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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

Schwelle der Knechtschaft überschreitet, fragt der russische Gefangene nur nach
einem: ob die Suppe im Lager denn auch recht reichlich ist. Dabei kümmert
er sich nicht darum, wie sie ist, er fragt nur wieviel? Für eine ausreichende
Schüssel Suppe ist er bereit, die stärkste Festung zu übergeben. Ich hatte die
Möglichkeit, mit den Verteidigern von Motum, Brest-Litowsk, Grodno und
Ossowiec zu verkehren. Und von allen Seiten erklang es in einem Chor:
die^Hoffnungslosigkeit der Verteidigung und der Wunsch, in der Gefangenschaft
auszuruhen.

Was die Psyche des Russen angeht, so drängt sich jedem eine unabweis¬
bare Frage auf, die Frage, die auf dem Geschick des künftigen Europa mit
furchtbarer Schwere lastet: wie wird der Russe aus diesem Kriege hervorgehen?
Wird seine Psyche teilweise umgestaltet und in welchem Grade und in welcher
Richtung? Mich interessierte vor allem die Frage, wie der Russe angesichts
der Riesenzahl der Beteiligten aus der Gefangenschaft in sein Land zurückkehren
wird. Ob er in das innere Rußland ein Ferment der Wiedergeburt hinein¬
tragen wird oder ein Chaos der Vernichtung oder vielleicht einen glühenden
Fanatismus? Man darf nämlich die große Macht, wie sie die Schule des
Krieges bedeutet, nicht leicht nehmen. Namentlich ein so großer und allgemeiner
Krieg wie der gegenwärtige schreibt sich mit tiefen Spuren in die Seele der
Völker ein.

Wie wird er sich in die Seele des russischen Gefangenen einschreiben?

Vor allem als vertieftes Gefühl seines eigenen Elends. Im Angesicht der
Welt des Westens sah er sich nackt und blind, als ein Opfer seines eigenen
Staates, als Opfer seiner eigenen Offiziere, als Futter für Schrapnelle und
Granaten, als machtlosen körperlichen Riesen, der sich nur so zu verteidigen
versteht wie die Erde, mit dem Widerstand, den eine Scholle nach der
anderen dem Pfluge entgegenstellt. Der Russe fängt in der Gefangenschaft
schon an zu denken, aber weil er ein blinder Mensch ist, tastet er im Finstern.
Indem er den Wohlstand seiner westlichen Verbündeten sieht, denen das Vater¬
land mit unablässigem Gedenken die Gefangenschaft versüßt, fängt der von
feiner eigenen Regierung vernachlässigte und seinem Schicksal überlassene Russe
an, den Engländer zu hassen und von Rache gegen den Franzosen zu glühen
so, wie nur der arme Teufel den reichen Verwandten hassen kann, der sich von
ihm abwendet. Der Russe haßt den Franzosen für jeden Bissen Pastete, den
dieser vor seinen Augen verzehrt. Er haßt ihn wegen der Eleganz seiner Be¬
wegungen und wegen der Anmut seiner Gestalt. Er haßt ihn wegen seines
Paris, wegen seines Wohllebens, wegen seines Humors und Ruhmes und
wegen seines Napoleon, der sich an den Trümmern Moskaus weidete. Ich
möchte einige von den lapidaren cyklopischen Sprüchen anführen, mit denen
der Russe wie mit einem Familiensiegel sein Verhältnis zu den westlichen Ver¬
bündeten stempelt, leider sehe ich, indem ich sie mir im Gedächtnis wiederhole,
daß ich keinen davon verwenden kann: sie sind alle unparlamentarisch. Als


Deutschland und die Koalition

Schwelle der Knechtschaft überschreitet, fragt der russische Gefangene nur nach
einem: ob die Suppe im Lager denn auch recht reichlich ist. Dabei kümmert
er sich nicht darum, wie sie ist, er fragt nur wieviel? Für eine ausreichende
Schüssel Suppe ist er bereit, die stärkste Festung zu übergeben. Ich hatte die
Möglichkeit, mit den Verteidigern von Motum, Brest-Litowsk, Grodno und
Ossowiec zu verkehren. Und von allen Seiten erklang es in einem Chor:
die^Hoffnungslosigkeit der Verteidigung und der Wunsch, in der Gefangenschaft
auszuruhen.

Was die Psyche des Russen angeht, so drängt sich jedem eine unabweis¬
bare Frage auf, die Frage, die auf dem Geschick des künftigen Europa mit
furchtbarer Schwere lastet: wie wird der Russe aus diesem Kriege hervorgehen?
Wird seine Psyche teilweise umgestaltet und in welchem Grade und in welcher
Richtung? Mich interessierte vor allem die Frage, wie der Russe angesichts
der Riesenzahl der Beteiligten aus der Gefangenschaft in sein Land zurückkehren
wird. Ob er in das innere Rußland ein Ferment der Wiedergeburt hinein¬
tragen wird oder ein Chaos der Vernichtung oder vielleicht einen glühenden
Fanatismus? Man darf nämlich die große Macht, wie sie die Schule des
Krieges bedeutet, nicht leicht nehmen. Namentlich ein so großer und allgemeiner
Krieg wie der gegenwärtige schreibt sich mit tiefen Spuren in die Seele der
Völker ein.

Wie wird er sich in die Seele des russischen Gefangenen einschreiben?

Vor allem als vertieftes Gefühl seines eigenen Elends. Im Angesicht der
Welt des Westens sah er sich nackt und blind, als ein Opfer seines eigenen
Staates, als Opfer seiner eigenen Offiziere, als Futter für Schrapnelle und
Granaten, als machtlosen körperlichen Riesen, der sich nur so zu verteidigen
versteht wie die Erde, mit dem Widerstand, den eine Scholle nach der
anderen dem Pfluge entgegenstellt. Der Russe fängt in der Gefangenschaft
schon an zu denken, aber weil er ein blinder Mensch ist, tastet er im Finstern.
Indem er den Wohlstand seiner westlichen Verbündeten sieht, denen das Vater¬
land mit unablässigem Gedenken die Gefangenschaft versüßt, fängt der von
feiner eigenen Regierung vernachlässigte und seinem Schicksal überlassene Russe
an, den Engländer zu hassen und von Rache gegen den Franzosen zu glühen
so, wie nur der arme Teufel den reichen Verwandten hassen kann, der sich von
ihm abwendet. Der Russe haßt den Franzosen für jeden Bissen Pastete, den
dieser vor seinen Augen verzehrt. Er haßt ihn wegen der Eleganz seiner Be¬
wegungen und wegen der Anmut seiner Gestalt. Er haßt ihn wegen seines
Paris, wegen seines Wohllebens, wegen seines Humors und Ruhmes und
wegen seines Napoleon, der sich an den Trümmern Moskaus weidete. Ich
möchte einige von den lapidaren cyklopischen Sprüchen anführen, mit denen
der Russe wie mit einem Familiensiegel sein Verhältnis zu den westlichen Ver¬
bündeten stempelt, leider sehe ich, indem ich sie mir im Gedächtnis wiederhole,
daß ich keinen davon verwenden kann: sie sind alle unparlamentarisch. Als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/20>, abgerufen am 23.07.2024.