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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst

und tiefste Seelenwundheit, dies inbrünstige Streben nach hoher Geistigkeit und
reiner Menschlichkeit, sind die fruchtbaren Teile von Franks Wesen, die sich,
so hoffen wir, von den bitteren Phantasten und Erlebnissen nicht überwinden
lassen, sondern zur bejahenden Sachlichkeit hindurchringen. Zu einer Sachlichkeit
etwa im Stile der jungen Dichter und Maler, die sich "Werkleute auf Haus
Nyland" nennen.

Ihre Sachlichkeit hat freilich auffallende Grenzen. Sie erweist ihr neues,
ihrem Grundsatz gemäß anonym erschienenes Werk: die Finanznovelle "Der
Fenriswolf" (Eugen Diederichs, Jena). Ich muß gestehen, die "eisernen
Sonette" der Werkleute waren mir lieber. Hier ist die Kunst doch gar
zu sehr in die Gewalt eines Verstandesprogramms gezwängt, das nicht
einmal neu ist. Denn im Grunde bedeutet die erhobene Forderung
nach reinster Sachlichkeit nur eine Wiederholung einstigen naturalistischen
Sirebens. Die Mittel, die stilistischen, sind freilich andere geworden. Sach¬
lichkeit sowohl in der Aufzeichnung des tatsächlichen Seins wie auch in der
Offenbarung des geistigen Seins und der Dynamik der betreffenden Sache "ohne
Sentimentalität und Mätzchen" -- strebt sie nicht jeder künstlerisch arbeitende
Dichter, der alle Publikumswirkungen verachtet, an? Ich habe das Gefühl,
als sei der "Fenriswolf", der den Geschäftsbriefwechsel eines Bankkonsortiums
zum Zwecke der Ausnutzung norwegischer Wasserkräfte und den Kampf gegen
das Staatsmonopol in lebendiger Steigerung und Handlung wiedergibt, zum
größten Teil als Protest gegen Kellermanns "Tunnel" entstanden, gegen den
die Novelle künstlerische Vorrechte hat, weil sie gegen eine falsche Romantik
angeht, wenngleich man doch spürt, wie auch die "Werkleute auf Haus Nyland"
ein leise romantisches Verhältnis zur Gegenwart haben. Immerhin kann es
nicht schaden, wenn die Forderung nach Sachlichkeit einmal wieder geschmackvoll
wie hier erhoben wird, zumal da sie sich auch als Ergebnis des Kriegserlebens
mehr und mehr herauskristallisiert.

Mehr als uns wohltut, hat Clara Viebig bisweilen den ihr sonst so gut
anstehenden Stil der Sachlichkeit verlassen. Auch in ihrem neuen Buche "Eine
Handvoll Erde" (Egon Fleischel u. Co., Berlin) kommt sie nicht ganz ohne die
Requisiten der Unterhaltungsliteratur aus. Aber diese kleinen Mängel ver¬
schwinden doch ganz neben der Größe der Anschauung und der Aufgabe, der
Gesinnung und der Idee dieses lebensvollen Buches, das ein Ruf an die
Öffentlichkeit ist, der nicht ungehört verhallen darf. Clara Viebig leistet hier
Vaterlandsdienst auf ihre großzügige Weise. Sie schafft aus tiefstem Erleben
und reinsten Erbarmen ein ergreifendes Epos von der Sehnsucht des Großstadt¬
menschen nach einem eigenen Fleckchen Erde in freier Luft und froher Sonne,
nach einem Stück Natur als Eigenbesttz, ein Epos von der Sehnsucht, die in
Berlins Laubenkolonien so gesunden und doch so traurig-trostlosen Ausdruck
findet. Clara Viebig kann diese Sehnsucht gestalten, wie sie im Volke und wie
sie in bessergestelltm Kreisen erscheint. Und sie gestaltet sie als lebenbeherrschende


Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst

und tiefste Seelenwundheit, dies inbrünstige Streben nach hoher Geistigkeit und
reiner Menschlichkeit, sind die fruchtbaren Teile von Franks Wesen, die sich,
so hoffen wir, von den bitteren Phantasten und Erlebnissen nicht überwinden
lassen, sondern zur bejahenden Sachlichkeit hindurchringen. Zu einer Sachlichkeit
etwa im Stile der jungen Dichter und Maler, die sich „Werkleute auf Haus
Nyland" nennen.

Ihre Sachlichkeit hat freilich auffallende Grenzen. Sie erweist ihr neues,
ihrem Grundsatz gemäß anonym erschienenes Werk: die Finanznovelle „Der
Fenriswolf" (Eugen Diederichs, Jena). Ich muß gestehen, die „eisernen
Sonette" der Werkleute waren mir lieber. Hier ist die Kunst doch gar
zu sehr in die Gewalt eines Verstandesprogramms gezwängt, das nicht
einmal neu ist. Denn im Grunde bedeutet die erhobene Forderung
nach reinster Sachlichkeit nur eine Wiederholung einstigen naturalistischen
Sirebens. Die Mittel, die stilistischen, sind freilich andere geworden. Sach¬
lichkeit sowohl in der Aufzeichnung des tatsächlichen Seins wie auch in der
Offenbarung des geistigen Seins und der Dynamik der betreffenden Sache „ohne
Sentimentalität und Mätzchen" — strebt sie nicht jeder künstlerisch arbeitende
Dichter, der alle Publikumswirkungen verachtet, an? Ich habe das Gefühl,
als sei der „Fenriswolf", der den Geschäftsbriefwechsel eines Bankkonsortiums
zum Zwecke der Ausnutzung norwegischer Wasserkräfte und den Kampf gegen
das Staatsmonopol in lebendiger Steigerung und Handlung wiedergibt, zum
größten Teil als Protest gegen Kellermanns „Tunnel" entstanden, gegen den
die Novelle künstlerische Vorrechte hat, weil sie gegen eine falsche Romantik
angeht, wenngleich man doch spürt, wie auch die „Werkleute auf Haus Nyland"
ein leise romantisches Verhältnis zur Gegenwart haben. Immerhin kann es
nicht schaden, wenn die Forderung nach Sachlichkeit einmal wieder geschmackvoll
wie hier erhoben wird, zumal da sie sich auch als Ergebnis des Kriegserlebens
mehr und mehr herauskristallisiert.

Mehr als uns wohltut, hat Clara Viebig bisweilen den ihr sonst so gut
anstehenden Stil der Sachlichkeit verlassen. Auch in ihrem neuen Buche „Eine
Handvoll Erde" (Egon Fleischel u. Co., Berlin) kommt sie nicht ganz ohne die
Requisiten der Unterhaltungsliteratur aus. Aber diese kleinen Mängel ver¬
schwinden doch ganz neben der Größe der Anschauung und der Aufgabe, der
Gesinnung und der Idee dieses lebensvollen Buches, das ein Ruf an die
Öffentlichkeit ist, der nicht ungehört verhallen darf. Clara Viebig leistet hier
Vaterlandsdienst auf ihre großzügige Weise. Sie schafft aus tiefstem Erleben
und reinsten Erbarmen ein ergreifendes Epos von der Sehnsucht des Großstadt¬
menschen nach einem eigenen Fleckchen Erde in freier Luft und froher Sonne,
nach einem Stück Natur als Eigenbesttz, ein Epos von der Sehnsucht, die in
Berlins Laubenkolonien so gesunden und doch so traurig-trostlosen Ausdruck
findet. Clara Viebig kann diese Sehnsucht gestalten, wie sie im Volke und wie
sie in bessergestelltm Kreisen erscheint. Und sie gestaltet sie als lebenbeherrschende


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[0102] Dichterische und unterhaltende Lrzählungskunst und tiefste Seelenwundheit, dies inbrünstige Streben nach hoher Geistigkeit und reiner Menschlichkeit, sind die fruchtbaren Teile von Franks Wesen, die sich, so hoffen wir, von den bitteren Phantasten und Erlebnissen nicht überwinden lassen, sondern zur bejahenden Sachlichkeit hindurchringen. Zu einer Sachlichkeit etwa im Stile der jungen Dichter und Maler, die sich „Werkleute auf Haus Nyland" nennen. Ihre Sachlichkeit hat freilich auffallende Grenzen. Sie erweist ihr neues, ihrem Grundsatz gemäß anonym erschienenes Werk: die Finanznovelle „Der Fenriswolf" (Eugen Diederichs, Jena). Ich muß gestehen, die „eisernen Sonette" der Werkleute waren mir lieber. Hier ist die Kunst doch gar zu sehr in die Gewalt eines Verstandesprogramms gezwängt, das nicht einmal neu ist. Denn im Grunde bedeutet die erhobene Forderung nach reinster Sachlichkeit nur eine Wiederholung einstigen naturalistischen Sirebens. Die Mittel, die stilistischen, sind freilich andere geworden. Sach¬ lichkeit sowohl in der Aufzeichnung des tatsächlichen Seins wie auch in der Offenbarung des geistigen Seins und der Dynamik der betreffenden Sache „ohne Sentimentalität und Mätzchen" — strebt sie nicht jeder künstlerisch arbeitende Dichter, der alle Publikumswirkungen verachtet, an? Ich habe das Gefühl, als sei der „Fenriswolf", der den Geschäftsbriefwechsel eines Bankkonsortiums zum Zwecke der Ausnutzung norwegischer Wasserkräfte und den Kampf gegen das Staatsmonopol in lebendiger Steigerung und Handlung wiedergibt, zum größten Teil als Protest gegen Kellermanns „Tunnel" entstanden, gegen den die Novelle künstlerische Vorrechte hat, weil sie gegen eine falsche Romantik angeht, wenngleich man doch spürt, wie auch die „Werkleute auf Haus Nyland" ein leise romantisches Verhältnis zur Gegenwart haben. Immerhin kann es nicht schaden, wenn die Forderung nach Sachlichkeit einmal wieder geschmackvoll wie hier erhoben wird, zumal da sie sich auch als Ergebnis des Kriegserlebens mehr und mehr herauskristallisiert. Mehr als uns wohltut, hat Clara Viebig bisweilen den ihr sonst so gut anstehenden Stil der Sachlichkeit verlassen. Auch in ihrem neuen Buche „Eine Handvoll Erde" (Egon Fleischel u. Co., Berlin) kommt sie nicht ganz ohne die Requisiten der Unterhaltungsliteratur aus. Aber diese kleinen Mängel ver¬ schwinden doch ganz neben der Größe der Anschauung und der Aufgabe, der Gesinnung und der Idee dieses lebensvollen Buches, das ein Ruf an die Öffentlichkeit ist, der nicht ungehört verhallen darf. Clara Viebig leistet hier Vaterlandsdienst auf ihre großzügige Weise. Sie schafft aus tiefstem Erleben und reinsten Erbarmen ein ergreifendes Epos von der Sehnsucht des Großstadt¬ menschen nach einem eigenen Fleckchen Erde in freier Luft und froher Sonne, nach einem Stück Natur als Eigenbesttz, ein Epos von der Sehnsucht, die in Berlins Laubenkolonien so gesunden und doch so traurig-trostlosen Ausdruck findet. Clara Viebig kann diese Sehnsucht gestalten, wie sie im Volke und wie sie in bessergestelltm Kreisen erscheint. Und sie gestaltet sie als lebenbeherrschende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/102>, abgerufen am 22.12.2024.