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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen

daß die Materialien bei weitem noch nicht ausreichen, um das Problem der
jugendlichen Kriegskriminalität in seinem ganzen Umfange zu lösen, daß aber
bei vorsichtiger Wertung der vorliegenden Tatsachen sich doch schon soviel er¬
gibt, daß ebenso wie in den ersten Monaten die Lobpreisung des sittlich hebenden
Einflusses des Krieges viel zu weit gegangen ist, ebenso auch die in letzter
Zeit immer häufiger werdenden Klagen über die große sittliche Verwahrlosung
infolge des Krieges weit über das zulässige Maß hinausgegangen sind.

Wer sich schon mit Forschungen über die Fragen der ursächlichen Be¬
ziehungen von Verbrechen, insbesondere auch von Straftaten Jugendlicher,
beschäftigt hat, der weiß auch, daß die sogenannte öffentliche Meinung aus
dem verschlungenen Zusammenwirken der verschiedensten Ursachen sich immer
eine herauszugreifen pflegt, die aus irgendeinem Grunde zurzeit gerade in
besonderem Maße das öffentliche Interesse erregt: so sollte vor einigen Jahren,
wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte, fast für ein jedes Ver¬
brechen der Jugendlichen die Schundliteratur verantwortlich sein, dann waren es
in den letzten Jahren die Schundfilme der Kinotheater und augenblicklich ist
aus leicht begreiflichen Gründen der Krieg der allgemeine Sündenbock für alle
wirklichen oder vermeintlichen Schäden, die man in unserem Gesellschaftsleben
glaubt wahrnehmen zu können. Die große Masse vereinfacht sich die schwierigen
und verwickelten Probleme, indem sie entweder die Kompliziertheit gar nicht
gewahr wird oder absichtlich ein einziges Moment, das gegenwärtig besonders
gefühlsbetont für sie ist, herausgreift und so die verschiedenartigsten Fälle über
einen Leisten schlägt. Die gleiche Erscheinung sehen wir übrigens auch, wenn
wir die Geschichte der Volksmedizin kennen, in dem Streben nach einem Allheil¬
mittel, in dem Glauben, ein bestimmtes Mittel oder eine bestimmte Heilmethode
sei gut für alle möglichen Krankheiten. Nur wer tiefer geht, wird die tausenderlei
Verschiedenheiten bei scheinbar völlig gleichen Fällen gewahr, erkennt vor allem
auch die Schranken, die unserer Erkenntnis gesetzt sind.

Nicht nur in Tageszeitungen übrigens, sondern hier und da auch in Zeit¬
schriften, denen man eine bessere Einsicht zutrauen sollte, konnte man derartige
Übertreibungen über die Kriegskriminalität lesen. Nicht nur aus wissenschaft¬
lichen Gründen ist dies sehr bedauerlich, sondern auch aus sehr praktischen.
Zunächst ist es sicher, daß nicht nur die Daheimgebliebenen, sondern vor allem
auch gerade die im Felde stehenden Familienväter vielfach unnötig in Angst
und Sorge versetzt werden. Mögen sie dadurch auch mitunter angeregt werden,
mehr als bisher über ihre Pflichten gegen ihre Kinder nachzusinnen und ihnen,
soweit ihnen dies möglich ist, besser nachzukommen, als vordem, so ist in der
großen Mehrzahl dieser Fälle diese Beunruhigung durch derartige Alarm¬
nachrichten ganz zwecklos, ja zweckwidrig, insbesondere, was die im Felde
stehenden Familienväter anbelangt. Des weiteren aber ist zu beachten, daß
auch die maßgebenden Instanzen, insbesondere die Polizeiverwaltungen und
die stellvertretenden Generalkommandos, Opfer derartiger Übertreibungen werden,


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Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen

daß die Materialien bei weitem noch nicht ausreichen, um das Problem der
jugendlichen Kriegskriminalität in seinem ganzen Umfange zu lösen, daß aber
bei vorsichtiger Wertung der vorliegenden Tatsachen sich doch schon soviel er¬
gibt, daß ebenso wie in den ersten Monaten die Lobpreisung des sittlich hebenden
Einflusses des Krieges viel zu weit gegangen ist, ebenso auch die in letzter
Zeit immer häufiger werdenden Klagen über die große sittliche Verwahrlosung
infolge des Krieges weit über das zulässige Maß hinausgegangen sind.

Wer sich schon mit Forschungen über die Fragen der ursächlichen Be¬
ziehungen von Verbrechen, insbesondere auch von Straftaten Jugendlicher,
beschäftigt hat, der weiß auch, daß die sogenannte öffentliche Meinung aus
dem verschlungenen Zusammenwirken der verschiedensten Ursachen sich immer
eine herauszugreifen pflegt, die aus irgendeinem Grunde zurzeit gerade in
besonderem Maße das öffentliche Interesse erregt: so sollte vor einigen Jahren,
wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte, fast für ein jedes Ver¬
brechen der Jugendlichen die Schundliteratur verantwortlich sein, dann waren es
in den letzten Jahren die Schundfilme der Kinotheater und augenblicklich ist
aus leicht begreiflichen Gründen der Krieg der allgemeine Sündenbock für alle
wirklichen oder vermeintlichen Schäden, die man in unserem Gesellschaftsleben
glaubt wahrnehmen zu können. Die große Masse vereinfacht sich die schwierigen
und verwickelten Probleme, indem sie entweder die Kompliziertheit gar nicht
gewahr wird oder absichtlich ein einziges Moment, das gegenwärtig besonders
gefühlsbetont für sie ist, herausgreift und so die verschiedenartigsten Fälle über
einen Leisten schlägt. Die gleiche Erscheinung sehen wir übrigens auch, wenn
wir die Geschichte der Volksmedizin kennen, in dem Streben nach einem Allheil¬
mittel, in dem Glauben, ein bestimmtes Mittel oder eine bestimmte Heilmethode
sei gut für alle möglichen Krankheiten. Nur wer tiefer geht, wird die tausenderlei
Verschiedenheiten bei scheinbar völlig gleichen Fällen gewahr, erkennt vor allem
auch die Schranken, die unserer Erkenntnis gesetzt sind.

Nicht nur in Tageszeitungen übrigens, sondern hier und da auch in Zeit¬
schriften, denen man eine bessere Einsicht zutrauen sollte, konnte man derartige
Übertreibungen über die Kriegskriminalität lesen. Nicht nur aus wissenschaft¬
lichen Gründen ist dies sehr bedauerlich, sondern auch aus sehr praktischen.
Zunächst ist es sicher, daß nicht nur die Daheimgebliebenen, sondern vor allem
auch gerade die im Felde stehenden Familienväter vielfach unnötig in Angst
und Sorge versetzt werden. Mögen sie dadurch auch mitunter angeregt werden,
mehr als bisher über ihre Pflichten gegen ihre Kinder nachzusinnen und ihnen,
soweit ihnen dies möglich ist, besser nachzukommen, als vordem, so ist in der
großen Mehrzahl dieser Fälle diese Beunruhigung durch derartige Alarm¬
nachrichten ganz zwecklos, ja zweckwidrig, insbesondere, was die im Felde
stehenden Familienväter anbelangt. Des weiteren aber ist zu beachten, daß
auch die maßgebenden Instanzen, insbesondere die Polizeiverwaltungen und
die stellvertretenden Generalkommandos, Opfer derartiger Übertreibungen werden,


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[0351] Kritisches zur Rriegskriminalität der Jugendlichen daß die Materialien bei weitem noch nicht ausreichen, um das Problem der jugendlichen Kriegskriminalität in seinem ganzen Umfange zu lösen, daß aber bei vorsichtiger Wertung der vorliegenden Tatsachen sich doch schon soviel er¬ gibt, daß ebenso wie in den ersten Monaten die Lobpreisung des sittlich hebenden Einflusses des Krieges viel zu weit gegangen ist, ebenso auch die in letzter Zeit immer häufiger werdenden Klagen über die große sittliche Verwahrlosung infolge des Krieges weit über das zulässige Maß hinausgegangen sind. Wer sich schon mit Forschungen über die Fragen der ursächlichen Be¬ ziehungen von Verbrechen, insbesondere auch von Straftaten Jugendlicher, beschäftigt hat, der weiß auch, daß die sogenannte öffentliche Meinung aus dem verschlungenen Zusammenwirken der verschiedensten Ursachen sich immer eine herauszugreifen pflegt, die aus irgendeinem Grunde zurzeit gerade in besonderem Maße das öffentliche Interesse erregt: so sollte vor einigen Jahren, wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte, fast für ein jedes Ver¬ brechen der Jugendlichen die Schundliteratur verantwortlich sein, dann waren es in den letzten Jahren die Schundfilme der Kinotheater und augenblicklich ist aus leicht begreiflichen Gründen der Krieg der allgemeine Sündenbock für alle wirklichen oder vermeintlichen Schäden, die man in unserem Gesellschaftsleben glaubt wahrnehmen zu können. Die große Masse vereinfacht sich die schwierigen und verwickelten Probleme, indem sie entweder die Kompliziertheit gar nicht gewahr wird oder absichtlich ein einziges Moment, das gegenwärtig besonders gefühlsbetont für sie ist, herausgreift und so die verschiedenartigsten Fälle über einen Leisten schlägt. Die gleiche Erscheinung sehen wir übrigens auch, wenn wir die Geschichte der Volksmedizin kennen, in dem Streben nach einem Allheil¬ mittel, in dem Glauben, ein bestimmtes Mittel oder eine bestimmte Heilmethode sei gut für alle möglichen Krankheiten. Nur wer tiefer geht, wird die tausenderlei Verschiedenheiten bei scheinbar völlig gleichen Fällen gewahr, erkennt vor allem auch die Schranken, die unserer Erkenntnis gesetzt sind. Nicht nur in Tageszeitungen übrigens, sondern hier und da auch in Zeit¬ schriften, denen man eine bessere Einsicht zutrauen sollte, konnte man derartige Übertreibungen über die Kriegskriminalität lesen. Nicht nur aus wissenschaft¬ lichen Gründen ist dies sehr bedauerlich, sondern auch aus sehr praktischen. Zunächst ist es sicher, daß nicht nur die Daheimgebliebenen, sondern vor allem auch gerade die im Felde stehenden Familienväter vielfach unnötig in Angst und Sorge versetzt werden. Mögen sie dadurch auch mitunter angeregt werden, mehr als bisher über ihre Pflichten gegen ihre Kinder nachzusinnen und ihnen, soweit ihnen dies möglich ist, besser nachzukommen, als vordem, so ist in der großen Mehrzahl dieser Fälle diese Beunruhigung durch derartige Alarm¬ nachrichten ganz zwecklos, ja zweckwidrig, insbesondere, was die im Felde stehenden Familienväter anbelangt. Des weiteren aber ist zu beachten, daß auch die maßgebenden Instanzen, insbesondere die Polizeiverwaltungen und die stellvertretenden Generalkommandos, Opfer derartiger Übertreibungen werden, 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/351>, abgerufen am 15.01.2025.