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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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innerhalb der energischen Auseinandersetzung mit dem Sein und Menschentum,
ausgesprochen mit dein Ziele, zur Lcbensfrohheit aufzusteigen. Die ältere
Generation aber wandelte sich, oder glaubte vielfach, sich wandeln zu müssen,
reichte jedenfalls der Jugend die Hand, warf wie sie jede Einseitigkeit auf
Grund der erkannten Haltlosigkeit ihres absoluten Individualismus hinter sich
und strebte wieder mit schöner Gebärde im Strome der einigen Allgemeinheit
echtester Allseitigkeit nach, so daß man bei Betrachtung der augenblicklichen
literarischen Lage das Bild eines einheitlichen Stromes nicht verlieren kann,
aus dem sich natürlich die einzelne literarische Erscheinung als Welle gesondert
erhebt. Man empfindet das frisch bewegte Leben im Strome; sein mattes
Gleiten und Schleichen, das durch allerlei KünstlickMten des Wellenschlages
vor dem Kriege auffiel, hat so gut wie ganz aufgehört. Man darf sich be¬
rechtigten Hoffnungen hingeben.

Ganz in der Zeit und Welt vor dem Kriege wurzelt ein Dichter, dessen
Name jetzt, auch infolge der Verleihung des Fontäne-Preises, viel genannt
worden ist: Carl Sternheim. Seine "Drei Erzählungen" (Kurt Wolff Verlag,
Leipzig), noch vor dem Kriege entstanden, atmen die Luft stelzensteifer Literaten-
kunst, streben mit strengster, raffiniertester Stilfreude nach einer Lebensoffenbarung
und -erkenntnis nur auf Grund kritischer Verstandeskräfte. Sie wirken infolge¬
dessen erkältend bei allen seelischen Erschütterungen und sie streifen in der Anschauung
fast die Satire, die verneint. Sie bedeuten eine scharfe Absage nicht bloß an
die bürgerliche Philisterwelt, sondern an den einfachen Menschen überhaupt, der
sich mit seinen Mitteln sein Leben baut und das Dasein nicht nach der höheren
geistigen Wirklichkeit über dem Alltag abschätzen kann. Voll grausamer Dramatiker¬
schärfe ist Sternheim in dieser Enthüllung seines Urteils über die Menschen,
die er der nadelscharfen Lächerlichkeit klarster Erkenntnis preisgibt. Nur einmal
gestaltet er auch, im "Napoleon" pariserischer Küchenkunst, den Typus, der sich
zur inneren Freiheit hindurchringt; sonst geht für Sternheim der Alltagsmensch,
typisch gesehen im Bilde eines Schutzmanns, eines eingebildeten musikalischen
Genies, rettungslos zugrunde. In Betracht der inneren Einheit der Sternheim-
schen Motive wie der Konzentration der Erzählungsführung hat der Prager
Franz Kafka, dem der ältere Dichter die Preissumme der Fontaneehrung zu¬
sprach, von dem Vater des "Bürger Schippel" gelernt. Seine Novellen "Der
Heizer" und "Die Verwandlung" (ebenda) sind ganz ähnlich angelegt und
durchgeführt auf Grund der Gegensätzlichkeit des bürgerlichen Seins und der
höheren geistigen Welt. Aber in Kafka sind stärkere Gefühls- und Gemütswerte
lebendig. Seine Kunst kommt infolgedessen zu größerer Wirkung, kann zum
Erlebnis (nicht bloß zur Erkenntnis wie bei Sternheim) werden. Besonders
in der "Verwandlung", einer meisterhaften Groteske voll dumpfen Entsetzens
über die Unbegreiflichkeit des Seins und der Zusammenhänge von Mensch zu
Mensch. Es spricht ein Stück tief pessimistischer Weltanschauung aus dem be.
wundernswert einheitlich erzählten Werkchen.


innerhalb der energischen Auseinandersetzung mit dem Sein und Menschentum,
ausgesprochen mit dein Ziele, zur Lcbensfrohheit aufzusteigen. Die ältere
Generation aber wandelte sich, oder glaubte vielfach, sich wandeln zu müssen,
reichte jedenfalls der Jugend die Hand, warf wie sie jede Einseitigkeit auf
Grund der erkannten Haltlosigkeit ihres absoluten Individualismus hinter sich
und strebte wieder mit schöner Gebärde im Strome der einigen Allgemeinheit
echtester Allseitigkeit nach, so daß man bei Betrachtung der augenblicklichen
literarischen Lage das Bild eines einheitlichen Stromes nicht verlieren kann,
aus dem sich natürlich die einzelne literarische Erscheinung als Welle gesondert
erhebt. Man empfindet das frisch bewegte Leben im Strome; sein mattes
Gleiten und Schleichen, das durch allerlei KünstlickMten des Wellenschlages
vor dem Kriege auffiel, hat so gut wie ganz aufgehört. Man darf sich be¬
rechtigten Hoffnungen hingeben.

Ganz in der Zeit und Welt vor dem Kriege wurzelt ein Dichter, dessen
Name jetzt, auch infolge der Verleihung des Fontäne-Preises, viel genannt
worden ist: Carl Sternheim. Seine „Drei Erzählungen" (Kurt Wolff Verlag,
Leipzig), noch vor dem Kriege entstanden, atmen die Luft stelzensteifer Literaten-
kunst, streben mit strengster, raffiniertester Stilfreude nach einer Lebensoffenbarung
und -erkenntnis nur auf Grund kritischer Verstandeskräfte. Sie wirken infolge¬
dessen erkältend bei allen seelischen Erschütterungen und sie streifen in der Anschauung
fast die Satire, die verneint. Sie bedeuten eine scharfe Absage nicht bloß an
die bürgerliche Philisterwelt, sondern an den einfachen Menschen überhaupt, der
sich mit seinen Mitteln sein Leben baut und das Dasein nicht nach der höheren
geistigen Wirklichkeit über dem Alltag abschätzen kann. Voll grausamer Dramatiker¬
schärfe ist Sternheim in dieser Enthüllung seines Urteils über die Menschen,
die er der nadelscharfen Lächerlichkeit klarster Erkenntnis preisgibt. Nur einmal
gestaltet er auch, im „Napoleon" pariserischer Küchenkunst, den Typus, der sich
zur inneren Freiheit hindurchringt; sonst geht für Sternheim der Alltagsmensch,
typisch gesehen im Bilde eines Schutzmanns, eines eingebildeten musikalischen
Genies, rettungslos zugrunde. In Betracht der inneren Einheit der Sternheim-
schen Motive wie der Konzentration der Erzählungsführung hat der Prager
Franz Kafka, dem der ältere Dichter die Preissumme der Fontaneehrung zu¬
sprach, von dem Vater des „Bürger Schippel" gelernt. Seine Novellen „Der
Heizer" und „Die Verwandlung" (ebenda) sind ganz ähnlich angelegt und
durchgeführt auf Grund der Gegensätzlichkeit des bürgerlichen Seins und der
höheren geistigen Welt. Aber in Kafka sind stärkere Gefühls- und Gemütswerte
lebendig. Seine Kunst kommt infolgedessen zu größerer Wirkung, kann zum
Erlebnis (nicht bloß zur Erkenntnis wie bei Sternheim) werden. Besonders
in der „Verwandlung", einer meisterhaften Groteske voll dumpfen Entsetzens
über die Unbegreiflichkeit des Seins und der Zusammenhänge von Mensch zu
Mensch. Es spricht ein Stück tief pessimistischer Weltanschauung aus dem be.
wundernswert einheitlich erzählten Werkchen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/100>, abgerufen am 27.07.2024.