Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.Zur ruthenischen Frage Professor Dr. Raimund Lriedr. Aaindl von er Herausgeber dieser Zeitschrift hat im fünfundvierzigsten Hefte Die Slawen, die sich über das heutige Rußland ausgebreitet hatten, waren Der Kijewer Staat entwickelte sich, solange der germanische Einfluß anhielt, Zur ruthenischen Frage Professor Dr. Raimund Lriedr. Aaindl von er Herausgeber dieser Zeitschrift hat im fünfundvierzigsten Hefte Die Slawen, die sich über das heutige Rußland ausgebreitet hatten, waren Der Kijewer Staat entwickelte sich, solange der germanische Einfluß anhielt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0405" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330943"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341903_330533/figures/grenzboten_341903_330533_330943_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Zur ruthenischen Frage<lb/><note type="byline"> Professor Dr. Raimund Lriedr. Aaindl</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_1290"> er Herausgeber dieser Zeitschrift hat im fünfundvierzigsten Hefte<lb/> des Jahrgangs 1914 in trefflicher Weise das Problem der Be¬<lb/> freiung der Ukraina von der russischen Herrschaft besprochen. Die<lb/> folgenden Blätter bringen einige weitere Beiträge zur Kenntnis<lb/> der Ruthenen und der ruthenischen Frage. Vorangeht eine kurze<lb/> Darstellung der Geschichte der Ruthenen - Ukrainer. Daran schließen sich Be¬<lb/> merkungen zum ukrainischen Problem, und zwar über die Errichtung einer auto¬<lb/> nomen ruthenischen Provinz in Osterreich. Endlich folgt eine Darlegung der<lb/> Namengebung der Ruthenen, da darüber große Unklarheit herrscht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1291"> Die Slawen, die sich über das heutige Rußland ausgebreitet hatten, waren<lb/> in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in zahlreiche Stämme zerfallen und ver¬<lb/> mochten ebensowenig wie die Finnen aus sich selbst einen Staat zu gründen.<lb/> Das gelang erst den normannischen Wickinger-Warägern, die ebenso wie sie<lb/> ganz West- und Südeuropa raubend, aber auch staatengründend heimsuchten,<lb/> auch Osteuropa auf dem Austrvegr (Dura-Dniepr) bis nach Konstantinopel<lb/> durchzogen. Es ist unzweifelhaft, daß die ersten Staatgründungen der Wickinger<lb/> im nördlichen Rußland unter Finnen und Slawen stattfanden. Eine ihrer<lb/> ältesten Städte war dort Holmgadr oder Nowgorod. Doch wie alle Nord¬<lb/> männer drängten sie gegen Süden, um dem Meere und dem lockenden Buzanz,<lb/> das sie Mikligardr (die große Stadt) nannten, näher zu sein. So entstand<lb/> jedenfalls schon um 850 der Wickingerftaat in Kaenugardr (Kijew). Wegen<lb/> ihrer günstigen Lage wurde diese Stadt unter Oleg (nordisch Helgi) Mittelpunkt<lb/> des Reiches, das von der für die Waräger im Osten üblich gewordenen Be¬<lb/> zeichnung „Ros" seinen Namen erhielt. Der Name ging dann auf alle<lb/> Slawen Osteuropas über. Doch sind die Russen des alten Kijewer Reiches nicht<lb/> wesensgleich mit den heutigen Großrussen; sie sind von ihnen vielmehr in Sprache<lb/> und ethnographischen Eigenschaften verschieden. Auf die Moskowiter haben<lb/> vor allem, wie noch weiter unten gezeigt werden soll, mongolische Einflüsse<lb/> stärker eingewirkt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1292" next="#ID_1293"> Der Kijewer Staat entwickelte sich, solange der germanische Einfluß anhielt,<lb/> sehr glücklich. Schon Oleg beherrschte einen großen Teil des heutigen Rußland,<lb/> besiegte im Südosten die Tataren, zwang im Westen die Chorwaten (die Väter<lb/> der Kleinpolen) in Galizien zur Heerfolge und wurde Konstantinopel gefährlich.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0405]
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Zur ruthenischen Frage
Professor Dr. Raimund Lriedr. Aaindl von
er Herausgeber dieser Zeitschrift hat im fünfundvierzigsten Hefte
des Jahrgangs 1914 in trefflicher Weise das Problem der Be¬
freiung der Ukraina von der russischen Herrschaft besprochen. Die
folgenden Blätter bringen einige weitere Beiträge zur Kenntnis
der Ruthenen und der ruthenischen Frage. Vorangeht eine kurze
Darstellung der Geschichte der Ruthenen - Ukrainer. Daran schließen sich Be¬
merkungen zum ukrainischen Problem, und zwar über die Errichtung einer auto¬
nomen ruthenischen Provinz in Osterreich. Endlich folgt eine Darlegung der
Namengebung der Ruthenen, da darüber große Unklarheit herrscht.
Die Slawen, die sich über das heutige Rußland ausgebreitet hatten, waren
in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in zahlreiche Stämme zerfallen und ver¬
mochten ebensowenig wie die Finnen aus sich selbst einen Staat zu gründen.
Das gelang erst den normannischen Wickinger-Warägern, die ebenso wie sie
ganz West- und Südeuropa raubend, aber auch staatengründend heimsuchten,
auch Osteuropa auf dem Austrvegr (Dura-Dniepr) bis nach Konstantinopel
durchzogen. Es ist unzweifelhaft, daß die ersten Staatgründungen der Wickinger
im nördlichen Rußland unter Finnen und Slawen stattfanden. Eine ihrer
ältesten Städte war dort Holmgadr oder Nowgorod. Doch wie alle Nord¬
männer drängten sie gegen Süden, um dem Meere und dem lockenden Buzanz,
das sie Mikligardr (die große Stadt) nannten, näher zu sein. So entstand
jedenfalls schon um 850 der Wickingerftaat in Kaenugardr (Kijew). Wegen
ihrer günstigen Lage wurde diese Stadt unter Oleg (nordisch Helgi) Mittelpunkt
des Reiches, das von der für die Waräger im Osten üblich gewordenen Be¬
zeichnung „Ros" seinen Namen erhielt. Der Name ging dann auf alle
Slawen Osteuropas über. Doch sind die Russen des alten Kijewer Reiches nicht
wesensgleich mit den heutigen Großrussen; sie sind von ihnen vielmehr in Sprache
und ethnographischen Eigenschaften verschieden. Auf die Moskowiter haben
vor allem, wie noch weiter unten gezeigt werden soll, mongolische Einflüsse
stärker eingewirkt.
Der Kijewer Staat entwickelte sich, solange der germanische Einfluß anhielt,
sehr glücklich. Schon Oleg beherrschte einen großen Teil des heutigen Rußland,
besiegte im Südosten die Tataren, zwang im Westen die Chorwaten (die Väter
der Kleinpolen) in Galizien zur Heerfolge und wurde Konstantinopel gefährlich.
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