten und dem eigenen
Geständnis der Sozialisten noch trauriger. Ideal und Wirklichkeit zeigen sich
in ihrer nüchternen Gegensätzlichkeit. Wenn schon der parlamentarische Einfluß
der Partei auf recht unsicheren und zufälligen Füßen stand, so noch viel mehr


Oven französischen Sozialismus

einem revolutionären Ziele, ein Widerspruch, aus dem die Syndikalisten die
radikale Folgerung zogen, dürfte ihm nicht entgangen sein. Trotzdem ver¬
mochte er die Tendenz zur Revolution in der Partei nicht zu überwinden. Sie
ist dem französischen Sozialismus eine Naturnotwendigkeit. Nicht nur aus an¬
geborener Rassenanlage. Der Deutsche kann an die friedliche Erreichung seines
Zukunftsstaates auf dem Wege der Entwicklung glauben. Der Franzose auf
die Dauer nicht. Wie soll denn ein bäuerlich kapitalistischer Rentnerstaat, wie
es Frankreich ist, ein Staat ohne überragende Industrie, ohne Geburten¬
überschuß, ohne jede Neigung zur Industrialisierung auf friedlichem Wege je
die Herrschaft der Arbeiterklasse bringen! Etwa durch Organisation? Die
mageren Ergebnisse der parteipolitischer Organisation mußte man sich selbst ge¬
stehen. Sie waren nicht ermutigend. Die einzige wirkliche Proletarier¬
organisation, die Syndikate, huldigten dem Ideale der Revolution. Die Be¬
einflussung konnte nicht ausbleiben, schon aus praktisch-parteipolitischer
Wahlrücksichten nicht. So kommen neben parlamentarischer Intervention und
Agitation Massenstreik und Aufstand aufs sozialdemokratische Parteiprogramm.
Und die revolutionären Mittel, die Demonstrationen, Straßentumulte, re°
volutionüreu Aufrufe und Flugblätter überwogen bei der Partei oft derart, daß
man sich manchmal unmittelbar vor der Revolution glauben konnte. Sie waren
einfach Zeichen der Ohnmacht, da man sich zur Organisation unfähig fühlte
und keine andere Möglichkeit sah, seine Ideen geltend zu machen. Das Ideal
auf mangelnder Grundlage machte immer radikaler. Gerade während der
Balkankriege und der damit in Zusammenhang stehenden Agitation gegen den
Krieg, dann während des Kampfes gegen das Dreijahrdienstgesetz hatte ich
als Beobachter des französischen Lebens und Gast eines sozialistischen Studenten-
vereins Gelegenheit genug, den inneren Gehalt solcher Mittel zu würdigen
und das vielfach spielerische und Zufällige, meist Unfertige, Unzusammen¬
hängende und Unorganisierte, das keineswegs Imponierende dieser Mani¬
festationen kennen zu lernen.

Syndikate und Partei marschierten getrennt. Gebildete und Beamte
waren zu Handsester Revolution teils geistig, teils moralisch unfähig. Es fielen
aroße Worte. Man hegte starke Erwartungen. Die Taten blieben aus. Der
„große" Generalstreik im Winter 1912/13, der Protest gegen die Europa vom
Balkan her drohende Kriegsgefahr, waren weiter nichts als eine Farce. Die
Industriestadt Lyon brachte einen armseligen, aber desto lauter gröhlenden
Demonstrationszug von etwa zweitausend Teilnehmern zusammen und schloß
den Tag mit einer Revolte, die durch eine Kompagnie Kürassiere leicht im
Zaum gehalten wurde und der man als unbeteiligter Zuschauer ganz gefahrlos
beiwohnen konnte. Anderwärts war es nach Zeitungsberichten und dem eigenen
Geständnis der Sozialisten noch trauriger. Ideal und Wirklichkeit zeigen sich
in ihrer nüchternen Gegensätzlichkeit. Wenn schon der parlamentarische Einfluß
der Partei auf recht unsicheren und zufälligen Füßen stand, so noch viel mehr


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[0278] Oven französischen Sozialismus einem revolutionären Ziele, ein Widerspruch, aus dem die Syndikalisten die radikale Folgerung zogen, dürfte ihm nicht entgangen sein. Trotzdem ver¬ mochte er die Tendenz zur Revolution in der Partei nicht zu überwinden. Sie ist dem französischen Sozialismus eine Naturnotwendigkeit. Nicht nur aus an¬ geborener Rassenanlage. Der Deutsche kann an die friedliche Erreichung seines Zukunftsstaates auf dem Wege der Entwicklung glauben. Der Franzose auf die Dauer nicht. Wie soll denn ein bäuerlich kapitalistischer Rentnerstaat, wie es Frankreich ist, ein Staat ohne überragende Industrie, ohne Geburten¬ überschuß, ohne jede Neigung zur Industrialisierung auf friedlichem Wege je die Herrschaft der Arbeiterklasse bringen! Etwa durch Organisation? Die mageren Ergebnisse der parteipolitischer Organisation mußte man sich selbst ge¬ stehen. Sie waren nicht ermutigend. Die einzige wirkliche Proletarier¬ organisation, die Syndikate, huldigten dem Ideale der Revolution. Die Be¬ einflussung konnte nicht ausbleiben, schon aus praktisch-parteipolitischer Wahlrücksichten nicht. So kommen neben parlamentarischer Intervention und Agitation Massenstreik und Aufstand aufs sozialdemokratische Parteiprogramm. Und die revolutionären Mittel, die Demonstrationen, Straßentumulte, re° volutionüreu Aufrufe und Flugblätter überwogen bei der Partei oft derart, daß man sich manchmal unmittelbar vor der Revolution glauben konnte. Sie waren einfach Zeichen der Ohnmacht, da man sich zur Organisation unfähig fühlte und keine andere Möglichkeit sah, seine Ideen geltend zu machen. Das Ideal auf mangelnder Grundlage machte immer radikaler. Gerade während der Balkankriege und der damit in Zusammenhang stehenden Agitation gegen den Krieg, dann während des Kampfes gegen das Dreijahrdienstgesetz hatte ich als Beobachter des französischen Lebens und Gast eines sozialistischen Studenten- vereins Gelegenheit genug, den inneren Gehalt solcher Mittel zu würdigen und das vielfach spielerische und Zufällige, meist Unfertige, Unzusammen¬ hängende und Unorganisierte, das keineswegs Imponierende dieser Mani¬ festationen kennen zu lernen. Syndikate und Partei marschierten getrennt. Gebildete und Beamte waren zu Handsester Revolution teils geistig, teils moralisch unfähig. Es fielen aroße Worte. Man hegte starke Erwartungen. Die Taten blieben aus. Der „große" Generalstreik im Winter 1912/13, der Protest gegen die Europa vom Balkan her drohende Kriegsgefahr, waren weiter nichts als eine Farce. Die Industriestadt Lyon brachte einen armseligen, aber desto lauter gröhlenden Demonstrationszug von etwa zweitausend Teilnehmern zusammen und schloß den Tag mit einer Revolte, die durch eine Kompagnie Kürassiere leicht im Zaum gehalten wurde und der man als unbeteiligter Zuschauer ganz gefahrlos beiwohnen konnte. Anderwärts war es nach Zeitungsberichten und dem eigenen Geständnis der Sozialisten noch trauriger. Ideal und Wirklichkeit zeigen sich in ihrer nüchternen Gegensätzlichkeit. Wenn schon der parlamentarische Einfluß der Partei auf recht unsicheren und zufälligen Füßen stand, so noch viel mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/278>, abgerufen am 28.06.2024.