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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik

Die Landleutenot hat in England den Zustand einer Kalamität überschritten
und in der Kriegszeit einen derartigen Umfang angenommen, daß man im
Januar 1915 vom Parlament aus den merkwürdigen Vorschlag machte, den An¬
gestellten in Handel und Industrie während der Kriegsdauer nur dann einen
Urlaub zu gewähren, wenn jener auf dem Lande unter Verrichtung ländlicher
Hilfsarbeiten verbracht würde. Seit dem Februar 1915 haben unter den Land¬
arbeitern wiederholt Unruhen stattgefunden, denen sämtlich erhöhte Lohnforderungen
zugrunde lagen. Der Charakter dieser ländlichen Aufstandsbewegungen war so ernster
Natur, daß sogar der Landwirtschaftsminister dafür eintrat, den Landarbeitern
eine Lohnerhöhung von 10 bis 15 Prozent zu bewilligen. Um dem Landarbeiter¬
mangel entgegenzuwirken, hat man den Besitzerstand aufgefordert, von den Arbeits¬
vermittlungen mehr Gebrauch zu machen. Die Landwirte aber sind nicht zu be¬
wegen, mit den Arbeitsnachweisen in Verbindung zu treten, da sie fürchten, daß die
von den Nachweisen angeforderten Kräfte in jeder Beziehung höhere Anforderungen
stellen. Vom Mai bis zum Juli 1915 wurden von den Landwirten nur ins¬
gesamt rund 5000 Kräfte von den Nachweisen angefordert. Man behilft sich
lieber so und das um so mehr, als man nicht in der Lage ist, die Kriegs¬
konjunktur auszunützen. England importiert seit Jahren an Weizen und Weizen¬
mehl etwa den Bedarf von zehn Monaten im Jahre zu einem Preise von rund
einer Milliarde Mark. Derartige Zahlen wirken auf einen Konkurrenzwillen
erdrückend. Rechnet man zu diesen 50 Mill. Lstrl. noch hinzu, daß England
im Durchschnitt an Butter einführt für 23 Mill. Lstrl., an Käse für 7 Mill. Lstrl..
an Eiern für 7 Mill. Lstrl., an Geflügel und Früchten für etwa 3 Mill. Lstrl.,
und erinnert man sich an die Werte, die für die Einfuhr von Speck und Fleisch
(Gefrier- und Kühlware) verausgabt werden, so bekommt man einen ungefähren
Begriff von der Aufgabe, die die englische Landwirtschaft hätte bewältigen
müssen, wenn man von ihr eine Bedarfsdeckung gefordert hätte.

Stellt man sich in absoluter Sachlichkeit die Frage, inwieweit eine durch¬
greifende Vermehrung der Eigenproduktion innerhalb eines kurzen Zeitraumes für
die englische Landwirtschaft überhaupt möglich ist, so kommt man zu den
folgenden Resultaten:

England ist das Land, das in der Ackerbautechnil vorbildlich gewesen ist.
Als die extensive Wirtschaft noch die völlig herrschende war, zeigte die englische
Landwirtschaft bereits eine lebhafte Steigerung der Intensität seiner landwirt¬
schaftlichen Betriebe. England erlebte sein merkantilistisches Zeitalter, als
Deutschland kaum erst aus der Naturalwirtschaft erwachte, es trat mehrere
Menschenalter früher in die modern kapitalistisch-technische Wirtschaft ein und
stand bereits in seiner weltwirtschaftlichen Periode, als in Deutschland die
Territorialwirtschaft erst im Zollverein zu einer einheitlichen Volkswirtschaft zu¬
sammengefaßt wurde. Der als "Norfalker Fruchtwechsel" bekannte agrarische
Bebauungsplan wurde von England aus zu dem allmächtigen Revolutionär im
Landwirtschaftsbetriebe Europas. In der Periode der Kommunalwirtschaft hatte


Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik

Die Landleutenot hat in England den Zustand einer Kalamität überschritten
und in der Kriegszeit einen derartigen Umfang angenommen, daß man im
Januar 1915 vom Parlament aus den merkwürdigen Vorschlag machte, den An¬
gestellten in Handel und Industrie während der Kriegsdauer nur dann einen
Urlaub zu gewähren, wenn jener auf dem Lande unter Verrichtung ländlicher
Hilfsarbeiten verbracht würde. Seit dem Februar 1915 haben unter den Land¬
arbeitern wiederholt Unruhen stattgefunden, denen sämtlich erhöhte Lohnforderungen
zugrunde lagen. Der Charakter dieser ländlichen Aufstandsbewegungen war so ernster
Natur, daß sogar der Landwirtschaftsminister dafür eintrat, den Landarbeitern
eine Lohnerhöhung von 10 bis 15 Prozent zu bewilligen. Um dem Landarbeiter¬
mangel entgegenzuwirken, hat man den Besitzerstand aufgefordert, von den Arbeits¬
vermittlungen mehr Gebrauch zu machen. Die Landwirte aber sind nicht zu be¬
wegen, mit den Arbeitsnachweisen in Verbindung zu treten, da sie fürchten, daß die
von den Nachweisen angeforderten Kräfte in jeder Beziehung höhere Anforderungen
stellen. Vom Mai bis zum Juli 1915 wurden von den Landwirten nur ins¬
gesamt rund 5000 Kräfte von den Nachweisen angefordert. Man behilft sich
lieber so und das um so mehr, als man nicht in der Lage ist, die Kriegs¬
konjunktur auszunützen. England importiert seit Jahren an Weizen und Weizen¬
mehl etwa den Bedarf von zehn Monaten im Jahre zu einem Preise von rund
einer Milliarde Mark. Derartige Zahlen wirken auf einen Konkurrenzwillen
erdrückend. Rechnet man zu diesen 50 Mill. Lstrl. noch hinzu, daß England
im Durchschnitt an Butter einführt für 23 Mill. Lstrl., an Käse für 7 Mill. Lstrl..
an Eiern für 7 Mill. Lstrl., an Geflügel und Früchten für etwa 3 Mill. Lstrl.,
und erinnert man sich an die Werte, die für die Einfuhr von Speck und Fleisch
(Gefrier- und Kühlware) verausgabt werden, so bekommt man einen ungefähren
Begriff von der Aufgabe, die die englische Landwirtschaft hätte bewältigen
müssen, wenn man von ihr eine Bedarfsdeckung gefordert hätte.

Stellt man sich in absoluter Sachlichkeit die Frage, inwieweit eine durch¬
greifende Vermehrung der Eigenproduktion innerhalb eines kurzen Zeitraumes für
die englische Landwirtschaft überhaupt möglich ist, so kommt man zu den
folgenden Resultaten:

England ist das Land, das in der Ackerbautechnil vorbildlich gewesen ist.
Als die extensive Wirtschaft noch die völlig herrschende war, zeigte die englische
Landwirtschaft bereits eine lebhafte Steigerung der Intensität seiner landwirt¬
schaftlichen Betriebe. England erlebte sein merkantilistisches Zeitalter, als
Deutschland kaum erst aus der Naturalwirtschaft erwachte, es trat mehrere
Menschenalter früher in die modern kapitalistisch-technische Wirtschaft ein und
stand bereits in seiner weltwirtschaftlichen Periode, als in Deutschland die
Territorialwirtschaft erst im Zollverein zu einer einheitlichen Volkswirtschaft zu¬
sammengefaßt wurde. Der als „Norfalker Fruchtwechsel" bekannte agrarische
Bebauungsplan wurde von England aus zu dem allmächtigen Revolutionär im
Landwirtschaftsbetriebe Europas. In der Periode der Kommunalwirtschaft hatte


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[0336] Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik Die Landleutenot hat in England den Zustand einer Kalamität überschritten und in der Kriegszeit einen derartigen Umfang angenommen, daß man im Januar 1915 vom Parlament aus den merkwürdigen Vorschlag machte, den An¬ gestellten in Handel und Industrie während der Kriegsdauer nur dann einen Urlaub zu gewähren, wenn jener auf dem Lande unter Verrichtung ländlicher Hilfsarbeiten verbracht würde. Seit dem Februar 1915 haben unter den Land¬ arbeitern wiederholt Unruhen stattgefunden, denen sämtlich erhöhte Lohnforderungen zugrunde lagen. Der Charakter dieser ländlichen Aufstandsbewegungen war so ernster Natur, daß sogar der Landwirtschaftsminister dafür eintrat, den Landarbeitern eine Lohnerhöhung von 10 bis 15 Prozent zu bewilligen. Um dem Landarbeiter¬ mangel entgegenzuwirken, hat man den Besitzerstand aufgefordert, von den Arbeits¬ vermittlungen mehr Gebrauch zu machen. Die Landwirte aber sind nicht zu be¬ wegen, mit den Arbeitsnachweisen in Verbindung zu treten, da sie fürchten, daß die von den Nachweisen angeforderten Kräfte in jeder Beziehung höhere Anforderungen stellen. Vom Mai bis zum Juli 1915 wurden von den Landwirten nur ins¬ gesamt rund 5000 Kräfte von den Nachweisen angefordert. Man behilft sich lieber so und das um so mehr, als man nicht in der Lage ist, die Kriegs¬ konjunktur auszunützen. England importiert seit Jahren an Weizen und Weizen¬ mehl etwa den Bedarf von zehn Monaten im Jahre zu einem Preise von rund einer Milliarde Mark. Derartige Zahlen wirken auf einen Konkurrenzwillen erdrückend. Rechnet man zu diesen 50 Mill. Lstrl. noch hinzu, daß England im Durchschnitt an Butter einführt für 23 Mill. Lstrl., an Käse für 7 Mill. Lstrl.. an Eiern für 7 Mill. Lstrl., an Geflügel und Früchten für etwa 3 Mill. Lstrl., und erinnert man sich an die Werte, die für die Einfuhr von Speck und Fleisch (Gefrier- und Kühlware) verausgabt werden, so bekommt man einen ungefähren Begriff von der Aufgabe, die die englische Landwirtschaft hätte bewältigen müssen, wenn man von ihr eine Bedarfsdeckung gefordert hätte. Stellt man sich in absoluter Sachlichkeit die Frage, inwieweit eine durch¬ greifende Vermehrung der Eigenproduktion innerhalb eines kurzen Zeitraumes für die englische Landwirtschaft überhaupt möglich ist, so kommt man zu den folgenden Resultaten: England ist das Land, das in der Ackerbautechnil vorbildlich gewesen ist. Als die extensive Wirtschaft noch die völlig herrschende war, zeigte die englische Landwirtschaft bereits eine lebhafte Steigerung der Intensität seiner landwirt¬ schaftlichen Betriebe. England erlebte sein merkantilistisches Zeitalter, als Deutschland kaum erst aus der Naturalwirtschaft erwachte, es trat mehrere Menschenalter früher in die modern kapitalistisch-technische Wirtschaft ein und stand bereits in seiner weltwirtschaftlichen Periode, als in Deutschland die Territorialwirtschaft erst im Zollverein zu einer einheitlichen Volkswirtschaft zu¬ sammengefaßt wurde. Der als „Norfalker Fruchtwechsel" bekannte agrarische Bebauungsplan wurde von England aus zu dem allmächtigen Revolutionär im Landwirtschaftsbetriebe Europas. In der Periode der Kommunalwirtschaft hatte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/336>, abgerufen am 15.01.2025.