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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

Garantien eines Vertrages zu vertrauen, wie die Loyalität dessen anzugreifen,
der ihn bricht. Das Leben der Nationen enthält Forderungen, denen gegen¬
über dieses Vertrauen und dieser Vorwurf als bloße ideologische Konstruktionen
erscheinen, die wohl in ihrem Prinzip lobenswert sein können, aber doch
lächerlich und humbugartig sind." Es ist übrigens seltsam genug, daß man
von belgischer Seite so offen einräumt, wie wenig die garantierte Neutralität
wert ist, man war sich ja dort auch stets darüber klar, daß sie im Falle
eines Krieges von der einen oder der anderen Seite verletzt werden würde --
ja hervorragende Männer, wie zum Beispiel Major Girard, ein hochbegabter
und warmherziger Patriot, der sein ganzes Leben lang dafür kämpfte, die
Zukunft seines Landes zu sichern, erkannten sogar an, daß "die kriegführenden
Mächte das Recht in Anspruch nehmen könnten, durch belgisches Gebiet zu
marschieren" (nämlich zufolge dem geheimen Befestigungsvertrage). Deshalb
scheint der Gedanke, daß sich gerade Belgien und England, die -- nach einer
Kitchener zugeschriebenen Äußerung -- die Maas als ihre östliche Grenze be¬
trachteten, über gewisse militärische Vorbereitungen einigten, wie dies von
deutscher Seite auf Grund der in Brüssel vorgefundenen Papiere behauptet
worden ist, keineswegs unwahrscheinlich. In einem srauzöstschen Buch, das im
Jahre 1911 erschien, "I^a Zuerrs qui vient" von Fran?vis Delaiste, wurde
ebenso ausdrücklich erklärt, daß zwischen England und Frankreich Verhandlungen
über eine Militärkonvention geführt würden, derzufolge Frankreich Truppen
gegen Antwerpen schicken solle, und es hieß darin unter anderem: "Wenn das
Auswärtige Amt in London den Krieg zu beginnen wünscht, werden es seine
Diplomaten so einzurichten verstehen, daß die Verantwortung dem Feinde zur
Last fällt, und wir werden gezwungen sein, König Georg dem Fünften gemäß
einer Defensivkonvention beizustehen."

In England verschließt man also nicht die Augen davor, daß Verträge
in einem gegebenen Augenblick nicht mehr wert sind, als ein Fetzen Papier,
und im Laufe des Krieges ist dies ja auch durch die Tat dokumentiert
worden, sowohl in China durch den Angriff auf Tsingtau, als auch in
Griechenland, obwohl England eine der Mächte war, die die Integrität der
beiden Länder garantiert hatten. Man könnte in diesem Zusammenhang auch
daran erinnern, daß sich England gerade in diesen Tagen gegen die Un¬
verletzlichkeit der Briefpost vergangen hat, obwohl es selbst diese höchst wichtige
Konvention unterzeichnet hat. Die Art und Weise, wie ein Teil der Presse
mit dem geifernden John Bull an der Spitze ruft: "Nieder mit den Neutralen!",
zeugt ja auch nicht gerade von tiefem Respekt vor anderem als sich selbst. Aber
wie natürlich auch solche Stimmen an und für sich sind, so klingen sie doch etwas
illusionsraubend in den gewöhnlichen Engelchor hinein, der aus England selbst mit
seinen Hymnen an England als "dem Beschützer der kleinen Volksstämme" ertönt.

Für neutrale Zuhörer sind solche mißtönende Stimmen lehrreich, denn sie
können, weit besser als die Sirenengesänge, die Kleinstaatvölker darüber be-


Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

Garantien eines Vertrages zu vertrauen, wie die Loyalität dessen anzugreifen,
der ihn bricht. Das Leben der Nationen enthält Forderungen, denen gegen¬
über dieses Vertrauen und dieser Vorwurf als bloße ideologische Konstruktionen
erscheinen, die wohl in ihrem Prinzip lobenswert sein können, aber doch
lächerlich und humbugartig sind." Es ist übrigens seltsam genug, daß man
von belgischer Seite so offen einräumt, wie wenig die garantierte Neutralität
wert ist, man war sich ja dort auch stets darüber klar, daß sie im Falle
eines Krieges von der einen oder der anderen Seite verletzt werden würde —
ja hervorragende Männer, wie zum Beispiel Major Girard, ein hochbegabter
und warmherziger Patriot, der sein ganzes Leben lang dafür kämpfte, die
Zukunft seines Landes zu sichern, erkannten sogar an, daß „die kriegführenden
Mächte das Recht in Anspruch nehmen könnten, durch belgisches Gebiet zu
marschieren" (nämlich zufolge dem geheimen Befestigungsvertrage). Deshalb
scheint der Gedanke, daß sich gerade Belgien und England, die — nach einer
Kitchener zugeschriebenen Äußerung — die Maas als ihre östliche Grenze be¬
trachteten, über gewisse militärische Vorbereitungen einigten, wie dies von
deutscher Seite auf Grund der in Brüssel vorgefundenen Papiere behauptet
worden ist, keineswegs unwahrscheinlich. In einem srauzöstschen Buch, das im
Jahre 1911 erschien, „I^a Zuerrs qui vient" von Fran?vis Delaiste, wurde
ebenso ausdrücklich erklärt, daß zwischen England und Frankreich Verhandlungen
über eine Militärkonvention geführt würden, derzufolge Frankreich Truppen
gegen Antwerpen schicken solle, und es hieß darin unter anderem: „Wenn das
Auswärtige Amt in London den Krieg zu beginnen wünscht, werden es seine
Diplomaten so einzurichten verstehen, daß die Verantwortung dem Feinde zur
Last fällt, und wir werden gezwungen sein, König Georg dem Fünften gemäß
einer Defensivkonvention beizustehen."

In England verschließt man also nicht die Augen davor, daß Verträge
in einem gegebenen Augenblick nicht mehr wert sind, als ein Fetzen Papier,
und im Laufe des Krieges ist dies ja auch durch die Tat dokumentiert
worden, sowohl in China durch den Angriff auf Tsingtau, als auch in
Griechenland, obwohl England eine der Mächte war, die die Integrität der
beiden Länder garantiert hatten. Man könnte in diesem Zusammenhang auch
daran erinnern, daß sich England gerade in diesen Tagen gegen die Un¬
verletzlichkeit der Briefpost vergangen hat, obwohl es selbst diese höchst wichtige
Konvention unterzeichnet hat. Die Art und Weise, wie ein Teil der Presse
mit dem geifernden John Bull an der Spitze ruft: „Nieder mit den Neutralen!",
zeugt ja auch nicht gerade von tiefem Respekt vor anderem als sich selbst. Aber
wie natürlich auch solche Stimmen an und für sich sind, so klingen sie doch etwas
illusionsraubend in den gewöhnlichen Engelchor hinein, der aus England selbst mit
seinen Hymnen an England als „dem Beschützer der kleinen Volksstämme" ertönt.

Für neutrale Zuhörer sind solche mißtönende Stimmen lehrreich, denn sie
können, weit besser als die Sirenengesänge, die Kleinstaatvölker darüber be-


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[0163] Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil Garantien eines Vertrages zu vertrauen, wie die Loyalität dessen anzugreifen, der ihn bricht. Das Leben der Nationen enthält Forderungen, denen gegen¬ über dieses Vertrauen und dieser Vorwurf als bloße ideologische Konstruktionen erscheinen, die wohl in ihrem Prinzip lobenswert sein können, aber doch lächerlich und humbugartig sind." Es ist übrigens seltsam genug, daß man von belgischer Seite so offen einräumt, wie wenig die garantierte Neutralität wert ist, man war sich ja dort auch stets darüber klar, daß sie im Falle eines Krieges von der einen oder der anderen Seite verletzt werden würde — ja hervorragende Männer, wie zum Beispiel Major Girard, ein hochbegabter und warmherziger Patriot, der sein ganzes Leben lang dafür kämpfte, die Zukunft seines Landes zu sichern, erkannten sogar an, daß „die kriegführenden Mächte das Recht in Anspruch nehmen könnten, durch belgisches Gebiet zu marschieren" (nämlich zufolge dem geheimen Befestigungsvertrage). Deshalb scheint der Gedanke, daß sich gerade Belgien und England, die — nach einer Kitchener zugeschriebenen Äußerung — die Maas als ihre östliche Grenze be¬ trachteten, über gewisse militärische Vorbereitungen einigten, wie dies von deutscher Seite auf Grund der in Brüssel vorgefundenen Papiere behauptet worden ist, keineswegs unwahrscheinlich. In einem srauzöstschen Buch, das im Jahre 1911 erschien, „I^a Zuerrs qui vient" von Fran?vis Delaiste, wurde ebenso ausdrücklich erklärt, daß zwischen England und Frankreich Verhandlungen über eine Militärkonvention geführt würden, derzufolge Frankreich Truppen gegen Antwerpen schicken solle, und es hieß darin unter anderem: „Wenn das Auswärtige Amt in London den Krieg zu beginnen wünscht, werden es seine Diplomaten so einzurichten verstehen, daß die Verantwortung dem Feinde zur Last fällt, und wir werden gezwungen sein, König Georg dem Fünften gemäß einer Defensivkonvention beizustehen." In England verschließt man also nicht die Augen davor, daß Verträge in einem gegebenen Augenblick nicht mehr wert sind, als ein Fetzen Papier, und im Laufe des Krieges ist dies ja auch durch die Tat dokumentiert worden, sowohl in China durch den Angriff auf Tsingtau, als auch in Griechenland, obwohl England eine der Mächte war, die die Integrität der beiden Länder garantiert hatten. Man könnte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß sich England gerade in diesen Tagen gegen die Un¬ verletzlichkeit der Briefpost vergangen hat, obwohl es selbst diese höchst wichtige Konvention unterzeichnet hat. Die Art und Weise, wie ein Teil der Presse mit dem geifernden John Bull an der Spitze ruft: „Nieder mit den Neutralen!", zeugt ja auch nicht gerade von tiefem Respekt vor anderem als sich selbst. Aber wie natürlich auch solche Stimmen an und für sich sind, so klingen sie doch etwas illusionsraubend in den gewöhnlichen Engelchor hinein, der aus England selbst mit seinen Hymnen an England als „dem Beschützer der kleinen Volksstämme" ertönt. Für neutrale Zuhörer sind solche mißtönende Stimmen lehrreich, denn sie können, weit besser als die Sirenengesänge, die Kleinstaatvölker darüber be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/163>, abgerufen am 23.07.2024.