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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Grund liegt tief. Unsere neueren und jetzt mehr und mehr zur Wirkung
gelangenden Dichter sind sämtlich nicht allein durch die Schule einer verfeinerten
Psychologie und Sensibilität gegangen, sondern haben auch alle philosophisch¬
religiösen Probleme methodisch durchdacht, durchkämpft. In dieser Hinsicht gehört
ein Jakob Wassermann bereits der älteren Generation an; seine Welt ist noch
ausschließlich die Welt der sezierenden Psychologie, gebannt an ein Erleben und
Geschehen in der Umwelt künstlerischen Schaffens und Denkens. Sein neuer
Roman "Das Gänsemännchen" (S. Fischer, Berlin) mit dem Gottfried Bürger-
Motiv ist noch durchaus auf psychologischer Kunst aufgebaut, wächst hier öfters
zu großer dichterischer Schönheit enipor und offenbart ein Kmistideal von seltener
Größe, verliert sich als Ganzes jedoch merkwürdig breit ins Empirisch-Einzelne,
so daß man mehr und mehr das Gefühl hat: das analysierende Moment in
Wassermanns Talent verdrängt das gestaltende. Dennoch bereichert der Roman
gerade durch seine psychologisch- und kunsttheoretischcn Inhalte. Er gehört
freilich nicht zu der Gattung Bücher, die an den Grundvesten des Seins rütteln,
denn der erzählte Einzelfall vom Manne, der zwei Schwestern in Liebe besitzt,
und vom verkannten Musikgenie hat nichts Typisches an sich. Erst die Er¬
weiterung des einzelnen ins Typische aber stellt die Frage ans Sein.

Wie etwa bei Gustav Meyrinks jetzt viel genanntem "Goten" (Kurt Wolff,
Leipzig). Hier wird gewiß mit wundervoller Phantastik ein Einzelleben in
eine alte Sage verknüpft und in eine romantische Umwelt spukhafter Enge und
Furchtbarkeit, in die dumpfe Welt des Prager Ghetto und in das Reich blutigen
Verbrechens gebannt, so daß sich das Stoffliche des Buches, der erste Anreiz
für die meisten Käufer, fast überschlägt. Und doch erhebt sich dieser in die
Form eines Traumes gehüllte abenteuerreiche Roman, dessen Mord-, Dirnen-
und Spukatmosphäre glänzend eingefangen ist, zu einer geistigen Offenbarung:
das Rätsel des Jchbewußtseins in Diesseits und Jenseits, die metaphysische
Welt als Gehalt der Menschenseele wird ergründet und zum Bilde einer nach
Weisheit strebenden Weltanschauung verwoben. Meyrink enthüllt oft in schaudernd
schöner Phantastik, oft als bedeutendster Erzähler wie z. B. in der Episode vom
Verbrecherbataillon, Abgründe des Seelischen, an denen der einzelne meist scheu
vorbeieilt. Und er enthüllt sie mit philosophischer Systematik trotz der starken
Wucherung alles Episodischen in seiner einzig- und eigenartigen Romantik.

Die Wucherung des Episodischen kennzeichnet auch Leonhard Franks
ersten Roman "Die Räuberbande". Im Gegensatz dazu ist seine neue Erzählung
"Die Ursache" (Georg Müller, München) durchaus systematische Konzentration
und darum viel stärker in der Wirkung als das erste Buch, das bereits das
bedeutende Talent Franks verriet. Dieser Dichter wird, wenn er erst einmal
über das Thema einer durch Lehrerstumpfsinn hingemordeten Jugend hinaus¬
gewachsen ist, bei seiner Selbstzucht noch Bedeutendes leisten. Die elementare
Leidenschaftlichkeit, die auch aus der "Ursache", dieser qualvollen Behandlung
eines Mordes und seiner Sühne, quillt, dies Gefühl für höchsten Lebensjubel


Der Grund liegt tief. Unsere neueren und jetzt mehr und mehr zur Wirkung
gelangenden Dichter sind sämtlich nicht allein durch die Schule einer verfeinerten
Psychologie und Sensibilität gegangen, sondern haben auch alle philosophisch¬
religiösen Probleme methodisch durchdacht, durchkämpft. In dieser Hinsicht gehört
ein Jakob Wassermann bereits der älteren Generation an; seine Welt ist noch
ausschließlich die Welt der sezierenden Psychologie, gebannt an ein Erleben und
Geschehen in der Umwelt künstlerischen Schaffens und Denkens. Sein neuer
Roman „Das Gänsemännchen" (S. Fischer, Berlin) mit dem Gottfried Bürger-
Motiv ist noch durchaus auf psychologischer Kunst aufgebaut, wächst hier öfters
zu großer dichterischer Schönheit enipor und offenbart ein Kmistideal von seltener
Größe, verliert sich als Ganzes jedoch merkwürdig breit ins Empirisch-Einzelne,
so daß man mehr und mehr das Gefühl hat: das analysierende Moment in
Wassermanns Talent verdrängt das gestaltende. Dennoch bereichert der Roman
gerade durch seine psychologisch- und kunsttheoretischcn Inhalte. Er gehört
freilich nicht zu der Gattung Bücher, die an den Grundvesten des Seins rütteln,
denn der erzählte Einzelfall vom Manne, der zwei Schwestern in Liebe besitzt,
und vom verkannten Musikgenie hat nichts Typisches an sich. Erst die Er¬
weiterung des einzelnen ins Typische aber stellt die Frage ans Sein.

Wie etwa bei Gustav Meyrinks jetzt viel genanntem „Goten" (Kurt Wolff,
Leipzig). Hier wird gewiß mit wundervoller Phantastik ein Einzelleben in
eine alte Sage verknüpft und in eine romantische Umwelt spukhafter Enge und
Furchtbarkeit, in die dumpfe Welt des Prager Ghetto und in das Reich blutigen
Verbrechens gebannt, so daß sich das Stoffliche des Buches, der erste Anreiz
für die meisten Käufer, fast überschlägt. Und doch erhebt sich dieser in die
Form eines Traumes gehüllte abenteuerreiche Roman, dessen Mord-, Dirnen-
und Spukatmosphäre glänzend eingefangen ist, zu einer geistigen Offenbarung:
das Rätsel des Jchbewußtseins in Diesseits und Jenseits, die metaphysische
Welt als Gehalt der Menschenseele wird ergründet und zum Bilde einer nach
Weisheit strebenden Weltanschauung verwoben. Meyrink enthüllt oft in schaudernd
schöner Phantastik, oft als bedeutendster Erzähler wie z. B. in der Episode vom
Verbrecherbataillon, Abgründe des Seelischen, an denen der einzelne meist scheu
vorbeieilt. Und er enthüllt sie mit philosophischer Systematik trotz der starken
Wucherung alles Episodischen in seiner einzig- und eigenartigen Romantik.

Die Wucherung des Episodischen kennzeichnet auch Leonhard Franks
ersten Roman „Die Räuberbande". Im Gegensatz dazu ist seine neue Erzählung
„Die Ursache" (Georg Müller, München) durchaus systematische Konzentration
und darum viel stärker in der Wirkung als das erste Buch, das bereits das
bedeutende Talent Franks verriet. Dieser Dichter wird, wenn er erst einmal
über das Thema einer durch Lehrerstumpfsinn hingemordeten Jugend hinaus¬
gewachsen ist, bei seiner Selbstzucht noch Bedeutendes leisten. Die elementare
Leidenschaftlichkeit, die auch aus der „Ursache", dieser qualvollen Behandlung
eines Mordes und seiner Sühne, quillt, dies Gefühl für höchsten Lebensjubel


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[0101] Der Grund liegt tief. Unsere neueren und jetzt mehr und mehr zur Wirkung gelangenden Dichter sind sämtlich nicht allein durch die Schule einer verfeinerten Psychologie und Sensibilität gegangen, sondern haben auch alle philosophisch¬ religiösen Probleme methodisch durchdacht, durchkämpft. In dieser Hinsicht gehört ein Jakob Wassermann bereits der älteren Generation an; seine Welt ist noch ausschließlich die Welt der sezierenden Psychologie, gebannt an ein Erleben und Geschehen in der Umwelt künstlerischen Schaffens und Denkens. Sein neuer Roman „Das Gänsemännchen" (S. Fischer, Berlin) mit dem Gottfried Bürger- Motiv ist noch durchaus auf psychologischer Kunst aufgebaut, wächst hier öfters zu großer dichterischer Schönheit enipor und offenbart ein Kmistideal von seltener Größe, verliert sich als Ganzes jedoch merkwürdig breit ins Empirisch-Einzelne, so daß man mehr und mehr das Gefühl hat: das analysierende Moment in Wassermanns Talent verdrängt das gestaltende. Dennoch bereichert der Roman gerade durch seine psychologisch- und kunsttheoretischcn Inhalte. Er gehört freilich nicht zu der Gattung Bücher, die an den Grundvesten des Seins rütteln, denn der erzählte Einzelfall vom Manne, der zwei Schwestern in Liebe besitzt, und vom verkannten Musikgenie hat nichts Typisches an sich. Erst die Er¬ weiterung des einzelnen ins Typische aber stellt die Frage ans Sein. Wie etwa bei Gustav Meyrinks jetzt viel genanntem „Goten" (Kurt Wolff, Leipzig). Hier wird gewiß mit wundervoller Phantastik ein Einzelleben in eine alte Sage verknüpft und in eine romantische Umwelt spukhafter Enge und Furchtbarkeit, in die dumpfe Welt des Prager Ghetto und in das Reich blutigen Verbrechens gebannt, so daß sich das Stoffliche des Buches, der erste Anreiz für die meisten Käufer, fast überschlägt. Und doch erhebt sich dieser in die Form eines Traumes gehüllte abenteuerreiche Roman, dessen Mord-, Dirnen- und Spukatmosphäre glänzend eingefangen ist, zu einer geistigen Offenbarung: das Rätsel des Jchbewußtseins in Diesseits und Jenseits, die metaphysische Welt als Gehalt der Menschenseele wird ergründet und zum Bilde einer nach Weisheit strebenden Weltanschauung verwoben. Meyrink enthüllt oft in schaudernd schöner Phantastik, oft als bedeutendster Erzähler wie z. B. in der Episode vom Verbrecherbataillon, Abgründe des Seelischen, an denen der einzelne meist scheu vorbeieilt. Und er enthüllt sie mit philosophischer Systematik trotz der starken Wucherung alles Episodischen in seiner einzig- und eigenartigen Romantik. Die Wucherung des Episodischen kennzeichnet auch Leonhard Franks ersten Roman „Die Räuberbande". Im Gegensatz dazu ist seine neue Erzählung „Die Ursache" (Georg Müller, München) durchaus systematische Konzentration und darum viel stärker in der Wirkung als das erste Buch, das bereits das bedeutende Talent Franks verriet. Dieser Dichter wird, wenn er erst einmal über das Thema einer durch Lehrerstumpfsinn hingemordeten Jugend hinaus¬ gewachsen ist, bei seiner Selbstzucht noch Bedeutendes leisten. Die elementare Leidenschaftlichkeit, die auch aus der „Ursache", dieser qualvollen Behandlung eines Mordes und seiner Sühne, quillt, dies Gefühl für höchsten Lebensjubel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/101>, abgerufen am 22.12.2024.