Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.Zur ideologischen Deutung der Gegenwart Sehr bedeutsam ist auch der methodologisch-geschichtsphilosophische Neben" Im Licht dieser Ideologie stellt sich also 1914 als eine Versöhnung des An diesem Punkt rächt sich vielleicht doch die auch bei Schwann bemerkte Zur ideologischen Deutung der Gegenwart Sehr bedeutsam ist auch der methodologisch-geschichtsphilosophische Neben« Im Licht dieser Ideologie stellt sich also 1914 als eine Versöhnung des An diesem Punkt rächt sich vielleicht doch die auch bei Schwann bemerkte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0263" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331235"/> <fw type="header" place="top"> Zur ideologischen Deutung der Gegenwart</fw><lb/> <p xml:id="ID_888"> Sehr bedeutsam ist auch der methodologisch-geschichtsphilosophische Neben«<lb/> ertrag des Buches in seinen Ausführungen über die Rolle geschichtlicher Ideen<lb/> überhaupt. Auch ist es interessant, wenn schon manchmal etwas hemmend für<lb/> den Verlauf der Lektüre, daß Plenge überall den Zusammenhang mit den Ge¬<lb/> danken seiner früheren Schriften aufweist. Hier beschäftigt uns aber nur der<lb/> ideologische Grundgedanke des Buches. Der weist nun der ganzen Veröffent¬<lb/> lichung einen dauernd bedeutsamen Platz in der deutschen Jdeengeschichte an.<lb/> Denn Plenge nimmt als erster mit vollem Bewußtsein den Kampf mit einer<lb/> allmählich fast lautlos einsetzenden Bewegung an. die man als Restauration<lb/> des westlichen demokratischen Liberalismus in Deutschland bezeichnen könnte.<lb/> So ist denn auch der unmittelbare Anlaß des Buches ein Weihnachtsartikel<lb/> der Frankfurter Zeitung, in dem unter spöttischer Anspielung auf Sombart,<lb/> Kjellön usw. die allgemein-menschlichen Ideen von 1789 gegen die neuen von<lb/> 1914 in Schutz genommen werden. Mit wahrhaft glänzendem polemischem<lb/> Geschick wird jener Artikel, der übrigens in vollständigem Abdruck dem Buche<lb/> beigegeben und so als interessantes literarisches Symptom der Vergessenheit<lb/> entrissen ist, auf seine letzten ideologischen Motive zurückgeführt. So spitzt sich<lb/> der Kampf zum Gegensatz des aufklärerischen Individualismus Kants und des<lb/> Kollektivismus Hegels zu. Und dem abstrakt-gleich macherischen kategorischen Im¬<lb/> perativ Kants wird das neue Gebot: „Schaffe mit, gliedere dich ein. lebe im<lb/> Ganzen" entgegengesetzt. Und es ist die Idee der Organisation, die als echte geschicht¬<lb/> liche Synthesis noch die ausgehobenen Ideen von 1789 in sich aufnimmt, sie aber nach<lb/> der positiven Seite ergänzt und damit weit über sich selbst hinausführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_889"> Im Licht dieser Ideologie stellt sich also 1914 als eine Versöhnung des<lb/> Staatsgedankens mit dem Sozialismus und darüber hinaus als ein voll¬<lb/> kommener Sieg dieses Staatssozialismus über den liberalen Individualismus<lb/> dar. Wie konseqent dieser Grundgedanke in all seinen Verzweigungen zu Ende<lb/> gedacht ist, muß man in der geistvollen tiefbohrenden Schrift selber nachlesen.<lb/> Dann freilich wird aber auch klar werden, daß das Problem der Überwindung<lb/> des Westens in der Ideologie damit bloß angeschnitten, aber doch noch keineswegs<lb/> gelöst ist. Der hier beherrschend in den Vordergrund gerückte Gedanke der<lb/> Organisation behält eben doch in sich die Spannung des organischen und<lb/> mechanischen Prinzips. Und der Gedanke des Sozialismus neigt so sehr nach<lb/> dem letzteren Pol, daß die liberale Erbschaft, das aus allen Bedingungen los¬<lb/> gelöste Einzel-Ich als Willensatom. auch in dieser neuen Moral so außer¬<lb/> ordentlich stark betont bleibt, daß der Gegensatz Plengcs zu der Meinung des<lb/> angezogenen Artikels in der Tat geringer ist, als er scheint.</p><lb/> <p xml:id="ID_890" next="#ID_891"> An diesem Punkt rächt sich vielleicht doch die auch bei Schwann bemerkte<lb/> Beschränkung auf den Zeitraum der letzten 125 Jahre. Das demokratische<lb/> Moment einigt den Plengeschen entschlossenen Staatssozialismus und die liberale<lb/> Restauration so eng. daß beide zusammen erst den großen Protest wachrufen<lb/> werden, der sich auf den aristokratischen Gedanken der sozialen Stufung auch</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0263]
Zur ideologischen Deutung der Gegenwart
Sehr bedeutsam ist auch der methodologisch-geschichtsphilosophische Neben«
ertrag des Buches in seinen Ausführungen über die Rolle geschichtlicher Ideen
überhaupt. Auch ist es interessant, wenn schon manchmal etwas hemmend für
den Verlauf der Lektüre, daß Plenge überall den Zusammenhang mit den Ge¬
danken seiner früheren Schriften aufweist. Hier beschäftigt uns aber nur der
ideologische Grundgedanke des Buches. Der weist nun der ganzen Veröffent¬
lichung einen dauernd bedeutsamen Platz in der deutschen Jdeengeschichte an.
Denn Plenge nimmt als erster mit vollem Bewußtsein den Kampf mit einer
allmählich fast lautlos einsetzenden Bewegung an. die man als Restauration
des westlichen demokratischen Liberalismus in Deutschland bezeichnen könnte.
So ist denn auch der unmittelbare Anlaß des Buches ein Weihnachtsartikel
der Frankfurter Zeitung, in dem unter spöttischer Anspielung auf Sombart,
Kjellön usw. die allgemein-menschlichen Ideen von 1789 gegen die neuen von
1914 in Schutz genommen werden. Mit wahrhaft glänzendem polemischem
Geschick wird jener Artikel, der übrigens in vollständigem Abdruck dem Buche
beigegeben und so als interessantes literarisches Symptom der Vergessenheit
entrissen ist, auf seine letzten ideologischen Motive zurückgeführt. So spitzt sich
der Kampf zum Gegensatz des aufklärerischen Individualismus Kants und des
Kollektivismus Hegels zu. Und dem abstrakt-gleich macherischen kategorischen Im¬
perativ Kants wird das neue Gebot: „Schaffe mit, gliedere dich ein. lebe im
Ganzen" entgegengesetzt. Und es ist die Idee der Organisation, die als echte geschicht¬
liche Synthesis noch die ausgehobenen Ideen von 1789 in sich aufnimmt, sie aber nach
der positiven Seite ergänzt und damit weit über sich selbst hinausführt.
Im Licht dieser Ideologie stellt sich also 1914 als eine Versöhnung des
Staatsgedankens mit dem Sozialismus und darüber hinaus als ein voll¬
kommener Sieg dieses Staatssozialismus über den liberalen Individualismus
dar. Wie konseqent dieser Grundgedanke in all seinen Verzweigungen zu Ende
gedacht ist, muß man in der geistvollen tiefbohrenden Schrift selber nachlesen.
Dann freilich wird aber auch klar werden, daß das Problem der Überwindung
des Westens in der Ideologie damit bloß angeschnitten, aber doch noch keineswegs
gelöst ist. Der hier beherrschend in den Vordergrund gerückte Gedanke der
Organisation behält eben doch in sich die Spannung des organischen und
mechanischen Prinzips. Und der Gedanke des Sozialismus neigt so sehr nach
dem letzteren Pol, daß die liberale Erbschaft, das aus allen Bedingungen los¬
gelöste Einzel-Ich als Willensatom. auch in dieser neuen Moral so außer¬
ordentlich stark betont bleibt, daß der Gegensatz Plengcs zu der Meinung des
angezogenen Artikels in der Tat geringer ist, als er scheint.
An diesem Punkt rächt sich vielleicht doch die auch bei Schwann bemerkte
Beschränkung auf den Zeitraum der letzten 125 Jahre. Das demokratische
Moment einigt den Plengeschen entschlossenen Staatssozialismus und die liberale
Restauration so eng. daß beide zusammen erst den großen Protest wachrufen
werden, der sich auf den aristokratischen Gedanken der sozialen Stufung auch
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