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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Philosophie der Gegenwart

geben, nein, eine schier unübersehbare Fülle von Literatur ermöglicht es jedem,
auf eigene Faust sich Wege zu sichern in dem Labyrinth des modernen Denkens.

Oesterreich zeigt zunächst, unter welchen äußeren Umständen die Neu¬
belebung der Philosophie stattfand. Er weist nach, wie die auf "Wirklichkeit"
gerichtete Tendenz unsres staatlichen, sozialen, wirtschaftlichen Lebens, wie ferner
die Naturwissenschaften und ihr Einfluß einer Entwicklung philosophischer
Systematik entgegenstanden. Gewiß auch jene Tendenzen schufen sich ihre
Weltanschauung, besonders unter Ausnutzung des Entwicklungsgedanlens. als
"Materialismus" und später "Monismus". Indessen die Philosophie im
eigentlichen Sinne ging andre Wege. Sie versuchte es einerseits mit einer
Synthese zwischen den realistischen Zeitinstinkten und einer allgemeinen Welt¬
anschauung: indessen der bedeutendste derartige Versuch, das System Wundes,
hat doch nicht ganz befriedigt. So beging man einen andern Weg, indem man
der Philosophie ein besonderes Gebiet anwies, wo sie sich entfalten konnte,
ohne mit den andern Wissenschaften in Konflikt zu kommen. Die Erkenntnis¬
theorie wird das zentrale Gebiet philosophischen Denkens. Aber auch auf
diesem engeren Felde bekämpfen sich die Richtungen.

Oesterreich unterscheidet zunächst zwei große Gruppen dieser Erkenntnis¬
theoretiker: die "Wirklichkeitsphilosophen" und die an Kant sich anlehnenden
Denker, die er als "Neukantianer und Neukritizisten" zusammenfaßt.

Unter den Wirklichkeitsphilosophen werden wieder vier Richtungen unter¬
schieden: 1. der Positivismus, als dessen Vertreter Laas, Jott und Dühring
aufgeführt werden, 2. der Empiriokritizismus, mit welchem ebenso unschönen
wie uncharakteristischen Namen, der sich leider eingebürgert hat und der daher
auch von Oesterreich übernommen ist, man die Philosophie von Richard Avenarius,
Mach, Petzolds u. a. bezeichnet, 3. die den vorigen Denkern nahestehende
Jmmanenzphilosophie Schuppes, und letzthin 4. der idealistische Positivismus
Vaihingers, den man vielleicht bezeichnender noch als "Fiktionismus" charak¬
terisieren würde, eine Richtung, die ihrerseits sich dem auch in Deutschland
wirksam gewordenen Pragmatismus der Amerikaner nähert und als "Philosophie
des Als-Ob" neuerdings mit Recht das größte Aufsehen gemacht hat.

Neben diesen, meist auf dem Boden der modernen Naturwissenschaft er¬
wachsenen Richtungen, stehen dann alle jenen, die an Kant anknüpfen oder
wenigstens seinen Namen im Munde führen. Denn das Merkwürdige ist:
trotz des gleichen Ausgangspunktes entfernen sich auch diese Richtungen soweit
voneinander, wie es nur möglich ist, sodaß wir auf dem Boden des Kantianis-
mus fast sämtliche Richtungen des philosophischen Denkens überhaupt -- vom
Positivismus bis zum abstrakten Idealismus wiederfinden. Wie seltsam ver¬
schlungen die Wege des modernen Denkens dabei sind, geht ferner wiederum
aus der Tatsache hervor, daß auch Positivisten wie Vaihinger sich auf Kant
berufen dürfen, und daß andererseits der von Kant ausgehende Simmel (wie
übrigens schon vor ihm Nietzsche) in Deutschland den Pragmatismus vertreten


Die Philosophie der Gegenwart

geben, nein, eine schier unübersehbare Fülle von Literatur ermöglicht es jedem,
auf eigene Faust sich Wege zu sichern in dem Labyrinth des modernen Denkens.

Oesterreich zeigt zunächst, unter welchen äußeren Umständen die Neu¬
belebung der Philosophie stattfand. Er weist nach, wie die auf „Wirklichkeit"
gerichtete Tendenz unsres staatlichen, sozialen, wirtschaftlichen Lebens, wie ferner
die Naturwissenschaften und ihr Einfluß einer Entwicklung philosophischer
Systematik entgegenstanden. Gewiß auch jene Tendenzen schufen sich ihre
Weltanschauung, besonders unter Ausnutzung des Entwicklungsgedanlens. als
„Materialismus" und später „Monismus". Indessen die Philosophie im
eigentlichen Sinne ging andre Wege. Sie versuchte es einerseits mit einer
Synthese zwischen den realistischen Zeitinstinkten und einer allgemeinen Welt¬
anschauung: indessen der bedeutendste derartige Versuch, das System Wundes,
hat doch nicht ganz befriedigt. So beging man einen andern Weg, indem man
der Philosophie ein besonderes Gebiet anwies, wo sie sich entfalten konnte,
ohne mit den andern Wissenschaften in Konflikt zu kommen. Die Erkenntnis¬
theorie wird das zentrale Gebiet philosophischen Denkens. Aber auch auf
diesem engeren Felde bekämpfen sich die Richtungen.

Oesterreich unterscheidet zunächst zwei große Gruppen dieser Erkenntnis¬
theoretiker: die „Wirklichkeitsphilosophen" und die an Kant sich anlehnenden
Denker, die er als „Neukantianer und Neukritizisten" zusammenfaßt.

Unter den Wirklichkeitsphilosophen werden wieder vier Richtungen unter¬
schieden: 1. der Positivismus, als dessen Vertreter Laas, Jott und Dühring
aufgeführt werden, 2. der Empiriokritizismus, mit welchem ebenso unschönen
wie uncharakteristischen Namen, der sich leider eingebürgert hat und der daher
auch von Oesterreich übernommen ist, man die Philosophie von Richard Avenarius,
Mach, Petzolds u. a. bezeichnet, 3. die den vorigen Denkern nahestehende
Jmmanenzphilosophie Schuppes, und letzthin 4. der idealistische Positivismus
Vaihingers, den man vielleicht bezeichnender noch als „Fiktionismus" charak¬
terisieren würde, eine Richtung, die ihrerseits sich dem auch in Deutschland
wirksam gewordenen Pragmatismus der Amerikaner nähert und als „Philosophie
des Als-Ob" neuerdings mit Recht das größte Aufsehen gemacht hat.

Neben diesen, meist auf dem Boden der modernen Naturwissenschaft er¬
wachsenen Richtungen, stehen dann alle jenen, die an Kant anknüpfen oder
wenigstens seinen Namen im Munde führen. Denn das Merkwürdige ist:
trotz des gleichen Ausgangspunktes entfernen sich auch diese Richtungen soweit
voneinander, wie es nur möglich ist, sodaß wir auf dem Boden des Kantianis-
mus fast sämtliche Richtungen des philosophischen Denkens überhaupt — vom
Positivismus bis zum abstrakten Idealismus wiederfinden. Wie seltsam ver¬
schlungen die Wege des modernen Denkens dabei sind, geht ferner wiederum
aus der Tatsache hervor, daß auch Positivisten wie Vaihinger sich auf Kant
berufen dürfen, und daß andererseits der von Kant ausgehende Simmel (wie
übrigens schon vor ihm Nietzsche) in Deutschland den Pragmatismus vertreten


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[0424] Die Philosophie der Gegenwart geben, nein, eine schier unübersehbare Fülle von Literatur ermöglicht es jedem, auf eigene Faust sich Wege zu sichern in dem Labyrinth des modernen Denkens. Oesterreich zeigt zunächst, unter welchen äußeren Umständen die Neu¬ belebung der Philosophie stattfand. Er weist nach, wie die auf „Wirklichkeit" gerichtete Tendenz unsres staatlichen, sozialen, wirtschaftlichen Lebens, wie ferner die Naturwissenschaften und ihr Einfluß einer Entwicklung philosophischer Systematik entgegenstanden. Gewiß auch jene Tendenzen schufen sich ihre Weltanschauung, besonders unter Ausnutzung des Entwicklungsgedanlens. als „Materialismus" und später „Monismus". Indessen die Philosophie im eigentlichen Sinne ging andre Wege. Sie versuchte es einerseits mit einer Synthese zwischen den realistischen Zeitinstinkten und einer allgemeinen Welt¬ anschauung: indessen der bedeutendste derartige Versuch, das System Wundes, hat doch nicht ganz befriedigt. So beging man einen andern Weg, indem man der Philosophie ein besonderes Gebiet anwies, wo sie sich entfalten konnte, ohne mit den andern Wissenschaften in Konflikt zu kommen. Die Erkenntnis¬ theorie wird das zentrale Gebiet philosophischen Denkens. Aber auch auf diesem engeren Felde bekämpfen sich die Richtungen. Oesterreich unterscheidet zunächst zwei große Gruppen dieser Erkenntnis¬ theoretiker: die „Wirklichkeitsphilosophen" und die an Kant sich anlehnenden Denker, die er als „Neukantianer und Neukritizisten" zusammenfaßt. Unter den Wirklichkeitsphilosophen werden wieder vier Richtungen unter¬ schieden: 1. der Positivismus, als dessen Vertreter Laas, Jott und Dühring aufgeführt werden, 2. der Empiriokritizismus, mit welchem ebenso unschönen wie uncharakteristischen Namen, der sich leider eingebürgert hat und der daher auch von Oesterreich übernommen ist, man die Philosophie von Richard Avenarius, Mach, Petzolds u. a. bezeichnet, 3. die den vorigen Denkern nahestehende Jmmanenzphilosophie Schuppes, und letzthin 4. der idealistische Positivismus Vaihingers, den man vielleicht bezeichnender noch als „Fiktionismus" charak¬ terisieren würde, eine Richtung, die ihrerseits sich dem auch in Deutschland wirksam gewordenen Pragmatismus der Amerikaner nähert und als „Philosophie des Als-Ob" neuerdings mit Recht das größte Aufsehen gemacht hat. Neben diesen, meist auf dem Boden der modernen Naturwissenschaft er¬ wachsenen Richtungen, stehen dann alle jenen, die an Kant anknüpfen oder wenigstens seinen Namen im Munde führen. Denn das Merkwürdige ist: trotz des gleichen Ausgangspunktes entfernen sich auch diese Richtungen soweit voneinander, wie es nur möglich ist, sodaß wir auf dem Boden des Kantianis- mus fast sämtliche Richtungen des philosophischen Denkens überhaupt — vom Positivismus bis zum abstrakten Idealismus wiederfinden. Wie seltsam ver¬ schlungen die Wege des modernen Denkens dabei sind, geht ferner wiederum aus der Tatsache hervor, daß auch Positivisten wie Vaihinger sich auf Kant berufen dürfen, und daß andererseits der von Kant ausgehende Simmel (wie übrigens schon vor ihm Nietzsche) in Deutschland den Pragmatismus vertreten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/424>, abgerufen am 01.09.2024.