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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Philosophie der Gegenwart

Weshalb, so fragt Kjellen am Schlüsse, haben die beiden Antithesen
England und Rußland so vieles, was sie jetzt auch gedanklich zueinander zieht?
Zwischen beiden "bestehen Brücken zum Verständnis". Der "praktische Ab¬
solutismus der englischen Regierung und die anarchistischen Tendenzen der
russischen Opposition" können das bezeugen. Nur für die Synthese, die eben
Deutschland darstellt, haben beide kein Verständnis, für diesen neuen Rationa¬
lismus, "der ein Sproß vom selben Baum ist, der der Welt den kategorischen
Imperativ geschenkt hat". Und nun der Ausblick in die Zukunft. Was er¬
wartet die Welt von Deutschland, wenn es als Sieger aus diesem Kampfe
hervorgeht? Nur wenn es mit seiner Fackel nicht sengt, sondern erleuchtet,
wenn es auch die kleinen Lichter auf dem Wege nicht auslöscht, wird es die
Hoffnungen erfüllen, die man auf den Sieger setzt.

"Wie die Wettläufer in Platons Republik am Ziele einander die Fackeln
reichten, fo wagen wir zu erwarten, daß der Sieger im Weltkrieg seinen Sieg
und sich selbst adeln wird durch rücksichtsvolles Zusammenarbeiten mit den
schwächeren Gliedern jenes neuen Staatensystems, das aus den Sturmeswellen
des Tages erstehen muß -- durch einen gerechten Frieden."




Die Philosophie der Gegenwart
v B. wölfing on

M>s ist nicht zu leugnen, viele Zeichen bestätigen es, daß wir seit
Jahrzehnten in einer Zeit wachsenden philosophischen Interesses
leben. Nach der großen Ebbe im sechsten, siebenten und auch
achten Dezennium des 19. Jahrhunderts ist es fast beständig ge-
I stiegen, und wenn auch keine philosophische Sturmflut herrscht wie
im Beginn des verflossenen Jahrhunderts, wo nach Treitschkes bekanntem Wort
eine neue Philosophie mehr Interesse erregte, als eine neue Staatsverfassung,
so ist doch der Kursstand philosophischer Werte nicht übel, und auch der große
Krieg dürste darin auf die Dauer keine Änderung zum Schlechten bringen.

Freilich, ist dies Interesse für philosophische Fragen nun wirklich mehr als
eine prickelnde Neugier, eine Mode, eine dunkle Sehnsucht? Entspricht diesem
Interesse auch die Weite des Horizonts, die Tiefe des Eindringens bei allen
denen, die sich an die Pforten der philosophischen Wissenschaft drängen? Man
wird das verneinen müssen. Was der Nichtfachmann heute als Philosophie
betreibt, ist meist eine halb ästhetisch gerichtete Lektüre Schopenhauers oder
Nietzsches, eine allgemeine Orientierung an Plato oder Kant, wozu vielleicht


Die Philosophie der Gegenwart

Weshalb, so fragt Kjellen am Schlüsse, haben die beiden Antithesen
England und Rußland so vieles, was sie jetzt auch gedanklich zueinander zieht?
Zwischen beiden „bestehen Brücken zum Verständnis". Der „praktische Ab¬
solutismus der englischen Regierung und die anarchistischen Tendenzen der
russischen Opposition" können das bezeugen. Nur für die Synthese, die eben
Deutschland darstellt, haben beide kein Verständnis, für diesen neuen Rationa¬
lismus, „der ein Sproß vom selben Baum ist, der der Welt den kategorischen
Imperativ geschenkt hat". Und nun der Ausblick in die Zukunft. Was er¬
wartet die Welt von Deutschland, wenn es als Sieger aus diesem Kampfe
hervorgeht? Nur wenn es mit seiner Fackel nicht sengt, sondern erleuchtet,
wenn es auch die kleinen Lichter auf dem Wege nicht auslöscht, wird es die
Hoffnungen erfüllen, die man auf den Sieger setzt.

„Wie die Wettläufer in Platons Republik am Ziele einander die Fackeln
reichten, fo wagen wir zu erwarten, daß der Sieger im Weltkrieg seinen Sieg
und sich selbst adeln wird durch rücksichtsvolles Zusammenarbeiten mit den
schwächeren Gliedern jenes neuen Staatensystems, das aus den Sturmeswellen
des Tages erstehen muß — durch einen gerechten Frieden."




Die Philosophie der Gegenwart
v B. wölfing on

M>s ist nicht zu leugnen, viele Zeichen bestätigen es, daß wir seit
Jahrzehnten in einer Zeit wachsenden philosophischen Interesses
leben. Nach der großen Ebbe im sechsten, siebenten und auch
achten Dezennium des 19. Jahrhunderts ist es fast beständig ge-
I stiegen, und wenn auch keine philosophische Sturmflut herrscht wie
im Beginn des verflossenen Jahrhunderts, wo nach Treitschkes bekanntem Wort
eine neue Philosophie mehr Interesse erregte, als eine neue Staatsverfassung,
so ist doch der Kursstand philosophischer Werte nicht übel, und auch der große
Krieg dürste darin auf die Dauer keine Änderung zum Schlechten bringen.

Freilich, ist dies Interesse für philosophische Fragen nun wirklich mehr als
eine prickelnde Neugier, eine Mode, eine dunkle Sehnsucht? Entspricht diesem
Interesse auch die Weite des Horizonts, die Tiefe des Eindringens bei allen
denen, die sich an die Pforten der philosophischen Wissenschaft drängen? Man
wird das verneinen müssen. Was der Nichtfachmann heute als Philosophie
betreibt, ist meist eine halb ästhetisch gerichtete Lektüre Schopenhauers oder
Nietzsches, eine allgemeine Orientierung an Plato oder Kant, wozu vielleicht


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[0422] Die Philosophie der Gegenwart Weshalb, so fragt Kjellen am Schlüsse, haben die beiden Antithesen England und Rußland so vieles, was sie jetzt auch gedanklich zueinander zieht? Zwischen beiden „bestehen Brücken zum Verständnis". Der „praktische Ab¬ solutismus der englischen Regierung und die anarchistischen Tendenzen der russischen Opposition" können das bezeugen. Nur für die Synthese, die eben Deutschland darstellt, haben beide kein Verständnis, für diesen neuen Rationa¬ lismus, „der ein Sproß vom selben Baum ist, der der Welt den kategorischen Imperativ geschenkt hat". Und nun der Ausblick in die Zukunft. Was er¬ wartet die Welt von Deutschland, wenn es als Sieger aus diesem Kampfe hervorgeht? Nur wenn es mit seiner Fackel nicht sengt, sondern erleuchtet, wenn es auch die kleinen Lichter auf dem Wege nicht auslöscht, wird es die Hoffnungen erfüllen, die man auf den Sieger setzt. „Wie die Wettläufer in Platons Republik am Ziele einander die Fackeln reichten, fo wagen wir zu erwarten, daß der Sieger im Weltkrieg seinen Sieg und sich selbst adeln wird durch rücksichtsvolles Zusammenarbeiten mit den schwächeren Gliedern jenes neuen Staatensystems, das aus den Sturmeswellen des Tages erstehen muß — durch einen gerechten Frieden." Die Philosophie der Gegenwart v B. wölfing on M>s ist nicht zu leugnen, viele Zeichen bestätigen es, daß wir seit Jahrzehnten in einer Zeit wachsenden philosophischen Interesses leben. Nach der großen Ebbe im sechsten, siebenten und auch achten Dezennium des 19. Jahrhunderts ist es fast beständig ge- I stiegen, und wenn auch keine philosophische Sturmflut herrscht wie im Beginn des verflossenen Jahrhunderts, wo nach Treitschkes bekanntem Wort eine neue Philosophie mehr Interesse erregte, als eine neue Staatsverfassung, so ist doch der Kursstand philosophischer Werte nicht übel, und auch der große Krieg dürste darin auf die Dauer keine Änderung zum Schlechten bringen. Freilich, ist dies Interesse für philosophische Fragen nun wirklich mehr als eine prickelnde Neugier, eine Mode, eine dunkle Sehnsucht? Entspricht diesem Interesse auch die Weite des Horizonts, die Tiefe des Eindringens bei allen denen, die sich an die Pforten der philosophischen Wissenschaft drängen? Man wird das verneinen müssen. Was der Nichtfachmann heute als Philosophie betreibt, ist meist eine halb ästhetisch gerichtete Lektüre Schopenhauers oder Nietzsches, eine allgemeine Orientierung an Plato oder Kant, wozu vielleicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/422>, abgerufen am 27.07.2024.