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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

Mit nicht minder zarter Fürsorge umgibt den Franzosen sein Vaterland.
Diese Fürsorge geht mehr ins kleine, ist aber nicht weniger bemerkbar. Der
Unterschied in ihr entspricht dem Unterschied in den Charakteren des Egoismus
des Engländers und Franzosen. Der englische Egoismus organisiert Macht
und Herrschaft, der französische Egoismus organisiert Genuß und Bequemlich¬
keit. In den Augen des Engländers spiegeln sich wieder die Horizonte der
fernen Meere und der wilden Steppen, die er durchmessen hat, in den Augen
des Franzosen spiegelt sich nur der am Spieße gedrehte Braten wieder. Der
Franzose kümmert sich um die ganze Welt nicht, denn er braucht nur seinen
eigenen kleinen Winkel am Herd. Es gibt nichts beredteres als dieses kleine
Idyll von Bequemlichkeit und Wohlhabenheit, wie es sich die französischen Ge¬
fangenen auf ihrem harten Gefangenenlager zurechtmachen. Der französische
Gefangene kann monatelang Strohhalme, Federn oder Fasern sammeln, um
sich ein etwas weicheres Kissen für seinen Kopf zu bereiten. Monatelang kann
er in seiner Speisekammer Vorräte aufspeichern, um zu Neujahr oder Ostern
seinen höchsten Göttern, Gaumen und Magen, mit einem Fest aufzu¬
warten.

Das besagt nicht, daß der Franzose in der Gefangenschaft den geistigen
Problemen entfremdet wäre. Er behandelt alle Probleme nur mit dem Organ
des Feinschmeckers. Liebe. Literatur. Kunst, Politik, Nation, Staat. Geschichte
-- das alles würdigt er nur vom Standpunkt des Sattseins, der Bequemlich¬
keit, der Wollust und des Genusses. Gefahr und Risiko sind aus dem Budget
seines Lebens gestrichen und auf das Gebiet des Sports und des Gesellschafts¬
spiels übertragen. Im Gefangenenlager opfert er sogar die sakramentale Idee
der "Revanche". Während in der Pariser Presse unablässig der Ruf nach der
Rückgabe Elsaß-Lothringens ertönt, weckt er unter den Gefangenen nur ein
Achselzucken. "Wir haben auf diese Revanche schon längst verzichtet" erklärte
mir in einer Aufwallung von Aufrichtigkeit ein französischer Patriot. "An
Revanche haben wir im Ernst niemals gedacht, es war das eine literarische
Idee; wir wünschten Frieden und nur Frieden; die Deutschen jedoch, um das
nachbarliche Verhältnis zu vergiften, sagten uns das Verlangen nach Wieder-
gewinnung der verlorenen Provinzen nach; sie drängten Frankreich den Ge¬
danken der Revanche auf, um einen Grund zum Krieg zu schaffen." Aus
diesem Gedankengang schaut wie aus einem Spiegel die kleine gesellte Seele
des französischen "Bourgeois" heraus: die Schädigung des eigenen Vaterlandes
ist in seiner Seele ein blasser Schatten, eine literarische Fiktion geworden, und
was noch seltsamer, das Gefühl dafür beginnt er in seiner eigenen Überzeu¬
gung der Intrigue und Einwirkung des Feindes zuzuschreiben.

Es unterliegt keinem Zweifel: der Franzose fühlte sich schon vor dem
Kriege gelangweilt durch die Großmachtpolitik seines Staates, für die wohl
noch seine Tasche reichte, aber nicht mehr sein Arm, nicht mehr seine Seele.
Nach 1870 warf er die Revanche-Drohung hin, weil das der Hausehre ent-


Deutschland und die Koalition

Mit nicht minder zarter Fürsorge umgibt den Franzosen sein Vaterland.
Diese Fürsorge geht mehr ins kleine, ist aber nicht weniger bemerkbar. Der
Unterschied in ihr entspricht dem Unterschied in den Charakteren des Egoismus
des Engländers und Franzosen. Der englische Egoismus organisiert Macht
und Herrschaft, der französische Egoismus organisiert Genuß und Bequemlich¬
keit. In den Augen des Engländers spiegeln sich wieder die Horizonte der
fernen Meere und der wilden Steppen, die er durchmessen hat, in den Augen
des Franzosen spiegelt sich nur der am Spieße gedrehte Braten wieder. Der
Franzose kümmert sich um die ganze Welt nicht, denn er braucht nur seinen
eigenen kleinen Winkel am Herd. Es gibt nichts beredteres als dieses kleine
Idyll von Bequemlichkeit und Wohlhabenheit, wie es sich die französischen Ge¬
fangenen auf ihrem harten Gefangenenlager zurechtmachen. Der französische
Gefangene kann monatelang Strohhalme, Federn oder Fasern sammeln, um
sich ein etwas weicheres Kissen für seinen Kopf zu bereiten. Monatelang kann
er in seiner Speisekammer Vorräte aufspeichern, um zu Neujahr oder Ostern
seinen höchsten Göttern, Gaumen und Magen, mit einem Fest aufzu¬
warten.

Das besagt nicht, daß der Franzose in der Gefangenschaft den geistigen
Problemen entfremdet wäre. Er behandelt alle Probleme nur mit dem Organ
des Feinschmeckers. Liebe. Literatur. Kunst, Politik, Nation, Staat. Geschichte
— das alles würdigt er nur vom Standpunkt des Sattseins, der Bequemlich¬
keit, der Wollust und des Genusses. Gefahr und Risiko sind aus dem Budget
seines Lebens gestrichen und auf das Gebiet des Sports und des Gesellschafts¬
spiels übertragen. Im Gefangenenlager opfert er sogar die sakramentale Idee
der „Revanche". Während in der Pariser Presse unablässig der Ruf nach der
Rückgabe Elsaß-Lothringens ertönt, weckt er unter den Gefangenen nur ein
Achselzucken. „Wir haben auf diese Revanche schon längst verzichtet" erklärte
mir in einer Aufwallung von Aufrichtigkeit ein französischer Patriot. „An
Revanche haben wir im Ernst niemals gedacht, es war das eine literarische
Idee; wir wünschten Frieden und nur Frieden; die Deutschen jedoch, um das
nachbarliche Verhältnis zu vergiften, sagten uns das Verlangen nach Wieder-
gewinnung der verlorenen Provinzen nach; sie drängten Frankreich den Ge¬
danken der Revanche auf, um einen Grund zum Krieg zu schaffen." Aus
diesem Gedankengang schaut wie aus einem Spiegel die kleine gesellte Seele
des französischen „Bourgeois" heraus: die Schädigung des eigenen Vaterlandes
ist in seiner Seele ein blasser Schatten, eine literarische Fiktion geworden, und
was noch seltsamer, das Gefühl dafür beginnt er in seiner eigenen Überzeu¬
gung der Intrigue und Einwirkung des Feindes zuzuschreiben.

Es unterliegt keinem Zweifel: der Franzose fühlte sich schon vor dem
Kriege gelangweilt durch die Großmachtpolitik seines Staates, für die wohl
noch seine Tasche reichte, aber nicht mehr sein Arm, nicht mehr seine Seele.
Nach 1870 warf er die Revanche-Drohung hin, weil das der Hausehre ent-


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[0017] Deutschland und die Koalition Mit nicht minder zarter Fürsorge umgibt den Franzosen sein Vaterland. Diese Fürsorge geht mehr ins kleine, ist aber nicht weniger bemerkbar. Der Unterschied in ihr entspricht dem Unterschied in den Charakteren des Egoismus des Engländers und Franzosen. Der englische Egoismus organisiert Macht und Herrschaft, der französische Egoismus organisiert Genuß und Bequemlich¬ keit. In den Augen des Engländers spiegeln sich wieder die Horizonte der fernen Meere und der wilden Steppen, die er durchmessen hat, in den Augen des Franzosen spiegelt sich nur der am Spieße gedrehte Braten wieder. Der Franzose kümmert sich um die ganze Welt nicht, denn er braucht nur seinen eigenen kleinen Winkel am Herd. Es gibt nichts beredteres als dieses kleine Idyll von Bequemlichkeit und Wohlhabenheit, wie es sich die französischen Ge¬ fangenen auf ihrem harten Gefangenenlager zurechtmachen. Der französische Gefangene kann monatelang Strohhalme, Federn oder Fasern sammeln, um sich ein etwas weicheres Kissen für seinen Kopf zu bereiten. Monatelang kann er in seiner Speisekammer Vorräte aufspeichern, um zu Neujahr oder Ostern seinen höchsten Göttern, Gaumen und Magen, mit einem Fest aufzu¬ warten. Das besagt nicht, daß der Franzose in der Gefangenschaft den geistigen Problemen entfremdet wäre. Er behandelt alle Probleme nur mit dem Organ des Feinschmeckers. Liebe. Literatur. Kunst, Politik, Nation, Staat. Geschichte — das alles würdigt er nur vom Standpunkt des Sattseins, der Bequemlich¬ keit, der Wollust und des Genusses. Gefahr und Risiko sind aus dem Budget seines Lebens gestrichen und auf das Gebiet des Sports und des Gesellschafts¬ spiels übertragen. Im Gefangenenlager opfert er sogar die sakramentale Idee der „Revanche". Während in der Pariser Presse unablässig der Ruf nach der Rückgabe Elsaß-Lothringens ertönt, weckt er unter den Gefangenen nur ein Achselzucken. „Wir haben auf diese Revanche schon längst verzichtet" erklärte mir in einer Aufwallung von Aufrichtigkeit ein französischer Patriot. „An Revanche haben wir im Ernst niemals gedacht, es war das eine literarische Idee; wir wünschten Frieden und nur Frieden; die Deutschen jedoch, um das nachbarliche Verhältnis zu vergiften, sagten uns das Verlangen nach Wieder- gewinnung der verlorenen Provinzen nach; sie drängten Frankreich den Ge¬ danken der Revanche auf, um einen Grund zum Krieg zu schaffen." Aus diesem Gedankengang schaut wie aus einem Spiegel die kleine gesellte Seele des französischen „Bourgeois" heraus: die Schädigung des eigenen Vaterlandes ist in seiner Seele ein blasser Schatten, eine literarische Fiktion geworden, und was noch seltsamer, das Gefühl dafür beginnt er in seiner eigenen Überzeu¬ gung der Intrigue und Einwirkung des Feindes zuzuschreiben. Es unterliegt keinem Zweifel: der Franzose fühlte sich schon vor dem Kriege gelangweilt durch die Großmachtpolitik seines Staates, für die wohl noch seine Tasche reichte, aber nicht mehr sein Arm, nicht mehr seine Seele. Nach 1870 warf er die Revanche-Drohung hin, weil das der Hausehre ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/17>, abgerufen am 29.06.2024.