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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Philosophie der Gegenwart

konnte, lange ehe er als Neuheit aus Amerika eingeführt wurde. -- Oesterreich
unterscheidet innerhalb der an Kant anknüpfenden Philosophie sechs Richtungen:
1. die physiologische Gruppe, die er durch Namen wie Helmholtz und F. A.
Lange bezeichnet, 2. die metaphysische Gruppe, wozu Liebmann und Volkelt
gerechnet werden, 3. die realistische, die von Recht und neuerdings in eigen¬
artigerer und modernerer Weise von Külpe vertreten wird, 4. die logizistisch-
methodologische Richtung, die in Marburg vor allem gelehrt wird und in
Cohen, Natorp und Cassterer ihre Hauptvertreter hat. 5. der werttheoretische
Kritizismus, der von Windelband und Rickert, in andrer Weise auch von
Münsterberg, gelehrt wird und 6. die relativistische Umbiegung des Kritizismus
durch Simmel.

Neben diesen Schulen aber sind noch andere erblüht und zu Ansehen ge¬
langt. So würdigt Oesterreich -- wie uns scheint etwas über Gebühr -- die
Philosophie Husserls. Als Synthese der Psychologie und der reinen Logik
stellt sich die Philosophie von Theodor Lipps dar, und auch die "Gegenstands¬
theorie" Meinongs wird vom Verfasser in einem besonderen Paragraphen be¬
handelt. Dabei gibt das besondere Interesse Oesterreichs für diese Denker (bei
aller angestrebten Objektivität) denselben ein etwas größeres Schwergewicht,
als es denjenigen gut scheinen mag, die den Positivismus in seinen verschiedenen
Formen höher bewerten, als das Oesterreich tut.

Aber auch an die im Gegensatz zu den Naturwissenschaften sich organi¬
sierenden "Geisteswissenschaften" knüpfen die Philosophen an. Zu größten
äußeren Wirkungen gelangte die glänzende Kulturphilosophie Nietzsches. In
engerem Kreise, aber ebenfalls in stetigem Fortschritt, setzen sich die Weltbilder
Diltheys und Euckens durch.

Selbst damit jedoch ist der Überblick über die neueren Denkrichtungen nicht
erschöpft: der Neuthomismus knüpft an die Scholastik an; aus der Erforschung
der organischen Natur erwuchs der (von Oesterreich aus äußeren Gründen sehr
knapp behandelte) Neovitalismus, ebenso wie auch die protestantische Theologie
sich philosophisch auszudrücken strebt.

Alle diese sich widersprechenden und bekämpfenden Tendenzen werden bei
Oesterreich kurz und treffend charakterisiert und durch Anweisung von Literatur
für genaueres Studium trefflich erläutert.




Was aber bleibt uns als Gesamteindruck, wenn man diese Fülle von ver¬
schiedenen und miteinander hadernden philosophischen Lehren hat an sich vorüber¬
ziehen lassen? Ist es nicht das Chaos? Und bleibt nicht Skeptizismus als
einziger Ausweg? Haben nicht jene recht, die mit verächtlichem Achselzucken
alle Philosophie als Torheit abtun und durch den Hinweis auf die Widersprüche
und Gegensätze innerhalb derselben ihre Skepsis rechtfertigen?

Wir glauben, daß eine solche Skepsis das Wesen der Philosophie verkennt.
Nicht derjenige hat recht, der in den verschiedenen Formen der Philosophie


Die Philosophie der Gegenwart

konnte, lange ehe er als Neuheit aus Amerika eingeführt wurde. — Oesterreich
unterscheidet innerhalb der an Kant anknüpfenden Philosophie sechs Richtungen:
1. die physiologische Gruppe, die er durch Namen wie Helmholtz und F. A.
Lange bezeichnet, 2. die metaphysische Gruppe, wozu Liebmann und Volkelt
gerechnet werden, 3. die realistische, die von Recht und neuerdings in eigen¬
artigerer und modernerer Weise von Külpe vertreten wird, 4. die logizistisch-
methodologische Richtung, die in Marburg vor allem gelehrt wird und in
Cohen, Natorp und Cassterer ihre Hauptvertreter hat. 5. der werttheoretische
Kritizismus, der von Windelband und Rickert, in andrer Weise auch von
Münsterberg, gelehrt wird und 6. die relativistische Umbiegung des Kritizismus
durch Simmel.

Neben diesen Schulen aber sind noch andere erblüht und zu Ansehen ge¬
langt. So würdigt Oesterreich — wie uns scheint etwas über Gebühr — die
Philosophie Husserls. Als Synthese der Psychologie und der reinen Logik
stellt sich die Philosophie von Theodor Lipps dar, und auch die „Gegenstands¬
theorie" Meinongs wird vom Verfasser in einem besonderen Paragraphen be¬
handelt. Dabei gibt das besondere Interesse Oesterreichs für diese Denker (bei
aller angestrebten Objektivität) denselben ein etwas größeres Schwergewicht,
als es denjenigen gut scheinen mag, die den Positivismus in seinen verschiedenen
Formen höher bewerten, als das Oesterreich tut.

Aber auch an die im Gegensatz zu den Naturwissenschaften sich organi¬
sierenden „Geisteswissenschaften" knüpfen die Philosophen an. Zu größten
äußeren Wirkungen gelangte die glänzende Kulturphilosophie Nietzsches. In
engerem Kreise, aber ebenfalls in stetigem Fortschritt, setzen sich die Weltbilder
Diltheys und Euckens durch.

Selbst damit jedoch ist der Überblick über die neueren Denkrichtungen nicht
erschöpft: der Neuthomismus knüpft an die Scholastik an; aus der Erforschung
der organischen Natur erwuchs der (von Oesterreich aus äußeren Gründen sehr
knapp behandelte) Neovitalismus, ebenso wie auch die protestantische Theologie
sich philosophisch auszudrücken strebt.

Alle diese sich widersprechenden und bekämpfenden Tendenzen werden bei
Oesterreich kurz und treffend charakterisiert und durch Anweisung von Literatur
für genaueres Studium trefflich erläutert.




Was aber bleibt uns als Gesamteindruck, wenn man diese Fülle von ver¬
schiedenen und miteinander hadernden philosophischen Lehren hat an sich vorüber¬
ziehen lassen? Ist es nicht das Chaos? Und bleibt nicht Skeptizismus als
einziger Ausweg? Haben nicht jene recht, die mit verächtlichem Achselzucken
alle Philosophie als Torheit abtun und durch den Hinweis auf die Widersprüche
und Gegensätze innerhalb derselben ihre Skepsis rechtfertigen?

Wir glauben, daß eine solche Skepsis das Wesen der Philosophie verkennt.
Nicht derjenige hat recht, der in den verschiedenen Formen der Philosophie


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[0425] Die Philosophie der Gegenwart konnte, lange ehe er als Neuheit aus Amerika eingeführt wurde. — Oesterreich unterscheidet innerhalb der an Kant anknüpfenden Philosophie sechs Richtungen: 1. die physiologische Gruppe, die er durch Namen wie Helmholtz und F. A. Lange bezeichnet, 2. die metaphysische Gruppe, wozu Liebmann und Volkelt gerechnet werden, 3. die realistische, die von Recht und neuerdings in eigen¬ artigerer und modernerer Weise von Külpe vertreten wird, 4. die logizistisch- methodologische Richtung, die in Marburg vor allem gelehrt wird und in Cohen, Natorp und Cassterer ihre Hauptvertreter hat. 5. der werttheoretische Kritizismus, der von Windelband und Rickert, in andrer Weise auch von Münsterberg, gelehrt wird und 6. die relativistische Umbiegung des Kritizismus durch Simmel. Neben diesen Schulen aber sind noch andere erblüht und zu Ansehen ge¬ langt. So würdigt Oesterreich — wie uns scheint etwas über Gebühr — die Philosophie Husserls. Als Synthese der Psychologie und der reinen Logik stellt sich die Philosophie von Theodor Lipps dar, und auch die „Gegenstands¬ theorie" Meinongs wird vom Verfasser in einem besonderen Paragraphen be¬ handelt. Dabei gibt das besondere Interesse Oesterreichs für diese Denker (bei aller angestrebten Objektivität) denselben ein etwas größeres Schwergewicht, als es denjenigen gut scheinen mag, die den Positivismus in seinen verschiedenen Formen höher bewerten, als das Oesterreich tut. Aber auch an die im Gegensatz zu den Naturwissenschaften sich organi¬ sierenden „Geisteswissenschaften" knüpfen die Philosophen an. Zu größten äußeren Wirkungen gelangte die glänzende Kulturphilosophie Nietzsches. In engerem Kreise, aber ebenfalls in stetigem Fortschritt, setzen sich die Weltbilder Diltheys und Euckens durch. Selbst damit jedoch ist der Überblick über die neueren Denkrichtungen nicht erschöpft: der Neuthomismus knüpft an die Scholastik an; aus der Erforschung der organischen Natur erwuchs der (von Oesterreich aus äußeren Gründen sehr knapp behandelte) Neovitalismus, ebenso wie auch die protestantische Theologie sich philosophisch auszudrücken strebt. Alle diese sich widersprechenden und bekämpfenden Tendenzen werden bei Oesterreich kurz und treffend charakterisiert und durch Anweisung von Literatur für genaueres Studium trefflich erläutert. Was aber bleibt uns als Gesamteindruck, wenn man diese Fülle von ver¬ schiedenen und miteinander hadernden philosophischen Lehren hat an sich vorüber¬ ziehen lassen? Ist es nicht das Chaos? Und bleibt nicht Skeptizismus als einziger Ausweg? Haben nicht jene recht, die mit verächtlichem Achselzucken alle Philosophie als Torheit abtun und durch den Hinweis auf die Widersprüche und Gegensätze innerhalb derselben ihre Skepsis rechtfertigen? Wir glauben, daß eine solche Skepsis das Wesen der Philosophie verkennt. Nicht derjenige hat recht, der in den verschiedenen Formen der Philosophie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/425>, abgerufen am 28.07.2024.