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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

bildeten, die Zukunft Osteuropas gestalten zu können'. Dies ist der Kommentar
der Geschichte zu dem Versuch der Staatsmänner, ihre Länder an die Erfüllung
von Verpflichtungen für immer zu binden, die sie in einem schwierigen Augen¬
blick als Mittel, den Frieden zusammenzuflicken, übernahmen.

Einen neueren und besonders interessanten Fall, in dem von dem Argument
der veränderten Umstände Gebrauch gemacht wurde, wird man in der Haltung
finden, die ein einflußreicher Teil der britischen Presse und gewisse Schriftsteller
im Jahre 1887 einnahmen, als der Durchmarsch deutscher und französischer
Truppen durch Belgien wegen des zwischen den beiden Ländern damals
bestehenden gespannten Verhältnisses in Erwägung gezogen wurde. Damals
wurde angeführt, daß, nachdem alle militärischen Zugänge zwischen den beiden
Ländern gegenseitig geschlossen seien, nur die neutralen Zugänge offen ständen,
und daß dieser Zustand der Dinge erst nach dem Vertrage eingetreten sei, der
die Neutralität Belgiens garantierte. Es sei deshalb für Großbritannien das
richtige Verhalten, den Durchmarsch von Truppen über neutrales Territorium
zu gestatten, vorausgesetzt, daß die Souveränität und Unabhängigkeit respektiert
würde. Wenn an diesem Argument etwas richtig gewesen ist, so war es noch
weit plausibler im Jahre 1914. Aber im letzteren Falle wurde es nicht benutzt,
einfach, weil das Verhältnis Englands zu den in Frage stehenden Mächten
sich verändert hatte.

Es ist also klar, daß es die Rücksicht auf sich selbst ist, die in der Haupt¬
sache die Handlungen der Völker oder richtiger ihrer Regierungen bestimmt, eine
Rücksicht, die im gegebenen Augenblick als eine Frage über Leben und Tod erscheinen
muß. .Veränderte Umstände' können wohl als Vorwand benutzt werden, aber
sie sind wenig dazu geeignet, als Rechtfertigung von den anderen interessierten
Parteien angenommen zu werden, es sei denn, daß auch diese gerne dieselbe
Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen möchten.

Es könnten andere Fälle von Vertragsbrüchen angeführt werden, Ver->
tragsverletzungen, die zum Abbruch der Beziehungen und zum Kriege geführt
haben, Verletzungen, die diplomatische Proteste hervorgerufen haben und Ver¬
letzungen, die mit Schweigen übergangen wurden. Es ist ein Irrtum, zu
glauben, daß die Nation, die für einen Vertragsbruch verantwortlich ist, wie
unverzeihlich ihre Handlungsweise auch anderen Völkern erscheinen mag, not¬
wendigerweise von unehrenhaften und aggressiven Beweggründen aus gehandelt
habe; sie kann ja so handeln, weil sie glaubt, daß die nationale Gefahr, die
die strenge Jnnehaltung nach sich ziehen würde, größer wäre, als das in der
Verletzung eines internationalen Übereinkommens enthaltene Übel. Das
Dilemma, in dem sich eine Nation unter solchen Umständen befindet, kann
auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß Regierungen entweder während
kritischer Verhandlungen über einen Friedensschluß oder in dem Wunsche, bei
einer gegebenen Gelegenheit spezielle Verhältnisse zu schaffen, ihre Länder für
immer verpflichten, ohne zu erwägen, ob nicht künftige Generationen unter


Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil

bildeten, die Zukunft Osteuropas gestalten zu können'. Dies ist der Kommentar
der Geschichte zu dem Versuch der Staatsmänner, ihre Länder an die Erfüllung
von Verpflichtungen für immer zu binden, die sie in einem schwierigen Augen¬
blick als Mittel, den Frieden zusammenzuflicken, übernahmen.

Einen neueren und besonders interessanten Fall, in dem von dem Argument
der veränderten Umstände Gebrauch gemacht wurde, wird man in der Haltung
finden, die ein einflußreicher Teil der britischen Presse und gewisse Schriftsteller
im Jahre 1887 einnahmen, als der Durchmarsch deutscher und französischer
Truppen durch Belgien wegen des zwischen den beiden Ländern damals
bestehenden gespannten Verhältnisses in Erwägung gezogen wurde. Damals
wurde angeführt, daß, nachdem alle militärischen Zugänge zwischen den beiden
Ländern gegenseitig geschlossen seien, nur die neutralen Zugänge offen ständen,
und daß dieser Zustand der Dinge erst nach dem Vertrage eingetreten sei, der
die Neutralität Belgiens garantierte. Es sei deshalb für Großbritannien das
richtige Verhalten, den Durchmarsch von Truppen über neutrales Territorium
zu gestatten, vorausgesetzt, daß die Souveränität und Unabhängigkeit respektiert
würde. Wenn an diesem Argument etwas richtig gewesen ist, so war es noch
weit plausibler im Jahre 1914. Aber im letzteren Falle wurde es nicht benutzt,
einfach, weil das Verhältnis Englands zu den in Frage stehenden Mächten
sich verändert hatte.

Es ist also klar, daß es die Rücksicht auf sich selbst ist, die in der Haupt¬
sache die Handlungen der Völker oder richtiger ihrer Regierungen bestimmt, eine
Rücksicht, die im gegebenen Augenblick als eine Frage über Leben und Tod erscheinen
muß. .Veränderte Umstände' können wohl als Vorwand benutzt werden, aber
sie sind wenig dazu geeignet, als Rechtfertigung von den anderen interessierten
Parteien angenommen zu werden, es sei denn, daß auch diese gerne dieselbe
Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen möchten.

Es könnten andere Fälle von Vertragsbrüchen angeführt werden, Ver->
tragsverletzungen, die zum Abbruch der Beziehungen und zum Kriege geführt
haben, Verletzungen, die diplomatische Proteste hervorgerufen haben und Ver¬
letzungen, die mit Schweigen übergangen wurden. Es ist ein Irrtum, zu
glauben, daß die Nation, die für einen Vertragsbruch verantwortlich ist, wie
unverzeihlich ihre Handlungsweise auch anderen Völkern erscheinen mag, not¬
wendigerweise von unehrenhaften und aggressiven Beweggründen aus gehandelt
habe; sie kann ja so handeln, weil sie glaubt, daß die nationale Gefahr, die
die strenge Jnnehaltung nach sich ziehen würde, größer wäre, als das in der
Verletzung eines internationalen Übereinkommens enthaltene Übel. Das
Dilemma, in dem sich eine Nation unter solchen Umständen befindet, kann
auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß Regierungen entweder während
kritischer Verhandlungen über einen Friedensschluß oder in dem Wunsche, bei
einer gegebenen Gelegenheit spezielle Verhältnisse zu schaffen, ihre Länder für
immer verpflichten, ohne zu erwägen, ob nicht künftige Generationen unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/161>, abgerufen am 23.07.2024.