Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Philosophie der Gegenwart

noch der Einblick in dieses oder jenes zufällig an ihn herangelangte Werk eines
modernen Philosophieprofessors kommt. Einen wirklichen Überblick über die
ganze Weite des Gebiets mit den unzähligen Strömungen und Gegenströmungen
haben die wenigsten, selbst diejenigen vielfach nicht, die als Fachleute an unseren
Hochschulen lehren. Selbst diese ziehen es vielfach vor, mit den geprägten
Formen historisch gewordener Systeme, zu operieren, statt sich in das unruhig
brodelnde Gewirr der gegenwärtigen Denkkämpfe zu wagen.

Verständlich ist es, besonders beim Laien, der nicht seine ganze Arbeits¬
kraft auf die Bewältigung philosophischer Gedankenmassen werfen kann. Ein
solcher hat, wenn er von ferne der Arena der philosophischen Gedankenkämpse
naht, den Eindruck eines wilden Chaos. Keine alles überragende Persönlichkeit
zwingt ihn in ihren Bann, wohl aber hört er die Stimmen unzähliger echter
und auch falscher Propheten, die sich gegenseitig befehden. Und nicht einmal die
staatlich beglaubigte Autorität der Philosophieprofessoren gilt mehr als ent¬
scheidend; denn gerade diese ist von den einflußreichsten Philosophen selber,
Schopenhauer und Nietzsche an der Spitze, stark untergraben. Und doch wird
zweifellos viel echte Arbeit geleistet, zweifellos sind auch in neuester Zeit echte
Werte gehoben, zweifellos zeugt gerade das gärende Chaos dafür, daß starke
Kräfte am Werke sind. Und darum wird mit Recht mancher verlangend nach
einem Führer ausschauen, der ihn ruhig und objektiv zu leiten vermöchte unter
dieser Fülle von Systemen und Richtungen.

Dieser Führer nun, der bisher gefehlt hat, ist gekommen! Konstantin
Oesterreich, Privatdozent in Tübingen, in Fachkreisen als eigenartiger
Psycholog und Erforscher der dunkelsten Regionen des Seelenlebens geschätzt,
hat es unternommen, einen Überblick über die gegenwärtige Philosophie zu
schaffen. Den Anlaß bot ihm dazu die Herausgabe einer Neuauflage des be¬
kannten Grundrisses der Geschichte der Philosophie von Überweg, den später
Heinze sortgesetzt, und der jetzt an verschiedene Bearbeiter je nach den Epochen
verteilt worden ist. Daß die Wahl des Verlags von E. S. Mittler K Sohn
(Berlin) auf Oesterreich fiel, ist freudig zu begrüßen, denn er erbringt in seiner
Arbeit den vollgültigen Erweis der Berechtigung. Staunend steht man vor
der Riesenarbeit, die hier geleistet ist. Gewiß haben ihm für die ausländische
Philosophie sachkundige, den betreffenden Ländern entstammende Helfer zur Seite
gestanden: indessen hat, besonders da der Krieg die Zusammenarbeit schwer
beeinträchtigte, auch hier der Herausgeber überall eingreifen müssen. Mag auch
nicht absolute Vollständigkeit auf diese Weise erreicht sein, so befriedigen doch
auch diese Abschnitte schon sehr weitgehende Ansprüche.

Indessen scheint uns der Schwerpunkt des Werkes durchaus in jenem
Kapitel zu liegen, das am meisten eigene Arbeit des Verfassers enthält und
den philosophisch interessierten Leser am stärksten anziehen wird: in dem Kapitel
"Die Wiedergeburt des philosophischen Denkens" (seit 1870). Hier wird auf
rund 200 Seiten nicht nur ein Überblick über die verschiedenen Systeme ge-


Die Philosophie der Gegenwart

noch der Einblick in dieses oder jenes zufällig an ihn herangelangte Werk eines
modernen Philosophieprofessors kommt. Einen wirklichen Überblick über die
ganze Weite des Gebiets mit den unzähligen Strömungen und Gegenströmungen
haben die wenigsten, selbst diejenigen vielfach nicht, die als Fachleute an unseren
Hochschulen lehren. Selbst diese ziehen es vielfach vor, mit den geprägten
Formen historisch gewordener Systeme, zu operieren, statt sich in das unruhig
brodelnde Gewirr der gegenwärtigen Denkkämpfe zu wagen.

Verständlich ist es, besonders beim Laien, der nicht seine ganze Arbeits¬
kraft auf die Bewältigung philosophischer Gedankenmassen werfen kann. Ein
solcher hat, wenn er von ferne der Arena der philosophischen Gedankenkämpse
naht, den Eindruck eines wilden Chaos. Keine alles überragende Persönlichkeit
zwingt ihn in ihren Bann, wohl aber hört er die Stimmen unzähliger echter
und auch falscher Propheten, die sich gegenseitig befehden. Und nicht einmal die
staatlich beglaubigte Autorität der Philosophieprofessoren gilt mehr als ent¬
scheidend; denn gerade diese ist von den einflußreichsten Philosophen selber,
Schopenhauer und Nietzsche an der Spitze, stark untergraben. Und doch wird
zweifellos viel echte Arbeit geleistet, zweifellos sind auch in neuester Zeit echte
Werte gehoben, zweifellos zeugt gerade das gärende Chaos dafür, daß starke
Kräfte am Werke sind. Und darum wird mit Recht mancher verlangend nach
einem Führer ausschauen, der ihn ruhig und objektiv zu leiten vermöchte unter
dieser Fülle von Systemen und Richtungen.

Dieser Führer nun, der bisher gefehlt hat, ist gekommen! Konstantin
Oesterreich, Privatdozent in Tübingen, in Fachkreisen als eigenartiger
Psycholog und Erforscher der dunkelsten Regionen des Seelenlebens geschätzt,
hat es unternommen, einen Überblick über die gegenwärtige Philosophie zu
schaffen. Den Anlaß bot ihm dazu die Herausgabe einer Neuauflage des be¬
kannten Grundrisses der Geschichte der Philosophie von Überweg, den später
Heinze sortgesetzt, und der jetzt an verschiedene Bearbeiter je nach den Epochen
verteilt worden ist. Daß die Wahl des Verlags von E. S. Mittler K Sohn
(Berlin) auf Oesterreich fiel, ist freudig zu begrüßen, denn er erbringt in seiner
Arbeit den vollgültigen Erweis der Berechtigung. Staunend steht man vor
der Riesenarbeit, die hier geleistet ist. Gewiß haben ihm für die ausländische
Philosophie sachkundige, den betreffenden Ländern entstammende Helfer zur Seite
gestanden: indessen hat, besonders da der Krieg die Zusammenarbeit schwer
beeinträchtigte, auch hier der Herausgeber überall eingreifen müssen. Mag auch
nicht absolute Vollständigkeit auf diese Weise erreicht sein, so befriedigen doch
auch diese Abschnitte schon sehr weitgehende Ansprüche.

Indessen scheint uns der Schwerpunkt des Werkes durchaus in jenem
Kapitel zu liegen, das am meisten eigene Arbeit des Verfassers enthält und
den philosophisch interessierten Leser am stärksten anziehen wird: in dem Kapitel
„Die Wiedergeburt des philosophischen Denkens" (seit 1870). Hier wird auf
rund 200 Seiten nicht nur ein Überblick über die verschiedenen Systeme ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330523"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Philosophie der Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1760" prev="#ID_1759"> noch der Einblick in dieses oder jenes zufällig an ihn herangelangte Werk eines<lb/>
modernen Philosophieprofessors kommt. Einen wirklichen Überblick über die<lb/>
ganze Weite des Gebiets mit den unzähligen Strömungen und Gegenströmungen<lb/>
haben die wenigsten, selbst diejenigen vielfach nicht, die als Fachleute an unseren<lb/>
Hochschulen lehren. Selbst diese ziehen es vielfach vor, mit den geprägten<lb/>
Formen historisch gewordener Systeme, zu operieren, statt sich in das unruhig<lb/>
brodelnde Gewirr der gegenwärtigen Denkkämpfe zu wagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1761"> Verständlich ist es, besonders beim Laien, der nicht seine ganze Arbeits¬<lb/>
kraft auf die Bewältigung philosophischer Gedankenmassen werfen kann. Ein<lb/>
solcher hat, wenn er von ferne der Arena der philosophischen Gedankenkämpse<lb/>
naht, den Eindruck eines wilden Chaos. Keine alles überragende Persönlichkeit<lb/>
zwingt ihn in ihren Bann, wohl aber hört er die Stimmen unzähliger echter<lb/>
und auch falscher Propheten, die sich gegenseitig befehden. Und nicht einmal die<lb/>
staatlich beglaubigte Autorität der Philosophieprofessoren gilt mehr als ent¬<lb/>
scheidend; denn gerade diese ist von den einflußreichsten Philosophen selber,<lb/>
Schopenhauer und Nietzsche an der Spitze, stark untergraben. Und doch wird<lb/>
zweifellos viel echte Arbeit geleistet, zweifellos sind auch in neuester Zeit echte<lb/>
Werte gehoben, zweifellos zeugt gerade das gärende Chaos dafür, daß starke<lb/>
Kräfte am Werke sind. Und darum wird mit Recht mancher verlangend nach<lb/>
einem Führer ausschauen, der ihn ruhig und objektiv zu leiten vermöchte unter<lb/>
dieser Fülle von Systemen und Richtungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1762"> Dieser Führer nun, der bisher gefehlt hat, ist gekommen! Konstantin<lb/>
Oesterreich, Privatdozent in Tübingen, in Fachkreisen als eigenartiger<lb/>
Psycholog und Erforscher der dunkelsten Regionen des Seelenlebens geschätzt,<lb/>
hat es unternommen, einen Überblick über die gegenwärtige Philosophie zu<lb/>
schaffen. Den Anlaß bot ihm dazu die Herausgabe einer Neuauflage des be¬<lb/>
kannten Grundrisses der Geschichte der Philosophie von Überweg, den später<lb/>
Heinze sortgesetzt, und der jetzt an verschiedene Bearbeiter je nach den Epochen<lb/>
verteilt worden ist. Daß die Wahl des Verlags von E. S. Mittler K Sohn<lb/>
(Berlin) auf Oesterreich fiel, ist freudig zu begrüßen, denn er erbringt in seiner<lb/>
Arbeit den vollgültigen Erweis der Berechtigung. Staunend steht man vor<lb/>
der Riesenarbeit, die hier geleistet ist. Gewiß haben ihm für die ausländische<lb/>
Philosophie sachkundige, den betreffenden Ländern entstammende Helfer zur Seite<lb/>
gestanden: indessen hat, besonders da der Krieg die Zusammenarbeit schwer<lb/>
beeinträchtigte, auch hier der Herausgeber überall eingreifen müssen. Mag auch<lb/>
nicht absolute Vollständigkeit auf diese Weise erreicht sein, so befriedigen doch<lb/>
auch diese Abschnitte schon sehr weitgehende Ansprüche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1763" next="#ID_1764"> Indessen scheint uns der Schwerpunkt des Werkes durchaus in jenem<lb/>
Kapitel zu liegen, das am meisten eigene Arbeit des Verfassers enthält und<lb/>
den philosophisch interessierten Leser am stärksten anziehen wird: in dem Kapitel<lb/>
&#x201E;Die Wiedergeburt des philosophischen Denkens" (seit 1870). Hier wird auf<lb/>
rund 200 Seiten nicht nur ein Überblick über die verschiedenen Systeme ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0423] Die Philosophie der Gegenwart noch der Einblick in dieses oder jenes zufällig an ihn herangelangte Werk eines modernen Philosophieprofessors kommt. Einen wirklichen Überblick über die ganze Weite des Gebiets mit den unzähligen Strömungen und Gegenströmungen haben die wenigsten, selbst diejenigen vielfach nicht, die als Fachleute an unseren Hochschulen lehren. Selbst diese ziehen es vielfach vor, mit den geprägten Formen historisch gewordener Systeme, zu operieren, statt sich in das unruhig brodelnde Gewirr der gegenwärtigen Denkkämpfe zu wagen. Verständlich ist es, besonders beim Laien, der nicht seine ganze Arbeits¬ kraft auf die Bewältigung philosophischer Gedankenmassen werfen kann. Ein solcher hat, wenn er von ferne der Arena der philosophischen Gedankenkämpse naht, den Eindruck eines wilden Chaos. Keine alles überragende Persönlichkeit zwingt ihn in ihren Bann, wohl aber hört er die Stimmen unzähliger echter und auch falscher Propheten, die sich gegenseitig befehden. Und nicht einmal die staatlich beglaubigte Autorität der Philosophieprofessoren gilt mehr als ent¬ scheidend; denn gerade diese ist von den einflußreichsten Philosophen selber, Schopenhauer und Nietzsche an der Spitze, stark untergraben. Und doch wird zweifellos viel echte Arbeit geleistet, zweifellos sind auch in neuester Zeit echte Werte gehoben, zweifellos zeugt gerade das gärende Chaos dafür, daß starke Kräfte am Werke sind. Und darum wird mit Recht mancher verlangend nach einem Führer ausschauen, der ihn ruhig und objektiv zu leiten vermöchte unter dieser Fülle von Systemen und Richtungen. Dieser Führer nun, der bisher gefehlt hat, ist gekommen! Konstantin Oesterreich, Privatdozent in Tübingen, in Fachkreisen als eigenartiger Psycholog und Erforscher der dunkelsten Regionen des Seelenlebens geschätzt, hat es unternommen, einen Überblick über die gegenwärtige Philosophie zu schaffen. Den Anlaß bot ihm dazu die Herausgabe einer Neuauflage des be¬ kannten Grundrisses der Geschichte der Philosophie von Überweg, den später Heinze sortgesetzt, und der jetzt an verschiedene Bearbeiter je nach den Epochen verteilt worden ist. Daß die Wahl des Verlags von E. S. Mittler K Sohn (Berlin) auf Oesterreich fiel, ist freudig zu begrüßen, denn er erbringt in seiner Arbeit den vollgültigen Erweis der Berechtigung. Staunend steht man vor der Riesenarbeit, die hier geleistet ist. Gewiß haben ihm für die ausländische Philosophie sachkundige, den betreffenden Ländern entstammende Helfer zur Seite gestanden: indessen hat, besonders da der Krieg die Zusammenarbeit schwer beeinträchtigte, auch hier der Herausgeber überall eingreifen müssen. Mag auch nicht absolute Vollständigkeit auf diese Weise erreicht sein, so befriedigen doch auch diese Abschnitte schon sehr weitgehende Ansprüche. Indessen scheint uns der Schwerpunkt des Werkes durchaus in jenem Kapitel zu liegen, das am meisten eigene Arbeit des Verfassers enthält und den philosophisch interessierten Leser am stärksten anziehen wird: in dem Kapitel „Die Wiedergeburt des philosophischen Denkens" (seit 1870). Hier wird auf rund 200 Seiten nicht nur ein Überblick über die verschiedenen Systeme ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/423
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/423>, abgerufen am 27.07.2024.