Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik in Italien die öffentliche Meinung in einer für England bedenklichen Stärke Man verlangt in Italien, daß England Frachtraum für seine Verbündeten 21*
Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik in Italien die öffentliche Meinung in einer für England bedenklichen Stärke Man verlangt in Italien, daß England Frachtraum für seine Verbündeten 21*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330003"/> <fw type="header" place="top"> Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1095" prev="#ID_1094"> in Italien die öffentliche Meinung in einer für England bedenklichen Stärke<lb/> beherrscht und man in der italienischen Presse mit Ausfällen offener und ver¬<lb/> steckter Art gegen den britischen Verbündeten nicht geizt. Die italienische Kohlen¬<lb/> krisis ist ja auch ein Schwesterkind der Frachtraumfrage. Die italienische<lb/> Jmportkohle wurde am 4. Januar 1916 in Genua frei Eisenbahnwaggon mit<lb/> 190 Lire notiert, während Genua Mitte Juli 1914 unter den gleichen Voraus¬<lb/> setzungen 80 Lire pro Tonne notierte. Die öffentliche italienische Meinung<lb/> wird am meisten dadurch erregt, daß. während Genua 190 Lire notieren muß,<lb/> der englische Markt nur 23 Schilling per Tonne ducht und die Preissteigerung<lb/> für Kohle in Italien von 30 auf 190 Lire schnellte, während sie sich im ver¬<lb/> bündeten Exportland nur von 13^ Schilling auf 23 Schilling bewegte und<lb/> dort seit Ende Mai 1915 den Preis gehalten hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1096"> Man verlangt in Italien, daß England Frachtraum für seine Verbündeten<lb/> schafft, man heischt, daß England lip Interesse seiner Verbündeten eine einheitliche<lb/> Frachtregelung trifft. England ist aber nicht in der Lage, den italienischen<lb/> Wünschen nachzukommen, da es den zur Verfügung stehenden Frachtraum nur<lb/> allzusehr selbst benötigt, um die Lücken in der eignen Lebensmittelversorgung zu<lb/> decken. England ist dank seiner seit Jahrzehnten befolgten Agrarpolitik nicht<lb/> fähig, seine agrarische Jnlandsbedarfsdeckung zu vermehren. Im gleichen Maße<lb/> wie die deutsche Landwirtschaft sich dem Ansturme der Zeitforderungen ge¬<lb/> wachsen zeigte, versagte die englische Landwirtschaft. Die englische Landwirt¬<lb/> schaft vermochte nicht einmal gleich seinem Bundesgenossen Italien seine agrarischen<lb/> Jnlandsprodukte zu vermehren. Italien vermehrte in der Kriegszeit seine Produktion<lb/> an Brodgetreide durch einen Mehranbau von Weizen um 6 Prozent. Allerdings<lb/> liegen die Verhältnisse sür eine Produktionsvermehrung an Weizenkorn für Italien<lb/> bei weitem günstiger als bei seinem Verbündeten dank dessen Agrarpolitik.<lb/> Italien, das im Frieden einen Weizenanbau von 4 768 500 Hektar hat, einen<lb/> Weizenanbau, der sich auf 34,2 Prozent der gesamten unter dem Pfluge befind¬<lb/> lichen Landmenge erstreckt, kennt einen rationellen Agrarbetrieb nur in Ober-<lb/> und Mittelitalien. Die Hauptweizenstrecken Kalabrien, Apulien, Latium und<lb/> Sizilien werden vorwiegend noch vollkommen im extensiven Agrarbetriebe be¬<lb/> baut. Bracher und Weiden sind an der Tagesordnung. Die auf den Weizen¬<lb/> bau ausgeschriebenen Prämien, die hohen Preise, die von der Regierung<lb/> bewilligten günstigen Frachttarife der Eisenbahnen für Mehlprodukte haben<lb/> dahin geführt, daß man rentabler wirtschaftete, das heißt, einen Teil des<lb/> sonstigen Brach- und Weidelandes mit unter den Pflug nahm. Es muß<lb/> festgestellt werden, daß es dem wirtschaftsarmen Italien gelang, seine Agrar-<lb/> kultur im Kriege zu heben, während England durch den Agrarbetrieb nur<lb/> eine Reihe von MißHelligkeiten während der Dauer des Krieges einzustecken<lb/> hatte. Ganz gegen seinen Willen und seine Absicht hat das Parlament Eng-<lb/> lands sich in den letzten Monaten zu wiederholten Malen mit der Landfrage<lb/> beschäftigen müssen, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 21*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0335]
Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik
in Italien die öffentliche Meinung in einer für England bedenklichen Stärke
beherrscht und man in der italienischen Presse mit Ausfällen offener und ver¬
steckter Art gegen den britischen Verbündeten nicht geizt. Die italienische Kohlen¬
krisis ist ja auch ein Schwesterkind der Frachtraumfrage. Die italienische
Jmportkohle wurde am 4. Januar 1916 in Genua frei Eisenbahnwaggon mit
190 Lire notiert, während Genua Mitte Juli 1914 unter den gleichen Voraus¬
setzungen 80 Lire pro Tonne notierte. Die öffentliche italienische Meinung
wird am meisten dadurch erregt, daß. während Genua 190 Lire notieren muß,
der englische Markt nur 23 Schilling per Tonne ducht und die Preissteigerung
für Kohle in Italien von 30 auf 190 Lire schnellte, während sie sich im ver¬
bündeten Exportland nur von 13^ Schilling auf 23 Schilling bewegte und
dort seit Ende Mai 1915 den Preis gehalten hat.
Man verlangt in Italien, daß England Frachtraum für seine Verbündeten
schafft, man heischt, daß England lip Interesse seiner Verbündeten eine einheitliche
Frachtregelung trifft. England ist aber nicht in der Lage, den italienischen
Wünschen nachzukommen, da es den zur Verfügung stehenden Frachtraum nur
allzusehr selbst benötigt, um die Lücken in der eignen Lebensmittelversorgung zu
decken. England ist dank seiner seit Jahrzehnten befolgten Agrarpolitik nicht
fähig, seine agrarische Jnlandsbedarfsdeckung zu vermehren. Im gleichen Maße
wie die deutsche Landwirtschaft sich dem Ansturme der Zeitforderungen ge¬
wachsen zeigte, versagte die englische Landwirtschaft. Die englische Landwirt¬
schaft vermochte nicht einmal gleich seinem Bundesgenossen Italien seine agrarischen
Jnlandsprodukte zu vermehren. Italien vermehrte in der Kriegszeit seine Produktion
an Brodgetreide durch einen Mehranbau von Weizen um 6 Prozent. Allerdings
liegen die Verhältnisse sür eine Produktionsvermehrung an Weizenkorn für Italien
bei weitem günstiger als bei seinem Verbündeten dank dessen Agrarpolitik.
Italien, das im Frieden einen Weizenanbau von 4 768 500 Hektar hat, einen
Weizenanbau, der sich auf 34,2 Prozent der gesamten unter dem Pfluge befind¬
lichen Landmenge erstreckt, kennt einen rationellen Agrarbetrieb nur in Ober-
und Mittelitalien. Die Hauptweizenstrecken Kalabrien, Apulien, Latium und
Sizilien werden vorwiegend noch vollkommen im extensiven Agrarbetriebe be¬
baut. Bracher und Weiden sind an der Tagesordnung. Die auf den Weizen¬
bau ausgeschriebenen Prämien, die hohen Preise, die von der Regierung
bewilligten günstigen Frachttarife der Eisenbahnen für Mehlprodukte haben
dahin geführt, daß man rentabler wirtschaftete, das heißt, einen Teil des
sonstigen Brach- und Weidelandes mit unter den Pflug nahm. Es muß
festgestellt werden, daß es dem wirtschaftsarmen Italien gelang, seine Agrar-
kultur im Kriege zu heben, während England durch den Agrarbetrieb nur
eine Reihe von MißHelligkeiten während der Dauer des Krieges einzustecken
hatte. Ganz gegen seinen Willen und seine Absicht hat das Parlament Eng-
lands sich in den letzten Monaten zu wiederholten Malen mit der Landfrage
beschäftigen müssen, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
21*
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |