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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

Blüte von Vornehmheit mag der Satz dienen, in dem ein Russe sein Urteil
über die Kapitulation der Engländer in Kul-el-Amara zusammenfaßte: Wenn
es schon eine Schande ist, diesen Taugenichtsen geschieht es gerade recht!

Der infolge der Kriegsenttäuschungen in der Seele des Russen sich an¬
sammelnde Haß, die durch die ewige Mißhandlung durch das Schicksal genährten
Unbilden wenden sich also gegen die, die ihm am nächsten sind, sie reichen
nicht über den Kreis des unmittelbaren Schauens hinaus: aber werden sie sich
darauf beschränken? Werden sie nicht versuchen durchzustoßen zum Sitz des
eigentlichen Urhebers des russischen Mißgeschicks, werden sie bis an den Sitz
des Zarats gelangen? Wird sich aus dem Chaos der heute in der Seele des
Russen dunkel empfundenen Unbilden eine neue große schöpferische Welt los¬
lösen? Mit einem Wort, wird sich das Element der Negation im Feuer der
Niederlagen in ein Element schöpferischer Wiedergeburt verwandeln? Grund¬
sätzlich liegen keine Anzeichen vor. die dem widersprechen. Man muß jedoch
hinzufügen, daß es auch keine Spuren gibt, die dafür sprechen. Die Seele
des Russen hat unter dem Kriegshammer eine mächtige Erschütterung erfahren,
aber ob sie unter ihrer Wucht so aufplatzt, wie das von neuem Leben keimende
Korn oder wie ein tödliches Geschoß -- das bleibt ein Rätsel.

In der politischen Literatur spricht man heute viel von der künftigen
Gestaltung der Koalition. Man spricht davon, daß das gemeinsam ver¬
gossene Blut die gegen die Mittelmächte kümpfenden Staaten zu einem engen
militärisch-wirtschaftlichen Block zusammenschließt. Auf diese Überzeugung stützt
sich die berühmte Antithese Naumanns, die bei Ausbruch des Krieges die
englisch-russische und die mitteleuropäische Welt wie zwei einander feindliche
bewaffnete Lager gegenüberstellte. Die gegenwärtigen Schützengrabenlinien ver¬
dichten sich -- im Lichte dieser Antithese -- zu dauernden Grenzen künftiger
Bündnisse und politischer Konstellationen. Die Gefangenenlager sind für den
Beobachter um so wertvoller, als sie ihn nicht an der Grenze beider Blöcke
abschließen, sondern ihm erlauben, in den Mittelpunkt der Elemente der
Koalition hineinzusehen und gewisse Geheimnisse ihres Baues zu erfassen, die
erst unter ihren Trümmern zum Vorschein kommen. Solange der Bau steht,
ist es schwer, seine schwache Stelle zu erforschen, obwohl er morgen nach einer
Seite zusammenstüizen kann, wo alle dann sehen, an welcher Seite die Katastrophe
des Falles verborgen war. Die von mir gesehenen Gefangenenlager, gleichsam
überfüllt mit Kriegstrümmern, mit Trümmern der Koalition, bilden einen
solchen schwachen Punkt, der unsichtbar und verborgen ist für das Auge im
gemeinsamen Bau und etwa zeigt, nach welcher Seite hin der Bau der
Koalitionsmächte feststeht. von welcher Seite aus er zusammenstürzen wird.
Diese schwache Seite, erraten an den Anzeichen des Verfalls, wird mit beson¬
derer Deutlichkeit sichtbar in der Gemeinschaft der Gefangenen des groß-
britannischen sowie des russischen Reiches. Man könnte sagen, der Krieg habe
beiden Riesen den Bauch geöffnet und das Sekret hervortreten lassen, das sie


Deutschland und die Koalition

Blüte von Vornehmheit mag der Satz dienen, in dem ein Russe sein Urteil
über die Kapitulation der Engländer in Kul-el-Amara zusammenfaßte: Wenn
es schon eine Schande ist, diesen Taugenichtsen geschieht es gerade recht!

Der infolge der Kriegsenttäuschungen in der Seele des Russen sich an¬
sammelnde Haß, die durch die ewige Mißhandlung durch das Schicksal genährten
Unbilden wenden sich also gegen die, die ihm am nächsten sind, sie reichen
nicht über den Kreis des unmittelbaren Schauens hinaus: aber werden sie sich
darauf beschränken? Werden sie nicht versuchen durchzustoßen zum Sitz des
eigentlichen Urhebers des russischen Mißgeschicks, werden sie bis an den Sitz
des Zarats gelangen? Wird sich aus dem Chaos der heute in der Seele des
Russen dunkel empfundenen Unbilden eine neue große schöpferische Welt los¬
lösen? Mit einem Wort, wird sich das Element der Negation im Feuer der
Niederlagen in ein Element schöpferischer Wiedergeburt verwandeln? Grund¬
sätzlich liegen keine Anzeichen vor. die dem widersprechen. Man muß jedoch
hinzufügen, daß es auch keine Spuren gibt, die dafür sprechen. Die Seele
des Russen hat unter dem Kriegshammer eine mächtige Erschütterung erfahren,
aber ob sie unter ihrer Wucht so aufplatzt, wie das von neuem Leben keimende
Korn oder wie ein tödliches Geschoß — das bleibt ein Rätsel.

In der politischen Literatur spricht man heute viel von der künftigen
Gestaltung der Koalition. Man spricht davon, daß das gemeinsam ver¬
gossene Blut die gegen die Mittelmächte kümpfenden Staaten zu einem engen
militärisch-wirtschaftlichen Block zusammenschließt. Auf diese Überzeugung stützt
sich die berühmte Antithese Naumanns, die bei Ausbruch des Krieges die
englisch-russische und die mitteleuropäische Welt wie zwei einander feindliche
bewaffnete Lager gegenüberstellte. Die gegenwärtigen Schützengrabenlinien ver¬
dichten sich — im Lichte dieser Antithese — zu dauernden Grenzen künftiger
Bündnisse und politischer Konstellationen. Die Gefangenenlager sind für den
Beobachter um so wertvoller, als sie ihn nicht an der Grenze beider Blöcke
abschließen, sondern ihm erlauben, in den Mittelpunkt der Elemente der
Koalition hineinzusehen und gewisse Geheimnisse ihres Baues zu erfassen, die
erst unter ihren Trümmern zum Vorschein kommen. Solange der Bau steht,
ist es schwer, seine schwache Stelle zu erforschen, obwohl er morgen nach einer
Seite zusammenstüizen kann, wo alle dann sehen, an welcher Seite die Katastrophe
des Falles verborgen war. Die von mir gesehenen Gefangenenlager, gleichsam
überfüllt mit Kriegstrümmern, mit Trümmern der Koalition, bilden einen
solchen schwachen Punkt, der unsichtbar und verborgen ist für das Auge im
gemeinsamen Bau und etwa zeigt, nach welcher Seite hin der Bau der
Koalitionsmächte feststeht. von welcher Seite aus er zusammenstürzen wird.
Diese schwache Seite, erraten an den Anzeichen des Verfalls, wird mit beson¬
derer Deutlichkeit sichtbar in der Gemeinschaft der Gefangenen des groß-
britannischen sowie des russischen Reiches. Man könnte sagen, der Krieg habe
beiden Riesen den Bauch geöffnet und das Sekret hervortreten lassen, das sie


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[0021] Deutschland und die Koalition Blüte von Vornehmheit mag der Satz dienen, in dem ein Russe sein Urteil über die Kapitulation der Engländer in Kul-el-Amara zusammenfaßte: Wenn es schon eine Schande ist, diesen Taugenichtsen geschieht es gerade recht! Der infolge der Kriegsenttäuschungen in der Seele des Russen sich an¬ sammelnde Haß, die durch die ewige Mißhandlung durch das Schicksal genährten Unbilden wenden sich also gegen die, die ihm am nächsten sind, sie reichen nicht über den Kreis des unmittelbaren Schauens hinaus: aber werden sie sich darauf beschränken? Werden sie nicht versuchen durchzustoßen zum Sitz des eigentlichen Urhebers des russischen Mißgeschicks, werden sie bis an den Sitz des Zarats gelangen? Wird sich aus dem Chaos der heute in der Seele des Russen dunkel empfundenen Unbilden eine neue große schöpferische Welt los¬ lösen? Mit einem Wort, wird sich das Element der Negation im Feuer der Niederlagen in ein Element schöpferischer Wiedergeburt verwandeln? Grund¬ sätzlich liegen keine Anzeichen vor. die dem widersprechen. Man muß jedoch hinzufügen, daß es auch keine Spuren gibt, die dafür sprechen. Die Seele des Russen hat unter dem Kriegshammer eine mächtige Erschütterung erfahren, aber ob sie unter ihrer Wucht so aufplatzt, wie das von neuem Leben keimende Korn oder wie ein tödliches Geschoß — das bleibt ein Rätsel. In der politischen Literatur spricht man heute viel von der künftigen Gestaltung der Koalition. Man spricht davon, daß das gemeinsam ver¬ gossene Blut die gegen die Mittelmächte kümpfenden Staaten zu einem engen militärisch-wirtschaftlichen Block zusammenschließt. Auf diese Überzeugung stützt sich die berühmte Antithese Naumanns, die bei Ausbruch des Krieges die englisch-russische und die mitteleuropäische Welt wie zwei einander feindliche bewaffnete Lager gegenüberstellte. Die gegenwärtigen Schützengrabenlinien ver¬ dichten sich — im Lichte dieser Antithese — zu dauernden Grenzen künftiger Bündnisse und politischer Konstellationen. Die Gefangenenlager sind für den Beobachter um so wertvoller, als sie ihn nicht an der Grenze beider Blöcke abschließen, sondern ihm erlauben, in den Mittelpunkt der Elemente der Koalition hineinzusehen und gewisse Geheimnisse ihres Baues zu erfassen, die erst unter ihren Trümmern zum Vorschein kommen. Solange der Bau steht, ist es schwer, seine schwache Stelle zu erforschen, obwohl er morgen nach einer Seite zusammenstüizen kann, wo alle dann sehen, an welcher Seite die Katastrophe des Falles verborgen war. Die von mir gesehenen Gefangenenlager, gleichsam überfüllt mit Kriegstrümmern, mit Trümmern der Koalition, bilden einen solchen schwachen Punkt, der unsichtbar und verborgen ist für das Auge im gemeinsamen Bau und etwa zeigt, nach welcher Seite hin der Bau der Koalitionsmächte feststeht. von welcher Seite aus er zusammenstürzen wird. Diese schwache Seite, erraten an den Anzeichen des Verfalls, wird mit beson¬ derer Deutlichkeit sichtbar in der Gemeinschaft der Gefangenen des groß- britannischen sowie des russischen Reiches. Man könnte sagen, der Krieg habe beiden Riesen den Bauch geöffnet und das Sekret hervortreten lassen, das sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/21>, abgerufen am 29.06.2024.