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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen

falsche Schlüsse daraus ziehen und Anordnungen treffen können, die zwar
angebracht wären, wenn die Sachlage so wäre, wie sie nach den Zeitungs¬
notizen usw. erscheint, die aber unter den wirklichen Verhältnissen nur als zweck¬
widrig bezeichnet werden können.

Deshalb scheint es angebracht, einmal die Frage aufzuwerfen, welche
sicheren Materialien uns denn überhaupt bisher zur Verfügung stehen, um
dem Problem der Kriegskriminalität der Jugendlichen auf den Grund zu kommen.

Das, was bisher veröffentlicht worden ist, ist nicht gerade viel. Außer
über einige wertvolle Ausführungen des bayerischen Staatsministers des Innern
in der Kammer der Abgeordneten, einige in verschiedenen Zeitschriften zer¬
streute Angaben von Jugendrichtern größerer Städte, verfügen wir lediglich
über die dankenswerten Angaben, die die "Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge"
in Berlin von den Jugendgerichtshilfen einer Reihe deutscher Städte erhalten
hat. Allzuviel ist das nicht. Durch eine vor einigen Monaten an Jugend¬
gerichte und Polizeibehörden gerichtete Umfrage, die meistens in liebenswürdigster
Weise beantwortet worden ist, habe ich eine ganze Reihe weiterer einschlägiger
Materialien erhalten, durch die das Problem schon besser erkennbar wird.
Dennoch bin ich mir dessen gar wohl bewußt, daß auch diese erweiterten
Materialien zur endgültigen Beantwortung der schwierigen Frage der Kriegs¬
kriminalität der Jugendlichen noch nicht ausreichen.

Aus den vorhandenen Materialien scheint soviel mit Sicherheit hervorzugehen,
daß die Ziffern der vor das Jugendgericht gestellten Jugendlichen in den ersten
Monaten des Krieges anscheinend fast überall abgenommen, dann aber all¬
mählich wieder zugenommen haben und daß diese Zahlen in den letzten Monaten
in der Regel eine Höhe erreicht haben wie noch nie zuvor. Diese Erfahrung
steht, wie gesagt, im allgemeinen auf Grund der vorliegenden Materialien fest.
Es muß aber mit allem Nachdruck betont werden, daß die Bewegung der
statistischen Ziffern auf keinen Fall ohne weiteres der Bewegung der
tatsächlichen Kriminalität gleichgesetzt werden kann. Gilt dies schon sür jede
kriminalstatistische Untersuchung, so aus verschiedenen Gründen noch um vieles
mehr für statistische Untersuchungen, die das Material der Kriegszeit zum
Gegenstand haben.

Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß die Klagen über die Zu¬
nahme der jugendlichen Kriminalität wahrend des Krieges durchweg aus den
größeren Städten kommen, wo aus verschiedenen Gründen die Verhältnisse
gerade zur Kriegszeit besonders ungünstig liegen.

In den Städten ist die Jugend ja schon im Frieden größeren Versuchungen
ausgesetzt als die Landjugend. Die vielfache Beschränkung des Unterrichts --
die auch gerade in den größeren Städten in die Erscheinung treten dürfte --
die Abwesenheit des Vaters, der im Felde steht, die Erwerbsarbeit der Mutter,
die sie vom Hause vielfach fernhält, der dadurch ermöglichte Müßiggang, das
unbeaufsichtigte Herunitreiben auf der Straße, in allerlei zweifelhaften Kino-


Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen

falsche Schlüsse daraus ziehen und Anordnungen treffen können, die zwar
angebracht wären, wenn die Sachlage so wäre, wie sie nach den Zeitungs¬
notizen usw. erscheint, die aber unter den wirklichen Verhältnissen nur als zweck¬
widrig bezeichnet werden können.

Deshalb scheint es angebracht, einmal die Frage aufzuwerfen, welche
sicheren Materialien uns denn überhaupt bisher zur Verfügung stehen, um
dem Problem der Kriegskriminalität der Jugendlichen auf den Grund zu kommen.

Das, was bisher veröffentlicht worden ist, ist nicht gerade viel. Außer
über einige wertvolle Ausführungen des bayerischen Staatsministers des Innern
in der Kammer der Abgeordneten, einige in verschiedenen Zeitschriften zer¬
streute Angaben von Jugendrichtern größerer Städte, verfügen wir lediglich
über die dankenswerten Angaben, die die „Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge"
in Berlin von den Jugendgerichtshilfen einer Reihe deutscher Städte erhalten
hat. Allzuviel ist das nicht. Durch eine vor einigen Monaten an Jugend¬
gerichte und Polizeibehörden gerichtete Umfrage, die meistens in liebenswürdigster
Weise beantwortet worden ist, habe ich eine ganze Reihe weiterer einschlägiger
Materialien erhalten, durch die das Problem schon besser erkennbar wird.
Dennoch bin ich mir dessen gar wohl bewußt, daß auch diese erweiterten
Materialien zur endgültigen Beantwortung der schwierigen Frage der Kriegs¬
kriminalität der Jugendlichen noch nicht ausreichen.

Aus den vorhandenen Materialien scheint soviel mit Sicherheit hervorzugehen,
daß die Ziffern der vor das Jugendgericht gestellten Jugendlichen in den ersten
Monaten des Krieges anscheinend fast überall abgenommen, dann aber all¬
mählich wieder zugenommen haben und daß diese Zahlen in den letzten Monaten
in der Regel eine Höhe erreicht haben wie noch nie zuvor. Diese Erfahrung
steht, wie gesagt, im allgemeinen auf Grund der vorliegenden Materialien fest.
Es muß aber mit allem Nachdruck betont werden, daß die Bewegung der
statistischen Ziffern auf keinen Fall ohne weiteres der Bewegung der
tatsächlichen Kriminalität gleichgesetzt werden kann. Gilt dies schon sür jede
kriminalstatistische Untersuchung, so aus verschiedenen Gründen noch um vieles
mehr für statistische Untersuchungen, die das Material der Kriegszeit zum
Gegenstand haben.

Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß die Klagen über die Zu¬
nahme der jugendlichen Kriminalität wahrend des Krieges durchweg aus den
größeren Städten kommen, wo aus verschiedenen Gründen die Verhältnisse
gerade zur Kriegszeit besonders ungünstig liegen.

In den Städten ist die Jugend ja schon im Frieden größeren Versuchungen
ausgesetzt als die Landjugend. Die vielfache Beschränkung des Unterrichts —
die auch gerade in den größeren Städten in die Erscheinung treten dürfte —
die Abwesenheit des Vaters, der im Felde steht, die Erwerbsarbeit der Mutter,
die sie vom Hause vielfach fernhält, der dadurch ermöglichte Müßiggang, das
unbeaufsichtigte Herunitreiben auf der Straße, in allerlei zweifelhaften Kino-


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[0352] Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen falsche Schlüsse daraus ziehen und Anordnungen treffen können, die zwar angebracht wären, wenn die Sachlage so wäre, wie sie nach den Zeitungs¬ notizen usw. erscheint, die aber unter den wirklichen Verhältnissen nur als zweck¬ widrig bezeichnet werden können. Deshalb scheint es angebracht, einmal die Frage aufzuwerfen, welche sicheren Materialien uns denn überhaupt bisher zur Verfügung stehen, um dem Problem der Kriegskriminalität der Jugendlichen auf den Grund zu kommen. Das, was bisher veröffentlicht worden ist, ist nicht gerade viel. Außer über einige wertvolle Ausführungen des bayerischen Staatsministers des Innern in der Kammer der Abgeordneten, einige in verschiedenen Zeitschriften zer¬ streute Angaben von Jugendrichtern größerer Städte, verfügen wir lediglich über die dankenswerten Angaben, die die „Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge" in Berlin von den Jugendgerichtshilfen einer Reihe deutscher Städte erhalten hat. Allzuviel ist das nicht. Durch eine vor einigen Monaten an Jugend¬ gerichte und Polizeibehörden gerichtete Umfrage, die meistens in liebenswürdigster Weise beantwortet worden ist, habe ich eine ganze Reihe weiterer einschlägiger Materialien erhalten, durch die das Problem schon besser erkennbar wird. Dennoch bin ich mir dessen gar wohl bewußt, daß auch diese erweiterten Materialien zur endgültigen Beantwortung der schwierigen Frage der Kriegs¬ kriminalität der Jugendlichen noch nicht ausreichen. Aus den vorhandenen Materialien scheint soviel mit Sicherheit hervorzugehen, daß die Ziffern der vor das Jugendgericht gestellten Jugendlichen in den ersten Monaten des Krieges anscheinend fast überall abgenommen, dann aber all¬ mählich wieder zugenommen haben und daß diese Zahlen in den letzten Monaten in der Regel eine Höhe erreicht haben wie noch nie zuvor. Diese Erfahrung steht, wie gesagt, im allgemeinen auf Grund der vorliegenden Materialien fest. Es muß aber mit allem Nachdruck betont werden, daß die Bewegung der statistischen Ziffern auf keinen Fall ohne weiteres der Bewegung der tatsächlichen Kriminalität gleichgesetzt werden kann. Gilt dies schon sür jede kriminalstatistische Untersuchung, so aus verschiedenen Gründen noch um vieles mehr für statistische Untersuchungen, die das Material der Kriegszeit zum Gegenstand haben. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß die Klagen über die Zu¬ nahme der jugendlichen Kriminalität wahrend des Krieges durchweg aus den größeren Städten kommen, wo aus verschiedenen Gründen die Verhältnisse gerade zur Kriegszeit besonders ungünstig liegen. In den Städten ist die Jugend ja schon im Frieden größeren Versuchungen ausgesetzt als die Landjugend. Die vielfache Beschränkung des Unterrichts — die auch gerade in den größeren Städten in die Erscheinung treten dürfte — die Abwesenheit des Vaters, der im Felde steht, die Erwerbsarbeit der Mutter, die sie vom Hause vielfach fernhält, der dadurch ermöglichte Müßiggang, das unbeaufsichtigte Herunitreiben auf der Straße, in allerlei zweifelhaften Kino-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/352>, abgerufen am 15.01.2025.