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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Wir und die Chinesen

so kann doch kein Zweifel darüber herrschen, daß trotz aller Nechfertigungs-
gründe, die das östliche Inselreich für sein Vorgehen in Anspruch nimmt, bei
uns in weiten Kreisen tiefe Enttäuschung (oder vielleicht mehr noch: Ent¬
rüstung) über den ostasiatischen Widersacher Deutschlands besteht. Wir haben
das Gefühl, von Japan, das wir auf seinem Entwicklungsgange entscheidend
unterstützt hatten, treulos hintergangen, verraten zu sein. Und Treubruch und
Verrat sind Dinge, die der Deutsche nicht leicht vergeben, geschweige ver¬
gessen kann.

Der Europäer, der zum ersten Male sich einem Kreise von Ostasiaten
gegenübersieht, gebraucht geraume Zeit, um die einzelnen Personen von¬
einander unterscheiden zu lernen. Unsere westlichen Augen sind zu wenig ge¬
schult, um die einzelnen Unterschiede in den ostasiatischen Physiognomien ohne
weiteres zu erfassen. Erst bei näherer Beobachtung merkt man, daß die ein¬
zelnen Individuen sehr verschieden voneinander sind, und daß die landläufige
Meinung: "Sie sehen alle gleich aus" auf Täuschung beruht. Dieser optischen
Täuschung entspricht eine andere. Der den Dingen ferner Stehende ist nur
zu leicht geneigt, den Satz: "Sie sehen alle gleich aus" zu dem Satze zu ver¬
allgemeinern: "Die Ostasiaten sind alle gleich", nämlich ihrem Wesen und
Charakter nach.

Diese Auffassung ist jedoch ein starker, wiederum nur auf unzureichender
Kenntnis beruhender Irrtum, der die Gefahr zu neuen schwerwiegenden Mi߬
verständnissen in sich schließt.

Es wäre für die Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts
nachteiliger, als die Meinung sich verbreiten zu lassen, alle Ostasiaten, das soll
in diesem Falle heißen, die Japaner und die Chinesen, seien nach Wesen und
Charakter gleich. Würde den Chinesen bei uns eine dieser Auffassung ent¬
sprechende Behandlung zuteil, würden wir ihnen hinfort mit dem berechtigten
und starken Mißtrauen begegnen, das wir in Zukunft nach den gemachten Er¬
fahrungen den Japanern entgegenbringen müssen, so würden wir einerseits die
Sympathien eines großen Volkes aufs Spiel setze", das uns heute mit auf¬
richtiger und unverhohlener Bewunderung für Deutschland in seinem ungeheuren
Kampfe gegen eine Welt von Feinden gegenübersteht, und wir würden anderer¬
seits den Chinesen schweres Unrecht zufügen.

Heute ist die Meinung nicht selten, daß im Leben der Völker Sympathien
und Antipathien, Gefühle und Empfindungen keine große Rolle spielen, sondern
lediglich die staatlichen Ideale und vermeintlichen Lebensnotwendigkeiten, die
Macht und die Kraft sich durchzusetzen. Gewiß sind die letzteren dieser Faktoren
stärker als die ersteren, wie ja dieser Krieg nur allzu deutlich erwiesen hat.
Aber das darf uns nicht abhalten, uns Sympathien, die uns entgegengebracht
werden, zu erhalten. Heute mehr denn je. Deutschland war, seitdem es
politisch und wirtschaftlich stark geworden ist, viel gefürchtet, aber wenig beliebt
in der Welt. Nur diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß englische Reuter-


Wir und die Chinesen

so kann doch kein Zweifel darüber herrschen, daß trotz aller Nechfertigungs-
gründe, die das östliche Inselreich für sein Vorgehen in Anspruch nimmt, bei
uns in weiten Kreisen tiefe Enttäuschung (oder vielleicht mehr noch: Ent¬
rüstung) über den ostasiatischen Widersacher Deutschlands besteht. Wir haben
das Gefühl, von Japan, das wir auf seinem Entwicklungsgange entscheidend
unterstützt hatten, treulos hintergangen, verraten zu sein. Und Treubruch und
Verrat sind Dinge, die der Deutsche nicht leicht vergeben, geschweige ver¬
gessen kann.

Der Europäer, der zum ersten Male sich einem Kreise von Ostasiaten
gegenübersieht, gebraucht geraume Zeit, um die einzelnen Personen von¬
einander unterscheiden zu lernen. Unsere westlichen Augen sind zu wenig ge¬
schult, um die einzelnen Unterschiede in den ostasiatischen Physiognomien ohne
weiteres zu erfassen. Erst bei näherer Beobachtung merkt man, daß die ein¬
zelnen Individuen sehr verschieden voneinander sind, und daß die landläufige
Meinung: „Sie sehen alle gleich aus" auf Täuschung beruht. Dieser optischen
Täuschung entspricht eine andere. Der den Dingen ferner Stehende ist nur
zu leicht geneigt, den Satz: „Sie sehen alle gleich aus" zu dem Satze zu ver¬
allgemeinern: „Die Ostasiaten sind alle gleich", nämlich ihrem Wesen und
Charakter nach.

Diese Auffassung ist jedoch ein starker, wiederum nur auf unzureichender
Kenntnis beruhender Irrtum, der die Gefahr zu neuen schwerwiegenden Mi߬
verständnissen in sich schließt.

Es wäre für die Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts
nachteiliger, als die Meinung sich verbreiten zu lassen, alle Ostasiaten, das soll
in diesem Falle heißen, die Japaner und die Chinesen, seien nach Wesen und
Charakter gleich. Würde den Chinesen bei uns eine dieser Auffassung ent¬
sprechende Behandlung zuteil, würden wir ihnen hinfort mit dem berechtigten
und starken Mißtrauen begegnen, das wir in Zukunft nach den gemachten Er¬
fahrungen den Japanern entgegenbringen müssen, so würden wir einerseits die
Sympathien eines großen Volkes aufs Spiel setze», das uns heute mit auf¬
richtiger und unverhohlener Bewunderung für Deutschland in seinem ungeheuren
Kampfe gegen eine Welt von Feinden gegenübersteht, und wir würden anderer¬
seits den Chinesen schweres Unrecht zufügen.

Heute ist die Meinung nicht selten, daß im Leben der Völker Sympathien
und Antipathien, Gefühle und Empfindungen keine große Rolle spielen, sondern
lediglich die staatlichen Ideale und vermeintlichen Lebensnotwendigkeiten, die
Macht und die Kraft sich durchzusetzen. Gewiß sind die letzteren dieser Faktoren
stärker als die ersteren, wie ja dieser Krieg nur allzu deutlich erwiesen hat.
Aber das darf uns nicht abhalten, uns Sympathien, die uns entgegengebracht
werden, zu erhalten. Heute mehr denn je. Deutschland war, seitdem es
politisch und wirtschaftlich stark geworden ist, viel gefürchtet, aber wenig beliebt
in der Welt. Nur diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß englische Reuter-


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[0262] Wir und die Chinesen so kann doch kein Zweifel darüber herrschen, daß trotz aller Nechfertigungs- gründe, die das östliche Inselreich für sein Vorgehen in Anspruch nimmt, bei uns in weiten Kreisen tiefe Enttäuschung (oder vielleicht mehr noch: Ent¬ rüstung) über den ostasiatischen Widersacher Deutschlands besteht. Wir haben das Gefühl, von Japan, das wir auf seinem Entwicklungsgange entscheidend unterstützt hatten, treulos hintergangen, verraten zu sein. Und Treubruch und Verrat sind Dinge, die der Deutsche nicht leicht vergeben, geschweige ver¬ gessen kann. Der Europäer, der zum ersten Male sich einem Kreise von Ostasiaten gegenübersieht, gebraucht geraume Zeit, um die einzelnen Personen von¬ einander unterscheiden zu lernen. Unsere westlichen Augen sind zu wenig ge¬ schult, um die einzelnen Unterschiede in den ostasiatischen Physiognomien ohne weiteres zu erfassen. Erst bei näherer Beobachtung merkt man, daß die ein¬ zelnen Individuen sehr verschieden voneinander sind, und daß die landläufige Meinung: „Sie sehen alle gleich aus" auf Täuschung beruht. Dieser optischen Täuschung entspricht eine andere. Der den Dingen ferner Stehende ist nur zu leicht geneigt, den Satz: „Sie sehen alle gleich aus" zu dem Satze zu ver¬ allgemeinern: „Die Ostasiaten sind alle gleich", nämlich ihrem Wesen und Charakter nach. Diese Auffassung ist jedoch ein starker, wiederum nur auf unzureichender Kenntnis beruhender Irrtum, der die Gefahr zu neuen schwerwiegenden Mi߬ verständnissen in sich schließt. Es wäre für die Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts nachteiliger, als die Meinung sich verbreiten zu lassen, alle Ostasiaten, das soll in diesem Falle heißen, die Japaner und die Chinesen, seien nach Wesen und Charakter gleich. Würde den Chinesen bei uns eine dieser Auffassung ent¬ sprechende Behandlung zuteil, würden wir ihnen hinfort mit dem berechtigten und starken Mißtrauen begegnen, das wir in Zukunft nach den gemachten Er¬ fahrungen den Japanern entgegenbringen müssen, so würden wir einerseits die Sympathien eines großen Volkes aufs Spiel setze», das uns heute mit auf¬ richtiger und unverhohlener Bewunderung für Deutschland in seinem ungeheuren Kampfe gegen eine Welt von Feinden gegenübersteht, und wir würden anderer¬ seits den Chinesen schweres Unrecht zufügen. Heute ist die Meinung nicht selten, daß im Leben der Völker Sympathien und Antipathien, Gefühle und Empfindungen keine große Rolle spielen, sondern lediglich die staatlichen Ideale und vermeintlichen Lebensnotwendigkeiten, die Macht und die Kraft sich durchzusetzen. Gewiß sind die letzteren dieser Faktoren stärker als die ersteren, wie ja dieser Krieg nur allzu deutlich erwiesen hat. Aber das darf uns nicht abhalten, uns Sympathien, die uns entgegengebracht werden, zu erhalten. Heute mehr denn je. Deutschland war, seitdem es politisch und wirtschaftlich stark geworden ist, viel gefürchtet, aber wenig beliebt in der Welt. Nur diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß englische Reuter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/262>, abgerufen am 23.07.2024.