Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

unabhängig vombloßen Tüchtigkeitsmomentberufen und damit hinter die Aufklärung,
vielleicht noch hinter die Reformation zurückgreifen muß. Je gewaltiger die Zeiten¬
wende empfunden wird, desto weitere Spannen wird die Ideologie zu übergreifen ver¬
mögen, um den Sinn der Zukunft zu deuten. Es soll nicht behauptet werden, daß all
solche weiter ausschauende Versuche ideologischer Art den Plengeschen Grundgedanken
ablehnen werden. Ganz zweifellos sind durchaus reale und zukunftssichere Tendenzen
in ihm gedeutet. Aber ohne eine wesentliche Einschränkung ihres Wirkungsbereiches
auf den Umkreis des Wirtschaftlich-Politischen dürfte es kaum abgehen.

Daß die gewaltige Erregung der Zeit längst verschollen geglaubte ideolo¬
gische Motive wieder aufrührt, erweist sich an dem seltsamen Buch von Alfons
Paquet "Der Kaisergedanke" (Verlag von Rütten und^Loening, Frankfurt 1915).
Der positivistischen Ideologie Schwarms und der philosophisch-rationalistischen
Ideologie Plenges tritt in dieser dunklen und tiefen Schrift ein dritter ideolo¬
gischer Typ, der mystisch-religiöse, zur Seite. So fehlt dem Büchlein auch ein
eigentlich durchlaufender Gedankengang, zumal es schon in seiner Darstellungs¬
form in lose zusammenhängende Einzelaufsätze zerfällt. Aber auch bei einer
anderen Gliederung des Stoffes würde sich eine solche Einheitlichkeit der dis-
kursiven Gedankenführung schwerlich aufweisen lassen, weil eben hier ein visio¬
näres Ahnen zum Ausdruck drängt, das sich in merkwürdigem Wechsel den
positiven Gegebenheiten bald eng zu nähern, dann wieder tief in den Abgrund
formlos verfließender Träume zu versinken scheint. Was sich aus diesem
gotischen Jdeengeranke als Grundmotiv herauslösen läßt, ist die ungeklärte
Sehnsucht, die mitten aus der absoluten politischen Zerstückung der Welt die
Zukunftshoffnungen mit einer Wiedererweckung des alten Weltgedankens vom
Universalreich verknüpfen möchte. Im Grunde sind es nicht politische, sondern
kulturell-religiöse Motive auf föderalistischer Grundlage, die sich für Paquet mit
seinem ins Metaphysische sich verwurzelnden Kaisergedanken verbinden. Es wird
immer ein Merkzeichen für die Tiefe bleiben, in der das deutsche Volk diese
ungeheure Selbstzerfleischung der Erde erlebt und erleidet, baß gerade in dieser
Zeit so wirklichkeitsferne Ideen mit solch inbrünstiger Gläubigkeit sich im all¬
gemeinen Bewußtsein durchringen konnten. --

Der Zufall eines zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Erscheinens gab
den äußeren Anlaß, diese drei Schriften hier miteinander zu würdigen. Auf
dem Hintergrund unserer allgemeinen Überlegungen über die Notwendigkeit
einer deutschen Ideologie "is allgemein in ihrem Recht anerkannter Geisteshaltung
mußten sie gewissermaßen als drei methodische Typen erscheinen, die die Vielgestaltig¬
keit der Ideologie am lebendigen Beispiele dartun. Unabhängig vom jeweiligen
Gelingen bietet doch schon das Vorhandensein solcher Schriften und das In¬
teresse, das die Leserwelt an ihnen nimmt, eine freudige Gewähr dafür, daß
wir auf das Wiedererwachen des ideologischen Triebes und die ihm inne¬
wohnende Tendenz zur Vertiefung der allgemeinen Fragen wohlbegründete Hoff¬
nungen zu setzen berechtigt sind.


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

unabhängig vombloßen Tüchtigkeitsmomentberufen und damit hinter die Aufklärung,
vielleicht noch hinter die Reformation zurückgreifen muß. Je gewaltiger die Zeiten¬
wende empfunden wird, desto weitere Spannen wird die Ideologie zu übergreifen ver¬
mögen, um den Sinn der Zukunft zu deuten. Es soll nicht behauptet werden, daß all
solche weiter ausschauende Versuche ideologischer Art den Plengeschen Grundgedanken
ablehnen werden. Ganz zweifellos sind durchaus reale und zukunftssichere Tendenzen
in ihm gedeutet. Aber ohne eine wesentliche Einschränkung ihres Wirkungsbereiches
auf den Umkreis des Wirtschaftlich-Politischen dürfte es kaum abgehen.

Daß die gewaltige Erregung der Zeit längst verschollen geglaubte ideolo¬
gische Motive wieder aufrührt, erweist sich an dem seltsamen Buch von Alfons
Paquet „Der Kaisergedanke" (Verlag von Rütten und^Loening, Frankfurt 1915).
Der positivistischen Ideologie Schwarms und der philosophisch-rationalistischen
Ideologie Plenges tritt in dieser dunklen und tiefen Schrift ein dritter ideolo¬
gischer Typ, der mystisch-religiöse, zur Seite. So fehlt dem Büchlein auch ein
eigentlich durchlaufender Gedankengang, zumal es schon in seiner Darstellungs¬
form in lose zusammenhängende Einzelaufsätze zerfällt. Aber auch bei einer
anderen Gliederung des Stoffes würde sich eine solche Einheitlichkeit der dis-
kursiven Gedankenführung schwerlich aufweisen lassen, weil eben hier ein visio¬
näres Ahnen zum Ausdruck drängt, das sich in merkwürdigem Wechsel den
positiven Gegebenheiten bald eng zu nähern, dann wieder tief in den Abgrund
formlos verfließender Träume zu versinken scheint. Was sich aus diesem
gotischen Jdeengeranke als Grundmotiv herauslösen läßt, ist die ungeklärte
Sehnsucht, die mitten aus der absoluten politischen Zerstückung der Welt die
Zukunftshoffnungen mit einer Wiedererweckung des alten Weltgedankens vom
Universalreich verknüpfen möchte. Im Grunde sind es nicht politische, sondern
kulturell-religiöse Motive auf föderalistischer Grundlage, die sich für Paquet mit
seinem ins Metaphysische sich verwurzelnden Kaisergedanken verbinden. Es wird
immer ein Merkzeichen für die Tiefe bleiben, in der das deutsche Volk diese
ungeheure Selbstzerfleischung der Erde erlebt und erleidet, baß gerade in dieser
Zeit so wirklichkeitsferne Ideen mit solch inbrünstiger Gläubigkeit sich im all¬
gemeinen Bewußtsein durchringen konnten. —

Der Zufall eines zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Erscheinens gab
den äußeren Anlaß, diese drei Schriften hier miteinander zu würdigen. Auf
dem Hintergrund unserer allgemeinen Überlegungen über die Notwendigkeit
einer deutschen Ideologie «is allgemein in ihrem Recht anerkannter Geisteshaltung
mußten sie gewissermaßen als drei methodische Typen erscheinen, die die Vielgestaltig¬
keit der Ideologie am lebendigen Beispiele dartun. Unabhängig vom jeweiligen
Gelingen bietet doch schon das Vorhandensein solcher Schriften und das In¬
teresse, das die Leserwelt an ihnen nimmt, eine freudige Gewähr dafür, daß
wir auf das Wiedererwachen des ideologischen Triebes und die ihm inne¬
wohnende Tendenz zur Vertiefung der allgemeinen Fragen wohlbegründete Hoff¬
nungen zu setzen berechtigt sind.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331236"/>
            <fw type="header" place="top"> Zur ideologischen Deutung der Gegenwart</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_891" prev="#ID_890"> unabhängig vombloßen Tüchtigkeitsmomentberufen und damit hinter die Aufklärung,<lb/>
vielleicht noch hinter die Reformation zurückgreifen muß. Je gewaltiger die Zeiten¬<lb/>
wende empfunden wird, desto weitere Spannen wird die Ideologie zu übergreifen ver¬<lb/>
mögen, um den Sinn der Zukunft zu deuten. Es soll nicht behauptet werden, daß all<lb/>
solche weiter ausschauende Versuche ideologischer Art den Plengeschen Grundgedanken<lb/>
ablehnen werden. Ganz zweifellos sind durchaus reale und zukunftssichere Tendenzen<lb/>
in ihm gedeutet. Aber ohne eine wesentliche Einschränkung ihres Wirkungsbereiches<lb/>
auf den Umkreis des Wirtschaftlich-Politischen dürfte es kaum abgehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_892"> Daß die gewaltige Erregung der Zeit längst verschollen geglaubte ideolo¬<lb/>
gische Motive wieder aufrührt, erweist sich an dem seltsamen Buch von Alfons<lb/>
Paquet &#x201E;Der Kaisergedanke" (Verlag von Rütten und^Loening, Frankfurt 1915).<lb/>
Der positivistischen Ideologie Schwarms und der philosophisch-rationalistischen<lb/>
Ideologie Plenges tritt in dieser dunklen und tiefen Schrift ein dritter ideolo¬<lb/>
gischer Typ, der mystisch-religiöse, zur Seite. So fehlt dem Büchlein auch ein<lb/>
eigentlich durchlaufender Gedankengang, zumal es schon in seiner Darstellungs¬<lb/>
form in lose zusammenhängende Einzelaufsätze zerfällt. Aber auch bei einer<lb/>
anderen Gliederung des Stoffes würde sich eine solche Einheitlichkeit der dis-<lb/>
kursiven Gedankenführung schwerlich aufweisen lassen, weil eben hier ein visio¬<lb/>
näres Ahnen zum Ausdruck drängt, das sich in merkwürdigem Wechsel den<lb/>
positiven Gegebenheiten bald eng zu nähern, dann wieder tief in den Abgrund<lb/>
formlos verfließender Träume zu versinken scheint. Was sich aus diesem<lb/>
gotischen Jdeengeranke als Grundmotiv herauslösen läßt, ist die ungeklärte<lb/>
Sehnsucht, die mitten aus der absoluten politischen Zerstückung der Welt die<lb/>
Zukunftshoffnungen mit einer Wiedererweckung des alten Weltgedankens vom<lb/>
Universalreich verknüpfen möchte. Im Grunde sind es nicht politische, sondern<lb/>
kulturell-religiöse Motive auf föderalistischer Grundlage, die sich für Paquet mit<lb/>
seinem ins Metaphysische sich verwurzelnden Kaisergedanken verbinden. Es wird<lb/>
immer ein Merkzeichen für die Tiefe bleiben, in der das deutsche Volk diese<lb/>
ungeheure Selbstzerfleischung der Erde erlebt und erleidet, baß gerade in dieser<lb/>
Zeit so wirklichkeitsferne Ideen mit solch inbrünstiger Gläubigkeit sich im all¬<lb/>
gemeinen Bewußtsein durchringen konnten. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_893"> Der Zufall eines zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Erscheinens gab<lb/>
den äußeren Anlaß, diese drei Schriften hier miteinander zu würdigen. Auf<lb/>
dem Hintergrund unserer allgemeinen Überlegungen über die Notwendigkeit<lb/>
einer deutschen Ideologie «is allgemein in ihrem Recht anerkannter Geisteshaltung<lb/>
mußten sie gewissermaßen als drei methodische Typen erscheinen, die die Vielgestaltig¬<lb/>
keit der Ideologie am lebendigen Beispiele dartun. Unabhängig vom jeweiligen<lb/>
Gelingen bietet doch schon das Vorhandensein solcher Schriften und das In¬<lb/>
teresse, das die Leserwelt an ihnen nimmt, eine freudige Gewähr dafür, daß<lb/>
wir auf das Wiedererwachen des ideologischen Triebes und die ihm inne¬<lb/>
wohnende Tendenz zur Vertiefung der allgemeinen Fragen wohlbegründete Hoff¬<lb/>
nungen zu setzen berechtigt sind.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart unabhängig vombloßen Tüchtigkeitsmomentberufen und damit hinter die Aufklärung, vielleicht noch hinter die Reformation zurückgreifen muß. Je gewaltiger die Zeiten¬ wende empfunden wird, desto weitere Spannen wird die Ideologie zu übergreifen ver¬ mögen, um den Sinn der Zukunft zu deuten. Es soll nicht behauptet werden, daß all solche weiter ausschauende Versuche ideologischer Art den Plengeschen Grundgedanken ablehnen werden. Ganz zweifellos sind durchaus reale und zukunftssichere Tendenzen in ihm gedeutet. Aber ohne eine wesentliche Einschränkung ihres Wirkungsbereiches auf den Umkreis des Wirtschaftlich-Politischen dürfte es kaum abgehen. Daß die gewaltige Erregung der Zeit längst verschollen geglaubte ideolo¬ gische Motive wieder aufrührt, erweist sich an dem seltsamen Buch von Alfons Paquet „Der Kaisergedanke" (Verlag von Rütten und^Loening, Frankfurt 1915). Der positivistischen Ideologie Schwarms und der philosophisch-rationalistischen Ideologie Plenges tritt in dieser dunklen und tiefen Schrift ein dritter ideolo¬ gischer Typ, der mystisch-religiöse, zur Seite. So fehlt dem Büchlein auch ein eigentlich durchlaufender Gedankengang, zumal es schon in seiner Darstellungs¬ form in lose zusammenhängende Einzelaufsätze zerfällt. Aber auch bei einer anderen Gliederung des Stoffes würde sich eine solche Einheitlichkeit der dis- kursiven Gedankenführung schwerlich aufweisen lassen, weil eben hier ein visio¬ näres Ahnen zum Ausdruck drängt, das sich in merkwürdigem Wechsel den positiven Gegebenheiten bald eng zu nähern, dann wieder tief in den Abgrund formlos verfließender Träume zu versinken scheint. Was sich aus diesem gotischen Jdeengeranke als Grundmotiv herauslösen läßt, ist die ungeklärte Sehnsucht, die mitten aus der absoluten politischen Zerstückung der Welt die Zukunftshoffnungen mit einer Wiedererweckung des alten Weltgedankens vom Universalreich verknüpfen möchte. Im Grunde sind es nicht politische, sondern kulturell-religiöse Motive auf föderalistischer Grundlage, die sich für Paquet mit seinem ins Metaphysische sich verwurzelnden Kaisergedanken verbinden. Es wird immer ein Merkzeichen für die Tiefe bleiben, in der das deutsche Volk diese ungeheure Selbstzerfleischung der Erde erlebt und erleidet, baß gerade in dieser Zeit so wirklichkeitsferne Ideen mit solch inbrünstiger Gläubigkeit sich im all¬ gemeinen Bewußtsein durchringen konnten. — Der Zufall eines zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Erscheinens gab den äußeren Anlaß, diese drei Schriften hier miteinander zu würdigen. Auf dem Hintergrund unserer allgemeinen Überlegungen über die Notwendigkeit einer deutschen Ideologie «is allgemein in ihrem Recht anerkannter Geisteshaltung mußten sie gewissermaßen als drei methodische Typen erscheinen, die die Vielgestaltig¬ keit der Ideologie am lebendigen Beispiele dartun. Unabhängig vom jeweiligen Gelingen bietet doch schon das Vorhandensein solcher Schriften und das In¬ teresse, das die Leserwelt an ihnen nimmt, eine freudige Gewähr dafür, daß wir auf das Wiedererwachen des ideologischen Triebes und die ihm inne¬ wohnende Tendenz zur Vertiefung der allgemeinen Fragen wohlbegründete Hoff¬ nungen zu setzen berechtigt sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/264>, abgerufen am 23.07.2024.