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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Chronologie Licht in viele dunkle Stellen zu bringen. Mit Hilfe des glücklicher¬
weise erhaltenen Julifahrplans der Eisenbahn von 1870 kann er die Reisen
der beteiligten Diplomaten und Kuriere genau verfolgen. Ebenso sind die
Aufgabe- und Ankunftszeiten der Briefe und Telegramme möglichst sicher fest¬
gestellt. Durch derart genaue Feststellung des chronologisch Möglichen gewinnt
Fester allerdings einen unanfechtbaren Maßstab der Kritik, dessen was in den
uns vorliegenden Quellen wahr sein kann. Der Hergang des diplomatischen
Kampfes bleibt in den Hauptzügen der bekannte: Durch das vorzeitige Be"
kanntwerden der hohenzollernschen Thronkandidatur drohte eine schwere
diplomatische Niederlage Preußens, die König Wilhelm verhütete, indem er die
sofortige Verzichtleistung des Erbprinzen Leopold herbeiführte. Durch seine
nachträgliche Garantieforderung: König Wilhelm solle erklären, er werde
niemals zulassen, daß der Erbprinz je auf seine Kandidatur zurückkomme, setzte
sich Frankreich ins Unrecht. Bismarck bereitete schon seinerseits eine preußische
Garantieforderung an Frankreich vor, wonach die Negierung Napoleons in irgend
einer offiziellen Form erklären sollte, daß sie mit der Lösung der spanischen
Frage durch den Verzicht zufrieden sei und die Drohungen gegen Preußen
zurücknähme, als die Ankunft der Emser Depesche einen noch kürzeren Weg
eröffnete, Frankreich vor der europäischen Öffentlichkeit als den Störenfried
hinzustellen. An dem meisterhaften Schachzug der Emser Depesche ist nach
Fehlers Urteil das Verdienst Abekens größer, als ihm bisher zugebilligt worden
ist. Schon das Abekensche Urtelegramm ist keineswegs kleinlauter als die
Bismarcksche Redaktion. Bismarcks Verdienst bleibt nur die unvergleichlich
meisterhafte Ausnutzung der Depesche mittels ihrer Redaktion vor der Öffent¬
lichkeit, wie durch Mitteilung der Einzelheiten an wichtigen Fürstenhöfen; denn
dadurch gewann er die legitimistische Empfindlichkeit besonders in Petersburg
und München für sich. Alle diese Gesichtspunkte entwickelt Fester höchst
interessant, wie überhaupt dem Verfasser nachzurühmen ist, daß er es versteht,
bei der Erörterung minutiöser Kleinigkeiten nicht zu langweilen. Er liebt es,
die diplomatischen Aktionen mit Ausdrücken der Taktik und Strategie zu um¬
schreiben, läßt also mit gutem Glück -- eine Umkehrung der bekannten Lehre
von Clausewitz! -- dem Leser den diplomatischen Kampf schon als einen Krieg
mit veränderten Mitteln erscheinen.

Das Festersche Buch ist geeignet, uns die diplomatische Einzelarbeit
würdigen zu lehren, die neben den großen Ideen und Entschlüssen auch in
unendlicher Fülle dazu gehört hat, uns unser neues Deutsches Reich aufzu¬
richten. Im Großen wie im Kleinen ist damals eine Riesenarbeit für uns
geleistet worden. Mit umso freudigerem Stolze dürfen wir heute, wo wir die
größte Krisis unserer Geschichte bestehen, vor unserem Gewissen bekennen, daß
die Söhne der Väter nicht unwürdig sind, und daß man das Vertrauen zu
ihnen haben darf: sie werden fähig sein, auch auf einer von Bismarck gefügten
Grundlage nach eigenem Geist und Bedürfnis weiterzubauen.




Chronologie Licht in viele dunkle Stellen zu bringen. Mit Hilfe des glücklicher¬
weise erhaltenen Julifahrplans der Eisenbahn von 1870 kann er die Reisen
der beteiligten Diplomaten und Kuriere genau verfolgen. Ebenso sind die
Aufgabe- und Ankunftszeiten der Briefe und Telegramme möglichst sicher fest¬
gestellt. Durch derart genaue Feststellung des chronologisch Möglichen gewinnt
Fester allerdings einen unanfechtbaren Maßstab der Kritik, dessen was in den
uns vorliegenden Quellen wahr sein kann. Der Hergang des diplomatischen
Kampfes bleibt in den Hauptzügen der bekannte: Durch das vorzeitige Be»
kanntwerden der hohenzollernschen Thronkandidatur drohte eine schwere
diplomatische Niederlage Preußens, die König Wilhelm verhütete, indem er die
sofortige Verzichtleistung des Erbprinzen Leopold herbeiführte. Durch seine
nachträgliche Garantieforderung: König Wilhelm solle erklären, er werde
niemals zulassen, daß der Erbprinz je auf seine Kandidatur zurückkomme, setzte
sich Frankreich ins Unrecht. Bismarck bereitete schon seinerseits eine preußische
Garantieforderung an Frankreich vor, wonach die Negierung Napoleons in irgend
einer offiziellen Form erklären sollte, daß sie mit der Lösung der spanischen
Frage durch den Verzicht zufrieden sei und die Drohungen gegen Preußen
zurücknähme, als die Ankunft der Emser Depesche einen noch kürzeren Weg
eröffnete, Frankreich vor der europäischen Öffentlichkeit als den Störenfried
hinzustellen. An dem meisterhaften Schachzug der Emser Depesche ist nach
Fehlers Urteil das Verdienst Abekens größer, als ihm bisher zugebilligt worden
ist. Schon das Abekensche Urtelegramm ist keineswegs kleinlauter als die
Bismarcksche Redaktion. Bismarcks Verdienst bleibt nur die unvergleichlich
meisterhafte Ausnutzung der Depesche mittels ihrer Redaktion vor der Öffent¬
lichkeit, wie durch Mitteilung der Einzelheiten an wichtigen Fürstenhöfen; denn
dadurch gewann er die legitimistische Empfindlichkeit besonders in Petersburg
und München für sich. Alle diese Gesichtspunkte entwickelt Fester höchst
interessant, wie überhaupt dem Verfasser nachzurühmen ist, daß er es versteht,
bei der Erörterung minutiöser Kleinigkeiten nicht zu langweilen. Er liebt es,
die diplomatischen Aktionen mit Ausdrücken der Taktik und Strategie zu um¬
schreiben, läßt also mit gutem Glück — eine Umkehrung der bekannten Lehre
von Clausewitz! — dem Leser den diplomatischen Kampf schon als einen Krieg
mit veränderten Mitteln erscheinen.

Das Festersche Buch ist geeignet, uns die diplomatische Einzelarbeit
würdigen zu lehren, die neben den großen Ideen und Entschlüssen auch in
unendlicher Fülle dazu gehört hat, uns unser neues Deutsches Reich aufzu¬
richten. Im Großen wie im Kleinen ist damals eine Riesenarbeit für uns
geleistet worden. Mit umso freudigerem Stolze dürfen wir heute, wo wir die
größte Krisis unserer Geschichte bestehen, vor unserem Gewissen bekennen, daß
die Söhne der Väter nicht unwürdig sind, und daß man das Vertrauen zu
ihnen haben darf: sie werden fähig sein, auch auf einer von Bismarck gefügten
Grundlage nach eigenem Geist und Bedürfnis weiterzubauen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/117>, abgerufen am 01.09.2024.