Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Naumann oder Bartsch? berührt. Nur die Tieferblickenden haben davon gesprochen, und doch liegt ge¬ Friedrich Naumann, der eigentliche Vorkämpfer des Gedankens vom geeinigten Man gewinnt aus Naumanns Buche den Eindruck, daß er in der Tat *) R, H. Bartsch, Das deutsche Volk in schwerer Zeit, Berlin (Ullstem) 1916. --
Fr. Naumann, Mitteleuropa, Berlin (Reimer) 1915. Der hohe Wert dieses Buches, das kein Deutscher ohne reiche Belehrung und Anregung aus der Hand legen wird, soll durch die obige Erörterung nicht in Frage gestellt werden. Aber man sollte es mit dem angedeuteten Vorbehalt lesen. Naumann oder Bartsch? berührt. Nur die Tieferblickenden haben davon gesprochen, und doch liegt ge¬ Friedrich Naumann, der eigentliche Vorkämpfer des Gedankens vom geeinigten Man gewinnt aus Naumanns Buche den Eindruck, daß er in der Tat *) R, H. Bartsch, Das deutsche Volk in schwerer Zeit, Berlin (Ullstem) 1916. —
Fr. Naumann, Mitteleuropa, Berlin (Reimer) 1915. Der hohe Wert dieses Buches, das kein Deutscher ohne reiche Belehrung und Anregung aus der Hand legen wird, soll durch die obige Erörterung nicht in Frage gestellt werden. Aber man sollte es mit dem angedeuteten Vorbehalt lesen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0366" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330034"/> <fw type="header" place="top"> Naumann oder Bartsch?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1233" prev="#ID_1232"> berührt. Nur die Tieferblickenden haben davon gesprochen, und doch liegt ge¬<lb/> rade hier der unlösbare Rest, der nach sachgemäßer Kalkulation und entsprechender<lb/> Regelung des Wirtschaftlichen übrig bleibt. Und die Auffassungen über diesen<lb/> Punkt sind betrüblich weit voneinander. Ihre Typen sehe ich in Bartsch und<lb/> Naumann*).</p><lb/> <p xml:id="ID_1234"> Friedrich Naumann, der eigentliche Vorkämpfer des Gedankens vom geeinigten<lb/> Mitteleuropa, mußte auf das Problem der seelischen Wirkungen durch seinen<lb/> klaren Kopf ebenso geführt werden wie durch sein warmes Empfinden. Aber<lb/> ihm ist das Wirtschaftliche doch so sehr das Bezeichnende für alle Arten staat¬<lb/> licher Zusammenschlüsse in der Gegenwart, daß er auf die nationalen, die<lb/> menschlichen, die seelischen Vorgänge als auf etwas hinblickt, das ja auch vor¬<lb/> handen ist, das sich aber von selbst regeln muß, wenn erst die Hauptsache, die<lb/> Wirtschaft, erledigt ist. Bezeichnend ist für ihn, daß er von einer „Wirtschafts¬<lb/> konfession" der Mitteleuropäer spricht, ausdrücklich von einer Konfession, also<lb/> das Wirtschaftliche an die Stelle dessen setzt, was durchaus ein Ausfluß des<lb/> seelischen Befundes sein muß und von jeher gewesen ist, und was um seiner<lb/> seelischen Unumgänglichkeit willen jahrhundertelang die Menschen in Kämpfe<lb/> um Leben und Tod verwickelt hat. Glaubt Naumann wirklich, daß die moderne<lb/> organisatorische Wirtschaftsform, der Ausdruck materiellen Bedürfnisses und<lb/> seiner Stillung, uns je so ans Herz greifen kann wie unseren Altvorderen die<lb/> Konfession, der Ausdruck ihres seelischen Bedürfnisses?</p><lb/> <p xml:id="ID_1235" next="#ID_1236"> Man gewinnt aus Naumanns Buche den Eindruck, daß er in der Tat<lb/> an ein solches Tiefgreifen des Wirtschaftlichen glaubt. Wie einst aus dem<lb/> religiösen Bekenntnis die ganze politische und soziale Struktur der menschlichen<lb/> Gemeinschaften und der geistige Zustand des einzelnen seine Richtung empfing,<lb/> so sieht Naumann in dem Übertritt zu seinem wirtschaftlichen Bekenntnis nicht<lb/> nur einen politisch und sozial wirksamen, sondern einen „seelenverändernden<lb/> Entschluß". Mir scheint dieser Ausspruch in seiner Ausschließlichkeit auf einem<lb/> Sehfehler zu beruhen, der sich leicht einstellt bei Leuten, die sich übermäßig<lb/> und einseitig mit Wirtschaftsproblemen beschäftigen; eine Art Zwangsvorstellung.<lb/> Natürlich ist das Wirtschaftliche nicht zu unterschätzen, es ist die Grundlage<lb/> unserer physischen Existenz als Einzelwesen und als Volk, und seine Wichtigkeit<lb/> ist uns nie handgreiflicher geworden als in diesem Kriege. Aber s» sehr sich<lb/> Mensch und Volk mit seiner auf Erzeugung wirtschaftlicher Werte gerichteten<lb/> Arbeit verwachsen fühlen kann — niemand wird von solcher Arbeit sagen können,<lb/> sie fülle den ganzen Menschen aus, oder es gebe nichts, was der Mensch als<lb/> höher und heiliger empfinde. Im Gegenteil wird der Mensch, je wertvoller</p><lb/> <note xml:id="FID_25" place="foot"> *) R, H. Bartsch, Das deutsche Volk in schwerer Zeit, Berlin (Ullstem) 1916. —<lb/> Fr. Naumann, Mitteleuropa, Berlin (Reimer) 1915. Der hohe Wert dieses Buches, das kein<lb/> Deutscher ohne reiche Belehrung und Anregung aus der Hand legen wird, soll durch die<lb/> obige Erörterung nicht in Frage gestellt werden. Aber man sollte es mit dem angedeuteten<lb/> Vorbehalt lesen.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0366]
Naumann oder Bartsch?
berührt. Nur die Tieferblickenden haben davon gesprochen, und doch liegt ge¬
rade hier der unlösbare Rest, der nach sachgemäßer Kalkulation und entsprechender
Regelung des Wirtschaftlichen übrig bleibt. Und die Auffassungen über diesen
Punkt sind betrüblich weit voneinander. Ihre Typen sehe ich in Bartsch und
Naumann*).
Friedrich Naumann, der eigentliche Vorkämpfer des Gedankens vom geeinigten
Mitteleuropa, mußte auf das Problem der seelischen Wirkungen durch seinen
klaren Kopf ebenso geführt werden wie durch sein warmes Empfinden. Aber
ihm ist das Wirtschaftliche doch so sehr das Bezeichnende für alle Arten staat¬
licher Zusammenschlüsse in der Gegenwart, daß er auf die nationalen, die
menschlichen, die seelischen Vorgänge als auf etwas hinblickt, das ja auch vor¬
handen ist, das sich aber von selbst regeln muß, wenn erst die Hauptsache, die
Wirtschaft, erledigt ist. Bezeichnend ist für ihn, daß er von einer „Wirtschafts¬
konfession" der Mitteleuropäer spricht, ausdrücklich von einer Konfession, also
das Wirtschaftliche an die Stelle dessen setzt, was durchaus ein Ausfluß des
seelischen Befundes sein muß und von jeher gewesen ist, und was um seiner
seelischen Unumgänglichkeit willen jahrhundertelang die Menschen in Kämpfe
um Leben und Tod verwickelt hat. Glaubt Naumann wirklich, daß die moderne
organisatorische Wirtschaftsform, der Ausdruck materiellen Bedürfnisses und
seiner Stillung, uns je so ans Herz greifen kann wie unseren Altvorderen die
Konfession, der Ausdruck ihres seelischen Bedürfnisses?
Man gewinnt aus Naumanns Buche den Eindruck, daß er in der Tat
an ein solches Tiefgreifen des Wirtschaftlichen glaubt. Wie einst aus dem
religiösen Bekenntnis die ganze politische und soziale Struktur der menschlichen
Gemeinschaften und der geistige Zustand des einzelnen seine Richtung empfing,
so sieht Naumann in dem Übertritt zu seinem wirtschaftlichen Bekenntnis nicht
nur einen politisch und sozial wirksamen, sondern einen „seelenverändernden
Entschluß". Mir scheint dieser Ausspruch in seiner Ausschließlichkeit auf einem
Sehfehler zu beruhen, der sich leicht einstellt bei Leuten, die sich übermäßig
und einseitig mit Wirtschaftsproblemen beschäftigen; eine Art Zwangsvorstellung.
Natürlich ist das Wirtschaftliche nicht zu unterschätzen, es ist die Grundlage
unserer physischen Existenz als Einzelwesen und als Volk, und seine Wichtigkeit
ist uns nie handgreiflicher geworden als in diesem Kriege. Aber s» sehr sich
Mensch und Volk mit seiner auf Erzeugung wirtschaftlicher Werte gerichteten
Arbeit verwachsen fühlen kann — niemand wird von solcher Arbeit sagen können,
sie fülle den ganzen Menschen aus, oder es gebe nichts, was der Mensch als
höher und heiliger empfinde. Im Gegenteil wird der Mensch, je wertvoller
*) R, H. Bartsch, Das deutsche Volk in schwerer Zeit, Berlin (Ullstem) 1916. —
Fr. Naumann, Mitteleuropa, Berlin (Reimer) 1915. Der hohe Wert dieses Buches, das kein
Deutscher ohne reiche Belehrung und Anregung aus der Hand legen wird, soll durch die
obige Erörterung nicht in Frage gestellt werden. Aber man sollte es mit dem angedeuteten
Vorbehalt lesen.
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