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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Tragödie Georgiens

Die Geschichte Georgiens ist uralt. Mögen auch die bis heute in allen
Schulen gelehrten Weisheiten vom kaukasischen Ursprung der europäischen Nasse
vor der neueren Wissenschaft nicht standhalten, so gibt es doch geschichtliche
Belege dafür, daß in Georgien schon eine eigene Kultur vorhanden war zu
Zeiten, in denen der größte Teil Europas noch unerforscht blieb. Seine
Geschichte ist der Bericht eines ewigen Kampfes, und wenn wir daran erinnern,
daß schon die Legionen des Pompejus gegen georgische Heere kämpfen mußten,
so ist damit keineswegs das früheste Datum aus der Geschichte Georgiens
genannt. Verhältnismäßig früh trat das georgische Volk zum Christentum
über und vollzog dadurch gleichsam den geistigen Anschluß an Europa, dem
es auch biologisch und ethnographisch eher zuzuzählen ist. als dem Orient.

Die mannigfachsten Kämpfe gegen Perser, Armenier und die wilden Berg¬
völker des Kaukasus führten schließlich zur völligen Unabhängigkeit Georgiens,
das sich den Kaukasus und weite Teile Armeniens unterwarf. Diese äußere
Macht wurde gestützt durch eine überragende kulturelle Überlegenheit, die ihre
stärkste Stütze in der georgischen Kirche fand, die sich zu einem der prägnantesten
Beispiele einer Nationalkirche entwickelte und die nach dem kanonischen Recht
als "autokephal", d. h. gleichberechtigt im Rahmen des orthodoxen Kirchentums,
anerkannt ist.

Eine Zusammenfassung aller georgischen Stämme zu einem geogra¬
phischen und politischen Ganzen erfolgte im 11. Jahrhundert, nachdem
es gelungen war, die Araber aus den Kaukasusländern zu vertreiben. Sie
mußten 1122 Tiflis aufgeben. Von diesem Zeitpunkt an datiert der gewaltige
Aufschwung, der Georgien im 12. Jahrhundert auf den Gipfel seiner Ent¬
wicklung führte. Es ist dieses Jahrhundert das "glückselige Zeitalter Georgiens",
und der Name seiner Königin Thamar, in deren Regierungszeit diese Epoche
in der Hauptsache fiel, ist ebenso unvergessen wie die Dichtung Rusthawelis,
des georgischen Nationaldichters, der um jene Zeit lebte.

Im 13. Jahrhundert wendete sich das Schicksal Georgiens jäh. Der
Mongolensturm brauste über es hinweg und nahm ihm die Kraft, später den
Türken Widerstand zu leisten. Seine Unabhängigkeit wurde fast völlig ver-
nichtet. Es kommt zur Teilung der georgischen Gebiete zwischen Türken und
Persern. Hand in Hand mit der politischen Bedrückung ging eine gewaltsame
Jslamisierung des georgischen Volkes. In Persien steigerte sich die Bedrängung
bis zum Ausrottungskampf gegen die georgische Kultur. Ein Rückfall in die
Barbarei, wie ihn vielleicht kein anderes Volk erleben mußte, war die Folge.
Zu den beiden Hauptfeinden kamen die vielen kleinen, die kaukasischen Berg¬
völker, die nicht reif waren für den Gedanken der Solidarität mit denjenigen,
die unter den gleichen Bedrängern zu leiden hatten. Gegen die geistige Ver¬
wüstung hat sich Georgien mit einer Zähigkeit gewehrt, die vielleicht nur in
der unverwüstlichen Lebenskraft des jüdischen Volkes ein Seitenstück findet.
In der Tat gelangte es noch einmal für wenige Jahrzehnte zur Blüte, als


Die Tragödie Georgiens

Die Geschichte Georgiens ist uralt. Mögen auch die bis heute in allen
Schulen gelehrten Weisheiten vom kaukasischen Ursprung der europäischen Nasse
vor der neueren Wissenschaft nicht standhalten, so gibt es doch geschichtliche
Belege dafür, daß in Georgien schon eine eigene Kultur vorhanden war zu
Zeiten, in denen der größte Teil Europas noch unerforscht blieb. Seine
Geschichte ist der Bericht eines ewigen Kampfes, und wenn wir daran erinnern,
daß schon die Legionen des Pompejus gegen georgische Heere kämpfen mußten,
so ist damit keineswegs das früheste Datum aus der Geschichte Georgiens
genannt. Verhältnismäßig früh trat das georgische Volk zum Christentum
über und vollzog dadurch gleichsam den geistigen Anschluß an Europa, dem
es auch biologisch und ethnographisch eher zuzuzählen ist. als dem Orient.

Die mannigfachsten Kämpfe gegen Perser, Armenier und die wilden Berg¬
völker des Kaukasus führten schließlich zur völligen Unabhängigkeit Georgiens,
das sich den Kaukasus und weite Teile Armeniens unterwarf. Diese äußere
Macht wurde gestützt durch eine überragende kulturelle Überlegenheit, die ihre
stärkste Stütze in der georgischen Kirche fand, die sich zu einem der prägnantesten
Beispiele einer Nationalkirche entwickelte und die nach dem kanonischen Recht
als „autokephal", d. h. gleichberechtigt im Rahmen des orthodoxen Kirchentums,
anerkannt ist.

Eine Zusammenfassung aller georgischen Stämme zu einem geogra¬
phischen und politischen Ganzen erfolgte im 11. Jahrhundert, nachdem
es gelungen war, die Araber aus den Kaukasusländern zu vertreiben. Sie
mußten 1122 Tiflis aufgeben. Von diesem Zeitpunkt an datiert der gewaltige
Aufschwung, der Georgien im 12. Jahrhundert auf den Gipfel seiner Ent¬
wicklung führte. Es ist dieses Jahrhundert das „glückselige Zeitalter Georgiens",
und der Name seiner Königin Thamar, in deren Regierungszeit diese Epoche
in der Hauptsache fiel, ist ebenso unvergessen wie die Dichtung Rusthawelis,
des georgischen Nationaldichters, der um jene Zeit lebte.

Im 13. Jahrhundert wendete sich das Schicksal Georgiens jäh. Der
Mongolensturm brauste über es hinweg und nahm ihm die Kraft, später den
Türken Widerstand zu leisten. Seine Unabhängigkeit wurde fast völlig ver-
nichtet. Es kommt zur Teilung der georgischen Gebiete zwischen Türken und
Persern. Hand in Hand mit der politischen Bedrückung ging eine gewaltsame
Jslamisierung des georgischen Volkes. In Persien steigerte sich die Bedrängung
bis zum Ausrottungskampf gegen die georgische Kultur. Ein Rückfall in die
Barbarei, wie ihn vielleicht kein anderes Volk erleben mußte, war die Folge.
Zu den beiden Hauptfeinden kamen die vielen kleinen, die kaukasischen Berg¬
völker, die nicht reif waren für den Gedanken der Solidarität mit denjenigen,
die unter den gleichen Bedrängern zu leiden hatten. Gegen die geistige Ver¬
wüstung hat sich Georgien mit einer Zähigkeit gewehrt, die vielleicht nur in
der unverwüstlichen Lebenskraft des jüdischen Volkes ein Seitenstück findet.
In der Tat gelangte es noch einmal für wenige Jahrzehnte zur Blüte, als


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[0251] Die Tragödie Georgiens Die Geschichte Georgiens ist uralt. Mögen auch die bis heute in allen Schulen gelehrten Weisheiten vom kaukasischen Ursprung der europäischen Nasse vor der neueren Wissenschaft nicht standhalten, so gibt es doch geschichtliche Belege dafür, daß in Georgien schon eine eigene Kultur vorhanden war zu Zeiten, in denen der größte Teil Europas noch unerforscht blieb. Seine Geschichte ist der Bericht eines ewigen Kampfes, und wenn wir daran erinnern, daß schon die Legionen des Pompejus gegen georgische Heere kämpfen mußten, so ist damit keineswegs das früheste Datum aus der Geschichte Georgiens genannt. Verhältnismäßig früh trat das georgische Volk zum Christentum über und vollzog dadurch gleichsam den geistigen Anschluß an Europa, dem es auch biologisch und ethnographisch eher zuzuzählen ist. als dem Orient. Die mannigfachsten Kämpfe gegen Perser, Armenier und die wilden Berg¬ völker des Kaukasus führten schließlich zur völligen Unabhängigkeit Georgiens, das sich den Kaukasus und weite Teile Armeniens unterwarf. Diese äußere Macht wurde gestützt durch eine überragende kulturelle Überlegenheit, die ihre stärkste Stütze in der georgischen Kirche fand, die sich zu einem der prägnantesten Beispiele einer Nationalkirche entwickelte und die nach dem kanonischen Recht als „autokephal", d. h. gleichberechtigt im Rahmen des orthodoxen Kirchentums, anerkannt ist. Eine Zusammenfassung aller georgischen Stämme zu einem geogra¬ phischen und politischen Ganzen erfolgte im 11. Jahrhundert, nachdem es gelungen war, die Araber aus den Kaukasusländern zu vertreiben. Sie mußten 1122 Tiflis aufgeben. Von diesem Zeitpunkt an datiert der gewaltige Aufschwung, der Georgien im 12. Jahrhundert auf den Gipfel seiner Ent¬ wicklung führte. Es ist dieses Jahrhundert das „glückselige Zeitalter Georgiens", und der Name seiner Königin Thamar, in deren Regierungszeit diese Epoche in der Hauptsache fiel, ist ebenso unvergessen wie die Dichtung Rusthawelis, des georgischen Nationaldichters, der um jene Zeit lebte. Im 13. Jahrhundert wendete sich das Schicksal Georgiens jäh. Der Mongolensturm brauste über es hinweg und nahm ihm die Kraft, später den Türken Widerstand zu leisten. Seine Unabhängigkeit wurde fast völlig ver- nichtet. Es kommt zur Teilung der georgischen Gebiete zwischen Türken und Persern. Hand in Hand mit der politischen Bedrückung ging eine gewaltsame Jslamisierung des georgischen Volkes. In Persien steigerte sich die Bedrängung bis zum Ausrottungskampf gegen die georgische Kultur. Ein Rückfall in die Barbarei, wie ihn vielleicht kein anderes Volk erleben mußte, war die Folge. Zu den beiden Hauptfeinden kamen die vielen kleinen, die kaukasischen Berg¬ völker, die nicht reif waren für den Gedanken der Solidarität mit denjenigen, die unter den gleichen Bedrängern zu leiden hatten. Gegen die geistige Ver¬ wüstung hat sich Georgien mit einer Zähigkeit gewehrt, die vielleicht nur in der unverwüstlichen Lebenskraft des jüdischen Volkes ein Seitenstück findet. In der Tat gelangte es noch einmal für wenige Jahrzehnte zur Blüte, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/251>, abgerufen am 28.07.2024.