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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur ruthenischen Frage

durch deutsche Ansiedelung ihre Herrschaft zu stärken. Damals entstand auch
die nach einem ruthenischen Fürsten genannte Leoburg (Leinburg, Lemberg), die
wenig später schon ein blühendes deutsches Gemeinwesen aufwies. Wenige
Jahrzehnte später besetzte aber Kasimir von Polen Galizien und Wolhynien,
während die Litauer die anderen ruthenischen Länder bis über den Dniepr
(Podolien, Brazlaw und Kijew) an sich rissen. Durch die Vereinigung Litauens
und Polens kamen schließlich auch diese Gebiete an Polen. In dem wenig
kultivierten Litauen vermochten die Ruthenen wegen ihrer verhältnismäßig höheren
Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Das Ruthenische wurde
sogar dort Hof- und Amtssprache. Aber durch die immer engere Verbindung
Litauens mit Polen wurde die Lage der Ruthenen überaus schwierig. Die
Ruthenen galten wegen ihrer Abstammung und Religion als Untertanen ge¬
ringerer Art. Sie waren von verschiedenen Rechten (anfangs z. B. von der
Beteiligung mit deutschem Recht) ausgeschlossen. Selbstverständlich konnten sie
zu Ämtern nicht gelangen. Um der Bedrückung zu entgehen und eine Stellung
zu erringen, mußten die Ruthenen ihre Sprache und orthodoxe Religion auf¬
geben und Polen werden. Das taten auch ihre adeligen Großgrundbesitzer und
wohl alle, die auf Intelligenz Anspruch erhoben. Unerträglich wurde allmählich
der Druck auf die Bauern. Er traf die ruthenischen um so mehr, als diese
auch in ihrem Glauben durch die angestrebte und schließlich 1595 vollzogene
Union bedrückt wurden. Den unerträglichen polnischen Robotverhältnissen ent¬
zogen sich unzählige durch Flucht in die Karpathen, nach Oberungarn, vor allem
aber in die Moldau und in die Ukraine, das Grenzland des Ruthenengebietes
im Südosten.

Hier gelang es den Ruthenen nochmals ein eigenes Staatswesen zu
gründen. Der fortwährende Kriegszustand in der Nachbarschaft der Tataren
zwang die Grenzbewohner, die Ukrainer (Ukraina ---- Grenzland, Mary zu stetem
Kampf. Diese kriegerischen Grenzer nannten sich seit dem Anfang des fünf¬
zehnten Jahrhunderts "Kosaken" (Einrichtung und Namen sind tatarischen Ur¬
sprungs). Sie unterstanden damals den Großgrundbesitzern, die hier weite
Besitzungen erwarben und besiedelten, oder den Starosten des Grenzlandes.
Die polnischen Könige des sechzehnten Jahrhunderts suchten die Kosaken dem
polnischen Staatsorganismus einzufügen. Aber es sollte nur ein Teil als bevor¬
rechtete Krieger aufgenommen ("registriert") werden, die anderen mußten zum
Bauernstand zurückkehren; damit waren die Kosaken nicht einverstanden. Es
kam zu Aufständen, die streng bestraft wurden. Nun flohen zahlreiche Kosaken
auf das linke Dnieprufer, und fo entstanden die Zaporoger Kosaken, deren
Name von ihren unterhalb der "poro^i" (Stromschnellen) des Dniepr gelegenen
Wohnsitzen und Festungen (8it8Lu) herrührt. Bedrückte Ruthenen und andere
Verfemte, die sich zu ihnen gesellten, verstärkten ihre Scharen und besiedelten
immer weiter das Land gegen Osten. So entstand eine Art von demokratischer
Republik unter der Leitung eines Hetman. Ob man dieses Gebilde einen Staat


Zur ruthenischen Frage

durch deutsche Ansiedelung ihre Herrschaft zu stärken. Damals entstand auch
die nach einem ruthenischen Fürsten genannte Leoburg (Leinburg, Lemberg), die
wenig später schon ein blühendes deutsches Gemeinwesen aufwies. Wenige
Jahrzehnte später besetzte aber Kasimir von Polen Galizien und Wolhynien,
während die Litauer die anderen ruthenischen Länder bis über den Dniepr
(Podolien, Brazlaw und Kijew) an sich rissen. Durch die Vereinigung Litauens
und Polens kamen schließlich auch diese Gebiete an Polen. In dem wenig
kultivierten Litauen vermochten die Ruthenen wegen ihrer verhältnismäßig höheren
Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Das Ruthenische wurde
sogar dort Hof- und Amtssprache. Aber durch die immer engere Verbindung
Litauens mit Polen wurde die Lage der Ruthenen überaus schwierig. Die
Ruthenen galten wegen ihrer Abstammung und Religion als Untertanen ge¬
ringerer Art. Sie waren von verschiedenen Rechten (anfangs z. B. von der
Beteiligung mit deutschem Recht) ausgeschlossen. Selbstverständlich konnten sie
zu Ämtern nicht gelangen. Um der Bedrückung zu entgehen und eine Stellung
zu erringen, mußten die Ruthenen ihre Sprache und orthodoxe Religion auf¬
geben und Polen werden. Das taten auch ihre adeligen Großgrundbesitzer und
wohl alle, die auf Intelligenz Anspruch erhoben. Unerträglich wurde allmählich
der Druck auf die Bauern. Er traf die ruthenischen um so mehr, als diese
auch in ihrem Glauben durch die angestrebte und schließlich 1595 vollzogene
Union bedrückt wurden. Den unerträglichen polnischen Robotverhältnissen ent¬
zogen sich unzählige durch Flucht in die Karpathen, nach Oberungarn, vor allem
aber in die Moldau und in die Ukraine, das Grenzland des Ruthenengebietes
im Südosten.

Hier gelang es den Ruthenen nochmals ein eigenes Staatswesen zu
gründen. Der fortwährende Kriegszustand in der Nachbarschaft der Tataren
zwang die Grenzbewohner, die Ukrainer (Ukraina ---- Grenzland, Mary zu stetem
Kampf. Diese kriegerischen Grenzer nannten sich seit dem Anfang des fünf¬
zehnten Jahrhunderts „Kosaken" (Einrichtung und Namen sind tatarischen Ur¬
sprungs). Sie unterstanden damals den Großgrundbesitzern, die hier weite
Besitzungen erwarben und besiedelten, oder den Starosten des Grenzlandes.
Die polnischen Könige des sechzehnten Jahrhunderts suchten die Kosaken dem
polnischen Staatsorganismus einzufügen. Aber es sollte nur ein Teil als bevor¬
rechtete Krieger aufgenommen („registriert") werden, die anderen mußten zum
Bauernstand zurückkehren; damit waren die Kosaken nicht einverstanden. Es
kam zu Aufständen, die streng bestraft wurden. Nun flohen zahlreiche Kosaken
auf das linke Dnieprufer, und fo entstanden die Zaporoger Kosaken, deren
Name von ihren unterhalb der „poro^i" (Stromschnellen) des Dniepr gelegenen
Wohnsitzen und Festungen (8it8Lu) herrührt. Bedrückte Ruthenen und andere
Verfemte, die sich zu ihnen gesellten, verstärkten ihre Scharen und besiedelten
immer weiter das Land gegen Osten. So entstand eine Art von demokratischer
Republik unter der Leitung eines Hetman. Ob man dieses Gebilde einen Staat


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[0407] Zur ruthenischen Frage durch deutsche Ansiedelung ihre Herrschaft zu stärken. Damals entstand auch die nach einem ruthenischen Fürsten genannte Leoburg (Leinburg, Lemberg), die wenig später schon ein blühendes deutsches Gemeinwesen aufwies. Wenige Jahrzehnte später besetzte aber Kasimir von Polen Galizien und Wolhynien, während die Litauer die anderen ruthenischen Länder bis über den Dniepr (Podolien, Brazlaw und Kijew) an sich rissen. Durch die Vereinigung Litauens und Polens kamen schließlich auch diese Gebiete an Polen. In dem wenig kultivierten Litauen vermochten die Ruthenen wegen ihrer verhältnismäßig höheren Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Das Ruthenische wurde sogar dort Hof- und Amtssprache. Aber durch die immer engere Verbindung Litauens mit Polen wurde die Lage der Ruthenen überaus schwierig. Die Ruthenen galten wegen ihrer Abstammung und Religion als Untertanen ge¬ ringerer Art. Sie waren von verschiedenen Rechten (anfangs z. B. von der Beteiligung mit deutschem Recht) ausgeschlossen. Selbstverständlich konnten sie zu Ämtern nicht gelangen. Um der Bedrückung zu entgehen und eine Stellung zu erringen, mußten die Ruthenen ihre Sprache und orthodoxe Religion auf¬ geben und Polen werden. Das taten auch ihre adeligen Großgrundbesitzer und wohl alle, die auf Intelligenz Anspruch erhoben. Unerträglich wurde allmählich der Druck auf die Bauern. Er traf die ruthenischen um so mehr, als diese auch in ihrem Glauben durch die angestrebte und schließlich 1595 vollzogene Union bedrückt wurden. Den unerträglichen polnischen Robotverhältnissen ent¬ zogen sich unzählige durch Flucht in die Karpathen, nach Oberungarn, vor allem aber in die Moldau und in die Ukraine, das Grenzland des Ruthenengebietes im Südosten. Hier gelang es den Ruthenen nochmals ein eigenes Staatswesen zu gründen. Der fortwährende Kriegszustand in der Nachbarschaft der Tataren zwang die Grenzbewohner, die Ukrainer (Ukraina ---- Grenzland, Mary zu stetem Kampf. Diese kriegerischen Grenzer nannten sich seit dem Anfang des fünf¬ zehnten Jahrhunderts „Kosaken" (Einrichtung und Namen sind tatarischen Ur¬ sprungs). Sie unterstanden damals den Großgrundbesitzern, die hier weite Besitzungen erwarben und besiedelten, oder den Starosten des Grenzlandes. Die polnischen Könige des sechzehnten Jahrhunderts suchten die Kosaken dem polnischen Staatsorganismus einzufügen. Aber es sollte nur ein Teil als bevor¬ rechtete Krieger aufgenommen („registriert") werden, die anderen mußten zum Bauernstand zurückkehren; damit waren die Kosaken nicht einverstanden. Es kam zu Aufständen, die streng bestraft wurden. Nun flohen zahlreiche Kosaken auf das linke Dnieprufer, und fo entstanden die Zaporoger Kosaken, deren Name von ihren unterhalb der „poro^i" (Stromschnellen) des Dniepr gelegenen Wohnsitzen und Festungen (8it8Lu) herrührt. Bedrückte Ruthenen und andere Verfemte, die sich zu ihnen gesellten, verstärkten ihre Scharen und besiedelten immer weiter das Land gegen Osten. So entstand eine Art von demokratischer Republik unter der Leitung eines Hetman. Ob man dieses Gebilde einen Staat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/407>, abgerufen am 25.08.2024.