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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur ruthenischen Frage

Ein reiches Leben entwickelte sich in den folgenden anderthalb Jahrhunderten.
Am Anfang des zehnten Jahrhunderts scheint bereits ein lebhafter Handel über
Böhmen, Krakau und Galizien nach Kijew und Konstantinopel gegangen zu sein.
Um 960 bestehen schon Beziehungen Kijews zu Otto dem Großen; doch mi߬
langen die Versuche, Rußland für das römische Christentum zu gewinnen. Es
schloß sich (988) unter Wladimir endgültig dem griechischen Glauben an, da
die Verbindung mit Byzanz älter und stärker war. Dadurch wurde Rußland
aller Vorteile der damals noch hochstehenden byzantinischen Kultur teilhaft,
blieb aber dann ebenso zurück wie Byzanz und hatte überdies von den Griechen
den Haß gegen die germanisch-romanische Kultur übernommen.

Zunächst freilich war dem Kijewer Reich eine vorübergehende Blüte be-
schieden. Unter Jaroslaw (geht. 1054) erreichte sie ihren Höhepunkt. Damals
erregte Kijew auch die Bewunderung des Westens. Adam von Bremen nannte
Kijew eine Nebenbuhlerin Konstantinopels. Doch auch sür andere Teile seines
Reiches sorgte Jaroslaw. In Nowgorod gründete er z. B. eine Schule für
dreihundert Knaben. Den Einfluß dieser höheren Kultur verraten die ersten
Gesetzesaufzeichnungen (Ruskaja prawda) unter Jaroslaw, die wer.ig später ge¬
schriebenen ersten russischen Chroniken (darunter die allgemein bekannte des
Nestor), ferner das Heldengedicht vom Heereszuge des Fürsten Igor. Kijew
wurde damals der Sammelpunkt der Kaufleute aus dem Westen, Norden und
Süden. Wahrscheinlich setzte schon um diese Zeit die Ansiedlung der Regens¬
burger Kaufleute ein, die wir wenig später nachweisen können. Aber Jaroslaw
selbst begann auch schon die Zerstörung seines Reiches. Man glaubte nun die
Waräger entbehren zu können. Jaroslaw vertrieb sie. konnte aber ohne sie
nichts mehr gegen Konstantinopel ausrichten. Vor allem zeigte es sich, daß
ohne Unterstützung der germanischen Gefolgschaften die Vorherrschaft der Kijewer
Fürsten nicht erhalten werden konnte. Noch war die alte slawische Gewohnheit,
in unabhängigen kleinen Gebieten zu wohnen, nicht überwunden. Es begann
eine wilde Zeit der Thronkämpfe, die auswärtigen Fürsten Veranlassung zum
Eingreifen boten. Der polnische Herzog Boleslaw der Zweite plünderte Kijew
(1069). Rußland zerfiel in der Folge wie Polen in einige Teilfürstentümer.

Von diesen erlangte zunächst Halicz (so genannt nach seinem Hauptort,
davon Galizien) zeitweise größere Bedeutung. Es reichte in der zweiten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts vom Sanfluß (Grenze gegen Polen) bis an die
Donau und schien unter Jaroslaw Osmomysl (demi Achtsinnigen) Kijew ver¬
dunkeln zu wollen. Bald darauf beriefen die unbotmäßigen Adeligen (Bojaren)
den benachbarten Teilfürsten Roman von Wolhynien (nach dem Hauptort
Wladimir-Wolodomir auch Lodomerien genannt) ins Land. Roman vereinigte
Wolhynien, Halicz und das Gebiet von Kijew in seiner Hand. Doch auch dieser
auf ruthenischen Gebiet gelegene Staat hatte keinen Bestand. Nach der starken
Erschütterung durch die Mongoleneinfälle (1223 bis 1241) suchten seine Fürsten
in der Anlehnung an den Westen, in der Verbindung mit dem Papsttum und


Zur ruthenischen Frage

Ein reiches Leben entwickelte sich in den folgenden anderthalb Jahrhunderten.
Am Anfang des zehnten Jahrhunderts scheint bereits ein lebhafter Handel über
Böhmen, Krakau und Galizien nach Kijew und Konstantinopel gegangen zu sein.
Um 960 bestehen schon Beziehungen Kijews zu Otto dem Großen; doch mi߬
langen die Versuche, Rußland für das römische Christentum zu gewinnen. Es
schloß sich (988) unter Wladimir endgültig dem griechischen Glauben an, da
die Verbindung mit Byzanz älter und stärker war. Dadurch wurde Rußland
aller Vorteile der damals noch hochstehenden byzantinischen Kultur teilhaft,
blieb aber dann ebenso zurück wie Byzanz und hatte überdies von den Griechen
den Haß gegen die germanisch-romanische Kultur übernommen.

Zunächst freilich war dem Kijewer Reich eine vorübergehende Blüte be-
schieden. Unter Jaroslaw (geht. 1054) erreichte sie ihren Höhepunkt. Damals
erregte Kijew auch die Bewunderung des Westens. Adam von Bremen nannte
Kijew eine Nebenbuhlerin Konstantinopels. Doch auch sür andere Teile seines
Reiches sorgte Jaroslaw. In Nowgorod gründete er z. B. eine Schule für
dreihundert Knaben. Den Einfluß dieser höheren Kultur verraten die ersten
Gesetzesaufzeichnungen (Ruskaja prawda) unter Jaroslaw, die wer.ig später ge¬
schriebenen ersten russischen Chroniken (darunter die allgemein bekannte des
Nestor), ferner das Heldengedicht vom Heereszuge des Fürsten Igor. Kijew
wurde damals der Sammelpunkt der Kaufleute aus dem Westen, Norden und
Süden. Wahrscheinlich setzte schon um diese Zeit die Ansiedlung der Regens¬
burger Kaufleute ein, die wir wenig später nachweisen können. Aber Jaroslaw
selbst begann auch schon die Zerstörung seines Reiches. Man glaubte nun die
Waräger entbehren zu können. Jaroslaw vertrieb sie. konnte aber ohne sie
nichts mehr gegen Konstantinopel ausrichten. Vor allem zeigte es sich, daß
ohne Unterstützung der germanischen Gefolgschaften die Vorherrschaft der Kijewer
Fürsten nicht erhalten werden konnte. Noch war die alte slawische Gewohnheit,
in unabhängigen kleinen Gebieten zu wohnen, nicht überwunden. Es begann
eine wilde Zeit der Thronkämpfe, die auswärtigen Fürsten Veranlassung zum
Eingreifen boten. Der polnische Herzog Boleslaw der Zweite plünderte Kijew
(1069). Rußland zerfiel in der Folge wie Polen in einige Teilfürstentümer.

Von diesen erlangte zunächst Halicz (so genannt nach seinem Hauptort,
davon Galizien) zeitweise größere Bedeutung. Es reichte in der zweiten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts vom Sanfluß (Grenze gegen Polen) bis an die
Donau und schien unter Jaroslaw Osmomysl (demi Achtsinnigen) Kijew ver¬
dunkeln zu wollen. Bald darauf beriefen die unbotmäßigen Adeligen (Bojaren)
den benachbarten Teilfürsten Roman von Wolhynien (nach dem Hauptort
Wladimir-Wolodomir auch Lodomerien genannt) ins Land. Roman vereinigte
Wolhynien, Halicz und das Gebiet von Kijew in seiner Hand. Doch auch dieser
auf ruthenischen Gebiet gelegene Staat hatte keinen Bestand. Nach der starken
Erschütterung durch die Mongoleneinfälle (1223 bis 1241) suchten seine Fürsten
in der Anlehnung an den Westen, in der Verbindung mit dem Papsttum und


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[0406] Zur ruthenischen Frage Ein reiches Leben entwickelte sich in den folgenden anderthalb Jahrhunderten. Am Anfang des zehnten Jahrhunderts scheint bereits ein lebhafter Handel über Böhmen, Krakau und Galizien nach Kijew und Konstantinopel gegangen zu sein. Um 960 bestehen schon Beziehungen Kijews zu Otto dem Großen; doch mi߬ langen die Versuche, Rußland für das römische Christentum zu gewinnen. Es schloß sich (988) unter Wladimir endgültig dem griechischen Glauben an, da die Verbindung mit Byzanz älter und stärker war. Dadurch wurde Rußland aller Vorteile der damals noch hochstehenden byzantinischen Kultur teilhaft, blieb aber dann ebenso zurück wie Byzanz und hatte überdies von den Griechen den Haß gegen die germanisch-romanische Kultur übernommen. Zunächst freilich war dem Kijewer Reich eine vorübergehende Blüte be- schieden. Unter Jaroslaw (geht. 1054) erreichte sie ihren Höhepunkt. Damals erregte Kijew auch die Bewunderung des Westens. Adam von Bremen nannte Kijew eine Nebenbuhlerin Konstantinopels. Doch auch sür andere Teile seines Reiches sorgte Jaroslaw. In Nowgorod gründete er z. B. eine Schule für dreihundert Knaben. Den Einfluß dieser höheren Kultur verraten die ersten Gesetzesaufzeichnungen (Ruskaja prawda) unter Jaroslaw, die wer.ig später ge¬ schriebenen ersten russischen Chroniken (darunter die allgemein bekannte des Nestor), ferner das Heldengedicht vom Heereszuge des Fürsten Igor. Kijew wurde damals der Sammelpunkt der Kaufleute aus dem Westen, Norden und Süden. Wahrscheinlich setzte schon um diese Zeit die Ansiedlung der Regens¬ burger Kaufleute ein, die wir wenig später nachweisen können. Aber Jaroslaw selbst begann auch schon die Zerstörung seines Reiches. Man glaubte nun die Waräger entbehren zu können. Jaroslaw vertrieb sie. konnte aber ohne sie nichts mehr gegen Konstantinopel ausrichten. Vor allem zeigte es sich, daß ohne Unterstützung der germanischen Gefolgschaften die Vorherrschaft der Kijewer Fürsten nicht erhalten werden konnte. Noch war die alte slawische Gewohnheit, in unabhängigen kleinen Gebieten zu wohnen, nicht überwunden. Es begann eine wilde Zeit der Thronkämpfe, die auswärtigen Fürsten Veranlassung zum Eingreifen boten. Der polnische Herzog Boleslaw der Zweite plünderte Kijew (1069). Rußland zerfiel in der Folge wie Polen in einige Teilfürstentümer. Von diesen erlangte zunächst Halicz (so genannt nach seinem Hauptort, davon Galizien) zeitweise größere Bedeutung. Es reichte in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts vom Sanfluß (Grenze gegen Polen) bis an die Donau und schien unter Jaroslaw Osmomysl (demi Achtsinnigen) Kijew ver¬ dunkeln zu wollen. Bald darauf beriefen die unbotmäßigen Adeligen (Bojaren) den benachbarten Teilfürsten Roman von Wolhynien (nach dem Hauptort Wladimir-Wolodomir auch Lodomerien genannt) ins Land. Roman vereinigte Wolhynien, Halicz und das Gebiet von Kijew in seiner Hand. Doch auch dieser auf ruthenischen Gebiet gelegene Staat hatte keinen Bestand. Nach der starken Erschütterung durch die Mongoleneinfälle (1223 bis 1241) suchten seine Fürsten in der Anlehnung an den Westen, in der Verbindung mit dem Papsttum und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/406>, abgerufen am 23.07.2024.