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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Im neuen Deutschland

gebung sehr stiefmütterlich behandelten Arbeiterrechts, aber keineswegs seine
Gleichheit für alle Arbeiterklassen und zeigt namentlich am Tarifvertrage, der
später noch von Leipart besonders behandelt wird, wie wenig das geltende
Recht den Bedürfnissen der Zeit -- aber schon vor dem Kriege -- genügt.
Dazu kommen eine Reihe von Mängeln des Arbeiterversicherungsrechtes. Die
Ausführungen über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, die im Gegensatze
zum Jndioidualrecht der Gegenwart Eintritt in die Rechtsordnung fordern, von
Lederer berühren sich mit den einleitenden Bemerkungen von Heinemann und
sind dort bereits gewürdigt. Die Erörterung der Arbeitsnachweisfrage von
Cohen zeigt, daß angesichts der Bestrebungen der beiderseitigen Verbände, den
Arbeitsnachweis in die, Hand zu bekommen, eine gesetzliche Regelung nur auf
dem Boden des paritätischen Arbeitsnachweises zu einem befriedigenden Er¬
gebnisse führen kann. Die Aufsätze von Hoffmeister über die Landarbeiter¬
frage und von August Müller über die Konsumgenossenschaften fallen insofern
aus dem Rahmen, als sie nur die bestehenden wirtschaftlichen Zustände schildern,
aber keine neue Forderungen an das Recht der Zukunft stellen.

Doch wo sich alles erneut, kann auch die Verwaltung nicht die alte
bleiben. Datz gerade der Ingenieur statt des Juristen oder vorläufig wenigstens
neben ihm der gegebene Verwaltungsbeamte der Zukunft ist, wurde bereits in
anderem Zusammenhange erwähnt. Aber den grundlegenden Aufsatz liefert
Hugo Preuß mit seiner Neuorientierung -- dies scheußliche Wort ist auch hier
unvermeidlich -- der inneren Verwaltung. Um Preußen der Reichspolitik ge¬
fügig zu machen, die er sich natürlich durch einen nach links "orientierten"
Reichstag bestimmt denkt, weiß er ein sehr einfaches Mittel: der Reichskanzler
soll gleichzeitig preußischer Staatskanzler und. damit der Vorgesetzte aller
preußischen Minister werden. Der Gedanke ist verflucht gescheut, stammt dafür
aber auch nicht von Preuß, sondern vom Fürsten Bülow, der ihn freilich nicht
in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Ob die Verwirklichung in der Tat zur
Herrschaft der Reichstagsmehrheit über Reich und Preußen oder nicht vielmehr
ZU einem unerträglichen Ministerialdespotismus führen würde, müßte erst die
Erfahrung lehren. In seinen Gedanken über die Selbstverwaltung begegnet
sich Preuß mit dem besonderen Aufsatze des württembergischen Sozialdemokraten
Lindemann über den Gegenstand. Ihm ist Selbstverwaltung örtliche Ver¬
waltung, insbesondere einschließlich der Polizei, schlechthin, aus der sich demnach
der Staat zurückziehen soll. Diese Selbstverwaltung ist aber gedacht als eine
solche der Großgemeinde auch über das umliegende flache Land durch eine
einzige Versammlung vermöge von ihr abhängiger Beamten. Dann nach Aus-
schaltung der staatlichen Bureaukratie soll das goldene Zeitalter erreicht fein.
Ich fühle mich nun keineswegs gedrungen, auf die staatliche Bureaukratie ein
Loblied anzustimmen. Aber mit den Leistungen der größten Gemeinde Berlin,
die an Weisheit -- ich erinnere nur an das Verhältnis zu den Vororten und
sur großen Berliner Straßenbahn -- seit Jahrzehnten mit Schilds und


Im neuen Deutschland

gebung sehr stiefmütterlich behandelten Arbeiterrechts, aber keineswegs seine
Gleichheit für alle Arbeiterklassen und zeigt namentlich am Tarifvertrage, der
später noch von Leipart besonders behandelt wird, wie wenig das geltende
Recht den Bedürfnissen der Zeit — aber schon vor dem Kriege — genügt.
Dazu kommen eine Reihe von Mängeln des Arbeiterversicherungsrechtes. Die
Ausführungen über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, die im Gegensatze
zum Jndioidualrecht der Gegenwart Eintritt in die Rechtsordnung fordern, von
Lederer berühren sich mit den einleitenden Bemerkungen von Heinemann und
sind dort bereits gewürdigt. Die Erörterung der Arbeitsnachweisfrage von
Cohen zeigt, daß angesichts der Bestrebungen der beiderseitigen Verbände, den
Arbeitsnachweis in die, Hand zu bekommen, eine gesetzliche Regelung nur auf
dem Boden des paritätischen Arbeitsnachweises zu einem befriedigenden Er¬
gebnisse führen kann. Die Aufsätze von Hoffmeister über die Landarbeiter¬
frage und von August Müller über die Konsumgenossenschaften fallen insofern
aus dem Rahmen, als sie nur die bestehenden wirtschaftlichen Zustände schildern,
aber keine neue Forderungen an das Recht der Zukunft stellen.

Doch wo sich alles erneut, kann auch die Verwaltung nicht die alte
bleiben. Datz gerade der Ingenieur statt des Juristen oder vorläufig wenigstens
neben ihm der gegebene Verwaltungsbeamte der Zukunft ist, wurde bereits in
anderem Zusammenhange erwähnt. Aber den grundlegenden Aufsatz liefert
Hugo Preuß mit seiner Neuorientierung — dies scheußliche Wort ist auch hier
unvermeidlich — der inneren Verwaltung. Um Preußen der Reichspolitik ge¬
fügig zu machen, die er sich natürlich durch einen nach links „orientierten"
Reichstag bestimmt denkt, weiß er ein sehr einfaches Mittel: der Reichskanzler
soll gleichzeitig preußischer Staatskanzler und. damit der Vorgesetzte aller
preußischen Minister werden. Der Gedanke ist verflucht gescheut, stammt dafür
aber auch nicht von Preuß, sondern vom Fürsten Bülow, der ihn freilich nicht
in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Ob die Verwirklichung in der Tat zur
Herrschaft der Reichstagsmehrheit über Reich und Preußen oder nicht vielmehr
ZU einem unerträglichen Ministerialdespotismus führen würde, müßte erst die
Erfahrung lehren. In seinen Gedanken über die Selbstverwaltung begegnet
sich Preuß mit dem besonderen Aufsatze des württembergischen Sozialdemokraten
Lindemann über den Gegenstand. Ihm ist Selbstverwaltung örtliche Ver¬
waltung, insbesondere einschließlich der Polizei, schlechthin, aus der sich demnach
der Staat zurückziehen soll. Diese Selbstverwaltung ist aber gedacht als eine
solche der Großgemeinde auch über das umliegende flache Land durch eine
einzige Versammlung vermöge von ihr abhängiger Beamten. Dann nach Aus-
schaltung der staatlichen Bureaukratie soll das goldene Zeitalter erreicht fein.
Ich fühle mich nun keineswegs gedrungen, auf die staatliche Bureaukratie ein
Loblied anzustimmen. Aber mit den Leistungen der größten Gemeinde Berlin,
die an Weisheit — ich erinnere nur an das Verhältnis zu den Vororten und
sur großen Berliner Straßenbahn — seit Jahrzehnten mit Schilds und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/193>, abgerufen am 23.07.2024.