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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

von innen zerfraß: das Sekret der Unverdaulichkeit. Wie heroisch auch der
Magen Rußlands war, wieviel auch England verschlang, der Inhalt dieses
Magens überstieg die Verdauungsmöglichleit.

Wenn man diese Bewohner der warmen Länder sieht, die England sür
den Krieg mobilisiert, diese Bürger des Pendschab und Polynesiens oder die
Bewohner der afrikanischen Wüsten die, in ihrem Vaterlande in der Eisenbahn
nicht Zutritt zu der ersten und zweiten Klasse haben, weil diese ausschließlich
für die weißen Beherrscher reserviert sind, und denen man plötzlich die Etikette
der Bruderschaft in dem Kampfe gegen einen unbekannten Feind aufgedrückt
hat, in dem Kampfe um die Ideale der "Gleichheit und Gerechtigkeit", wenn
man diese Mietlinge Englands sieht, so ist zu erkennen, wie wenig Bande des
Herzens und des Interesses, wie wenig Fäden des Vertrauens sie mit der
Historiosophie Chamberlaines und der Politik Asquiths und Greys verbindet.
Durch die Fremdheit des Krieges, für den man sie gewann, oder in den man
sie trieb, empfanden sie die Fremdheit Englands. Ja, noch mehr, sie begannen
die Anormale ihrer Untertanschaft, die Abnormität ihrer Regierung zu empfinden.

Da ist in einem gewissen Lager eine Handvoll Hindus. Sie träumen
von der Rückkehr nach dem Ganges und verfluchen ihre Teilnahme am Kriege;
da ist eine Schar französischer Mohren vom Senegal: sie zittern vor Kälte,
obwohl sie sich Tag und Nacht an den Ofen drücken -- man steht, daß sie
auch nicht mehr ein Tröpflein Blut für die Koalition zu opfern haben. Ver¬
gebens suchen die sie umgebenden Franzosen ihren Enthusiasmus zu wecken,
indem sie sie in meiner Gegenwart als eifrige französische Patrioten präsentieren.
Die "eifrigen französischen Patrioten" schweigen hartnäckig, sie träumen wohl
von ihren Palmenhainen, deren Kokosnüsse für sie größeren Reiz haben, als
die Kokosreden Brianos. Diese schweigenden Mohren waren die rechtschaffendsten
Kulturverteidiger, die ich in dem Koalitionslager traf. Wider Wissen und
Willen haben sie durch ihr Schweigen Zeugnis abgelegt von der tiefen Wahr¬
heit, das die wahre Kultur erst dort anfängt, wo man aufhört mit ihr zu
prahlen.

Während England seine Vasallen mittels des Schillings für den Krieg
anwarb, trieb Nußland seine "Fremdstämmigen" billiger in den Krieg, mittels
der Nagaiw. Die Letten, Litauer, Gruziuier und Rumänen aus Bessarabien,
die Tartaren und Mongolen Sibiriens, haben sich durch den Krieg überzeugt,
daß russischer Untertan sein gerade so viel heißt wie Rußlands Opfer sein.
Ebenso wie England seinen gelben und schwarzen Tributpflichtigen, so bezeugt
auch Rußland den unterjochten Fremdstämmigen freigebig die Bruderschaft,
wenn es ihm schlecht geht. Aber während Rußland uns Polen den privilegierten
Opfern seiner Gewalt, die Etikette der Bruderschaft in dem berühmten Manifest
Nikolai Nikolajewitschs aufgedrückt hat, schreibt es heute den übrigen Opfern
seiner Gewalt, deren Sitze und Länder es noch bedrückt, wenn sie nicht zum
Angriff gehen wollen, dieselbe Etikettte mit dem Feuer der Maschinengewehre


Deutschland und die Koalition

von innen zerfraß: das Sekret der Unverdaulichkeit. Wie heroisch auch der
Magen Rußlands war, wieviel auch England verschlang, der Inhalt dieses
Magens überstieg die Verdauungsmöglichleit.

Wenn man diese Bewohner der warmen Länder sieht, die England sür
den Krieg mobilisiert, diese Bürger des Pendschab und Polynesiens oder die
Bewohner der afrikanischen Wüsten die, in ihrem Vaterlande in der Eisenbahn
nicht Zutritt zu der ersten und zweiten Klasse haben, weil diese ausschließlich
für die weißen Beherrscher reserviert sind, und denen man plötzlich die Etikette
der Bruderschaft in dem Kampfe gegen einen unbekannten Feind aufgedrückt
hat, in dem Kampfe um die Ideale der „Gleichheit und Gerechtigkeit", wenn
man diese Mietlinge Englands sieht, so ist zu erkennen, wie wenig Bande des
Herzens und des Interesses, wie wenig Fäden des Vertrauens sie mit der
Historiosophie Chamberlaines und der Politik Asquiths und Greys verbindet.
Durch die Fremdheit des Krieges, für den man sie gewann, oder in den man
sie trieb, empfanden sie die Fremdheit Englands. Ja, noch mehr, sie begannen
die Anormale ihrer Untertanschaft, die Abnormität ihrer Regierung zu empfinden.

Da ist in einem gewissen Lager eine Handvoll Hindus. Sie träumen
von der Rückkehr nach dem Ganges und verfluchen ihre Teilnahme am Kriege;
da ist eine Schar französischer Mohren vom Senegal: sie zittern vor Kälte,
obwohl sie sich Tag und Nacht an den Ofen drücken — man steht, daß sie
auch nicht mehr ein Tröpflein Blut für die Koalition zu opfern haben. Ver¬
gebens suchen die sie umgebenden Franzosen ihren Enthusiasmus zu wecken,
indem sie sie in meiner Gegenwart als eifrige französische Patrioten präsentieren.
Die „eifrigen französischen Patrioten" schweigen hartnäckig, sie träumen wohl
von ihren Palmenhainen, deren Kokosnüsse für sie größeren Reiz haben, als
die Kokosreden Brianos. Diese schweigenden Mohren waren die rechtschaffendsten
Kulturverteidiger, die ich in dem Koalitionslager traf. Wider Wissen und
Willen haben sie durch ihr Schweigen Zeugnis abgelegt von der tiefen Wahr¬
heit, das die wahre Kultur erst dort anfängt, wo man aufhört mit ihr zu
prahlen.

Während England seine Vasallen mittels des Schillings für den Krieg
anwarb, trieb Nußland seine „Fremdstämmigen" billiger in den Krieg, mittels
der Nagaiw. Die Letten, Litauer, Gruziuier und Rumänen aus Bessarabien,
die Tartaren und Mongolen Sibiriens, haben sich durch den Krieg überzeugt,
daß russischer Untertan sein gerade so viel heißt wie Rußlands Opfer sein.
Ebenso wie England seinen gelben und schwarzen Tributpflichtigen, so bezeugt
auch Rußland den unterjochten Fremdstämmigen freigebig die Bruderschaft,
wenn es ihm schlecht geht. Aber während Rußland uns Polen den privilegierten
Opfern seiner Gewalt, die Etikette der Bruderschaft in dem berühmten Manifest
Nikolai Nikolajewitschs aufgedrückt hat, schreibt es heute den übrigen Opfern
seiner Gewalt, deren Sitze und Länder es noch bedrückt, wenn sie nicht zum
Angriff gehen wollen, dieselbe Etikettte mit dem Feuer der Maschinengewehre


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[0022] Deutschland und die Koalition von innen zerfraß: das Sekret der Unverdaulichkeit. Wie heroisch auch der Magen Rußlands war, wieviel auch England verschlang, der Inhalt dieses Magens überstieg die Verdauungsmöglichleit. Wenn man diese Bewohner der warmen Länder sieht, die England sür den Krieg mobilisiert, diese Bürger des Pendschab und Polynesiens oder die Bewohner der afrikanischen Wüsten die, in ihrem Vaterlande in der Eisenbahn nicht Zutritt zu der ersten und zweiten Klasse haben, weil diese ausschließlich für die weißen Beherrscher reserviert sind, und denen man plötzlich die Etikette der Bruderschaft in dem Kampfe gegen einen unbekannten Feind aufgedrückt hat, in dem Kampfe um die Ideale der „Gleichheit und Gerechtigkeit", wenn man diese Mietlinge Englands sieht, so ist zu erkennen, wie wenig Bande des Herzens und des Interesses, wie wenig Fäden des Vertrauens sie mit der Historiosophie Chamberlaines und der Politik Asquiths und Greys verbindet. Durch die Fremdheit des Krieges, für den man sie gewann, oder in den man sie trieb, empfanden sie die Fremdheit Englands. Ja, noch mehr, sie begannen die Anormale ihrer Untertanschaft, die Abnormität ihrer Regierung zu empfinden. Da ist in einem gewissen Lager eine Handvoll Hindus. Sie träumen von der Rückkehr nach dem Ganges und verfluchen ihre Teilnahme am Kriege; da ist eine Schar französischer Mohren vom Senegal: sie zittern vor Kälte, obwohl sie sich Tag und Nacht an den Ofen drücken — man steht, daß sie auch nicht mehr ein Tröpflein Blut für die Koalition zu opfern haben. Ver¬ gebens suchen die sie umgebenden Franzosen ihren Enthusiasmus zu wecken, indem sie sie in meiner Gegenwart als eifrige französische Patrioten präsentieren. Die „eifrigen französischen Patrioten" schweigen hartnäckig, sie träumen wohl von ihren Palmenhainen, deren Kokosnüsse für sie größeren Reiz haben, als die Kokosreden Brianos. Diese schweigenden Mohren waren die rechtschaffendsten Kulturverteidiger, die ich in dem Koalitionslager traf. Wider Wissen und Willen haben sie durch ihr Schweigen Zeugnis abgelegt von der tiefen Wahr¬ heit, das die wahre Kultur erst dort anfängt, wo man aufhört mit ihr zu prahlen. Während England seine Vasallen mittels des Schillings für den Krieg anwarb, trieb Nußland seine „Fremdstämmigen" billiger in den Krieg, mittels der Nagaiw. Die Letten, Litauer, Gruziuier und Rumänen aus Bessarabien, die Tartaren und Mongolen Sibiriens, haben sich durch den Krieg überzeugt, daß russischer Untertan sein gerade so viel heißt wie Rußlands Opfer sein. Ebenso wie England seinen gelben und schwarzen Tributpflichtigen, so bezeugt auch Rußland den unterjochten Fremdstämmigen freigebig die Bruderschaft, wenn es ihm schlecht geht. Aber während Rußland uns Polen den privilegierten Opfern seiner Gewalt, die Etikette der Bruderschaft in dem berühmten Manifest Nikolai Nikolajewitschs aufgedrückt hat, schreibt es heute den übrigen Opfern seiner Gewalt, deren Sitze und Länder es noch bedrückt, wenn sie nicht zum Angriff gehen wollen, dieselbe Etikettte mit dem Feuer der Maschinengewehre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/22>, abgerufen am 26.06.2024.