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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

völlig veränderten Umständen die Jnnehaltung höchst nachteilig finden könnten,
während dagegen ein Bruch völlig berechtigt erschiene. Wie John Stuart Mill
sich ausdrückt: .Nationen können sich selbst oder andere nicht zu Recht über
einen Zeitraum hinaus verpflichten, über den menschliche Voraussicht sich er¬
strecken kann, da dadurch die bereits in einem gewissen Grade bestehende Ge¬
fahr vermehrt würde, daß die Erfüllung der Verpflichtung durch eine Ver¬
änderung der Umstände entweder unrichtig oder unklug ist/

Die Verletzung eines Vertrages braucht deshalb nicht ein Zeugnis dafür
zu sein, daß die Moral eines Volkes oder einer Regierung auf einem niedrigen
Standpunkt steht. Selbst, wo es sich um Personen handelt, bei denen ein
höherer moralischer Standard vorausgesetzt werden kann, würden wir doch
kaum jemanden tadeln, weil er eine Verpflichtung zurückwies, die sein Urahn
übernahm, selbst wenn sein Vater oder sein Großvater sich an die Erfüllung
gebunden glaubten. . . ."

Mit dieser Auffassung, daß Staatsverträge selbstverständlich nicht für die
Ewigkeit geschlossen sind, steht Mr. Ponsonbn nicht allein. In England
hat sich mehr als ein hervorragender Staatsmann in demselben Sinne aus¬
gesprochen, unter anderem Gladstone, der ausdrücklich erklärte, er könne nicht
zugeben, daß eine Garantie für immer für alle Kontrahenten bindend sei, ohne
Rücksicht darauf, ob die Umstände, die zu dem Zeitpunkt, wo die Verpflichtung
zu erfüllen ist, verändert sind, und er wies in dieser Beziehung auf frühere
Staatsmännner wie die Lords Aberdeen und Palmerston hin; er hätte übrigens
auch auf Wellingtons berühmten Ausspruch anläßlich des englischen Überfalls
auf Kopenhagen im Jahre 1807 verweisen können: "Großbritannien hat nur
das Recht der Selbsterhaltung ausgeübt, das zur Rechtfertigung keiner gelehrten
und verwickelten Erklärungen bedarf!" Mit diesen Worten -- die Dänemark
so teuer zu stehen kamen -- verteidigte der englische Staatsmann in Wirklichkeit
gerade das Prinzip, das man jetzt dem deutschen Reichskanzler zum Vorwurf
macht, nämlich daß Notwehr auch für den Staat alle Gesetze bricht, ebenso
wie dies bei Einzelpersonen der Fall ist. Der hervorragendste englische Völker¬
rechtslehrer Lawrence sagt denn auch in seinem Werk "principles ot inter-
national I^axv3": "daß äußerste Notwendigkeit eine zeitweilige Verletzung
neutralen Gebiets rechtfertigen wird" (extreme neees8it^ >pill ju8til^ a
temporär^ violation ok neutral terntor^). Es ist eigentümlich, daß auch
belgische Rechtsgelehrte diesen Standpunkt vertreten haben. So schrieb der be¬
kannte Professor Rivier aus Brüssel in seinem Lehrbuch des Völkerrechts im
Jahre 1899 über den Notzustand, daß "ein Staat die Souveränität eines
dritten Staates verletzen darf, selbst dann, wenn dieser zu schwach ist, um zu
verhindern, daß sein Gebiet dem dritten Staate als Basis dienen könnte. . . ."
Und im Jahre 1912 schrieb Des Gressonnieres, Advokat bei dem Appellations¬
gericht in Brüssel, in der bedeutungsvollen Schrift "I^a Klsutralite' als la
IZelAique et 8SL Lor8squence8": "Es ist ebenso kindisch, blind auf die


Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

völlig veränderten Umständen die Jnnehaltung höchst nachteilig finden könnten,
während dagegen ein Bruch völlig berechtigt erschiene. Wie John Stuart Mill
sich ausdrückt: .Nationen können sich selbst oder andere nicht zu Recht über
einen Zeitraum hinaus verpflichten, über den menschliche Voraussicht sich er¬
strecken kann, da dadurch die bereits in einem gewissen Grade bestehende Ge¬
fahr vermehrt würde, daß die Erfüllung der Verpflichtung durch eine Ver¬
änderung der Umstände entweder unrichtig oder unklug ist/

Die Verletzung eines Vertrages braucht deshalb nicht ein Zeugnis dafür
zu sein, daß die Moral eines Volkes oder einer Regierung auf einem niedrigen
Standpunkt steht. Selbst, wo es sich um Personen handelt, bei denen ein
höherer moralischer Standard vorausgesetzt werden kann, würden wir doch
kaum jemanden tadeln, weil er eine Verpflichtung zurückwies, die sein Urahn
übernahm, selbst wenn sein Vater oder sein Großvater sich an die Erfüllung
gebunden glaubten. . . ."

Mit dieser Auffassung, daß Staatsverträge selbstverständlich nicht für die
Ewigkeit geschlossen sind, steht Mr. Ponsonbn nicht allein. In England
hat sich mehr als ein hervorragender Staatsmann in demselben Sinne aus¬
gesprochen, unter anderem Gladstone, der ausdrücklich erklärte, er könne nicht
zugeben, daß eine Garantie für immer für alle Kontrahenten bindend sei, ohne
Rücksicht darauf, ob die Umstände, die zu dem Zeitpunkt, wo die Verpflichtung
zu erfüllen ist, verändert sind, und er wies in dieser Beziehung auf frühere
Staatsmännner wie die Lords Aberdeen und Palmerston hin; er hätte übrigens
auch auf Wellingtons berühmten Ausspruch anläßlich des englischen Überfalls
auf Kopenhagen im Jahre 1807 verweisen können: „Großbritannien hat nur
das Recht der Selbsterhaltung ausgeübt, das zur Rechtfertigung keiner gelehrten
und verwickelten Erklärungen bedarf!" Mit diesen Worten — die Dänemark
so teuer zu stehen kamen — verteidigte der englische Staatsmann in Wirklichkeit
gerade das Prinzip, das man jetzt dem deutschen Reichskanzler zum Vorwurf
macht, nämlich daß Notwehr auch für den Staat alle Gesetze bricht, ebenso
wie dies bei Einzelpersonen der Fall ist. Der hervorragendste englische Völker¬
rechtslehrer Lawrence sagt denn auch in seinem Werk „principles ot inter-
national I^axv3": „daß äußerste Notwendigkeit eine zeitweilige Verletzung
neutralen Gebiets rechtfertigen wird" (extreme neees8it^ >pill ju8til^ a
temporär^ violation ok neutral terntor^). Es ist eigentümlich, daß auch
belgische Rechtsgelehrte diesen Standpunkt vertreten haben. So schrieb der be¬
kannte Professor Rivier aus Brüssel in seinem Lehrbuch des Völkerrechts im
Jahre 1899 über den Notzustand, daß „ein Staat die Souveränität eines
dritten Staates verletzen darf, selbst dann, wenn dieser zu schwach ist, um zu
verhindern, daß sein Gebiet dem dritten Staate als Basis dienen könnte. . . ."
Und im Jahre 1912 schrieb Des Gressonnieres, Advokat bei dem Appellations¬
gericht in Brüssel, in der bedeutungsvollen Schrift „I^a Klsutralite' als la
IZelAique et 8SL Lor8squence8": „Es ist ebenso kindisch, blind auf die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/162>, abgerufen am 23.07.2024.