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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Andrassy und die österreichisch-ungarische Vrientpolitik

Voraussicht nach als gesichert betrachtet werden könne, aber ganze Verantwort¬
lichkeit dafür könne er allerdings nur übernehmen, wenn unter allen Umständen,
was auch immer geschehe, die Interessen der österreichisch-ungarischen Monarchie
gewahrt würden. Vollste Übereinstimmung und nachdrücklichste Unterstützung
in seiner Orientpolilik fand Andrassy in Bismarck.

Noch auf dem Berliner Kongreß, wo die russischen Bevollmächtigten, wie
schon auf der Entrevue von Reichstadt (Mai 1876), offen die Zerstücklung des
Osmanenreiches forderten, war Andrassy nicht willens, die Teilungsfrage vor
den Kongreß zu ziehen. Und wenn ihm das nicht gelang, so war es nicht
seine Schuld; denn er fand weder beim russischen noch beim englischen Kabinett
die nötige Unterstützung zu einer friedlichen Lösung der türkischen Frage.
England förderte geradezu den russischen Vorschlag einer Teilung der europäischen
Türkei. Die geheimen Abmachungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland
auf der Entrevue von Reichstadt und nicht -- wie später und heute noch
oft behauptet wird -- der Berliner Kongreß, gaben der Monarchie die Grund¬
lage für eine spätere Besitzergreifung Bosniens und der Herzegowina und
sicherten gleichermaßen den Russen während ihres Krieges mit der Türkei die
Neutralität Österreichs. Andrassy hatte durch diese Konvention nicht einen
Krieg zwischen Nußland und der Türkei, wohl aber einen solchen zwischen der
Monarchie und dem Zarenreich zu hindern oder mindestens hinauszuschieben
vermocht. Er hatte hier den Grundstein aufgebaut, auf dem Österreich-Ungarn
zu einem hervorragenden Faktor im nahen Orient emporwachsen konnte. In
Rußland wollte man um die Mitte der siebziger Jahre in offiziellen Kreisen
unter allen Umständen eine gewaltsame Lösung der türkischen Frage durch Auf¬
stellung maßloser, unannehmbarer Bedingungen für die Türkei herbeiführen.
Dazu bediente man sich des uns heute bestbekannten Schlagwortes, für Rußland
das "ausschließliche Protektorat über die gesamten Christen des Orients" zu
erwerben.

Die wahren Absichten Rußlands erhellten jedoch aus einer offenherzigen
Äußerung eines Mitgliedes der Wiener russischen Botschaft: "Wenn Österreich-
Ungarn sich jetzt zu unserer Politik gesellt, kann die Lösung der Krisis in seinem
Interesse erfolgen, wenn nicht, werden wir die Frage etwas später ohne und
gegen Österreich erledigen." Laut und vernehmlich klingt aus dem von Andrassy
verfaßten Antwortschreiben des Kaisers Franz Josef an den Zaren die feste und
zielbewußte Politik des Grafen heraus: "Erteilt Rußland den Befehl zum
Einmarsch seiner Truppen in die türkischen Provinzen, so ist auch Öfterreich-
Ungarn zur Mobilisierung eines Teils seiner Armee und zur Wahrung seiner
Interessen entschlossen. Die gegenseitigen Zusicherungen der Reichsstadter Ver¬
abredung sind hinfällig, wenn sie bei definitiver Regelung des Zustandes der
europäischen Türkei verletzt würden."

Andrassy konnte sich in jenen Tagen nicht im direkten Gegensatz und offene
Feindschaft zu Rußland stellen. Er hatte sich einerseits nach einem Kriege


Andrassy und die österreichisch-ungarische Vrientpolitik

Voraussicht nach als gesichert betrachtet werden könne, aber ganze Verantwort¬
lichkeit dafür könne er allerdings nur übernehmen, wenn unter allen Umständen,
was auch immer geschehe, die Interessen der österreichisch-ungarischen Monarchie
gewahrt würden. Vollste Übereinstimmung und nachdrücklichste Unterstützung
in seiner Orientpolilik fand Andrassy in Bismarck.

Noch auf dem Berliner Kongreß, wo die russischen Bevollmächtigten, wie
schon auf der Entrevue von Reichstadt (Mai 1876), offen die Zerstücklung des
Osmanenreiches forderten, war Andrassy nicht willens, die Teilungsfrage vor
den Kongreß zu ziehen. Und wenn ihm das nicht gelang, so war es nicht
seine Schuld; denn er fand weder beim russischen noch beim englischen Kabinett
die nötige Unterstützung zu einer friedlichen Lösung der türkischen Frage.
England förderte geradezu den russischen Vorschlag einer Teilung der europäischen
Türkei. Die geheimen Abmachungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland
auf der Entrevue von Reichstadt und nicht — wie später und heute noch
oft behauptet wird — der Berliner Kongreß, gaben der Monarchie die Grund¬
lage für eine spätere Besitzergreifung Bosniens und der Herzegowina und
sicherten gleichermaßen den Russen während ihres Krieges mit der Türkei die
Neutralität Österreichs. Andrassy hatte durch diese Konvention nicht einen
Krieg zwischen Nußland und der Türkei, wohl aber einen solchen zwischen der
Monarchie und dem Zarenreich zu hindern oder mindestens hinauszuschieben
vermocht. Er hatte hier den Grundstein aufgebaut, auf dem Österreich-Ungarn
zu einem hervorragenden Faktor im nahen Orient emporwachsen konnte. In
Rußland wollte man um die Mitte der siebziger Jahre in offiziellen Kreisen
unter allen Umständen eine gewaltsame Lösung der türkischen Frage durch Auf¬
stellung maßloser, unannehmbarer Bedingungen für die Türkei herbeiführen.
Dazu bediente man sich des uns heute bestbekannten Schlagwortes, für Rußland
das „ausschließliche Protektorat über die gesamten Christen des Orients" zu
erwerben.

Die wahren Absichten Rußlands erhellten jedoch aus einer offenherzigen
Äußerung eines Mitgliedes der Wiener russischen Botschaft: „Wenn Österreich-
Ungarn sich jetzt zu unserer Politik gesellt, kann die Lösung der Krisis in seinem
Interesse erfolgen, wenn nicht, werden wir die Frage etwas später ohne und
gegen Österreich erledigen." Laut und vernehmlich klingt aus dem von Andrassy
verfaßten Antwortschreiben des Kaisers Franz Josef an den Zaren die feste und
zielbewußte Politik des Grafen heraus: „Erteilt Rußland den Befehl zum
Einmarsch seiner Truppen in die türkischen Provinzen, so ist auch Öfterreich-
Ungarn zur Mobilisierung eines Teils seiner Armee und zur Wahrung seiner
Interessen entschlossen. Die gegenseitigen Zusicherungen der Reichsstadter Ver¬
abredung sind hinfällig, wenn sie bei definitiver Regelung des Zustandes der
europäischen Türkei verletzt würden."

Andrassy konnte sich in jenen Tagen nicht im direkten Gegensatz und offene
Feindschaft zu Rußland stellen. Er hatte sich einerseits nach einem Kriege


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[0288] Andrassy und die österreichisch-ungarische Vrientpolitik Voraussicht nach als gesichert betrachtet werden könne, aber ganze Verantwort¬ lichkeit dafür könne er allerdings nur übernehmen, wenn unter allen Umständen, was auch immer geschehe, die Interessen der österreichisch-ungarischen Monarchie gewahrt würden. Vollste Übereinstimmung und nachdrücklichste Unterstützung in seiner Orientpolilik fand Andrassy in Bismarck. Noch auf dem Berliner Kongreß, wo die russischen Bevollmächtigten, wie schon auf der Entrevue von Reichstadt (Mai 1876), offen die Zerstücklung des Osmanenreiches forderten, war Andrassy nicht willens, die Teilungsfrage vor den Kongreß zu ziehen. Und wenn ihm das nicht gelang, so war es nicht seine Schuld; denn er fand weder beim russischen noch beim englischen Kabinett die nötige Unterstützung zu einer friedlichen Lösung der türkischen Frage. England förderte geradezu den russischen Vorschlag einer Teilung der europäischen Türkei. Die geheimen Abmachungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland auf der Entrevue von Reichstadt und nicht — wie später und heute noch oft behauptet wird — der Berliner Kongreß, gaben der Monarchie die Grund¬ lage für eine spätere Besitzergreifung Bosniens und der Herzegowina und sicherten gleichermaßen den Russen während ihres Krieges mit der Türkei die Neutralität Österreichs. Andrassy hatte durch diese Konvention nicht einen Krieg zwischen Nußland und der Türkei, wohl aber einen solchen zwischen der Monarchie und dem Zarenreich zu hindern oder mindestens hinauszuschieben vermocht. Er hatte hier den Grundstein aufgebaut, auf dem Österreich-Ungarn zu einem hervorragenden Faktor im nahen Orient emporwachsen konnte. In Rußland wollte man um die Mitte der siebziger Jahre in offiziellen Kreisen unter allen Umständen eine gewaltsame Lösung der türkischen Frage durch Auf¬ stellung maßloser, unannehmbarer Bedingungen für die Türkei herbeiführen. Dazu bediente man sich des uns heute bestbekannten Schlagwortes, für Rußland das „ausschließliche Protektorat über die gesamten Christen des Orients" zu erwerben. Die wahren Absichten Rußlands erhellten jedoch aus einer offenherzigen Äußerung eines Mitgliedes der Wiener russischen Botschaft: „Wenn Österreich- Ungarn sich jetzt zu unserer Politik gesellt, kann die Lösung der Krisis in seinem Interesse erfolgen, wenn nicht, werden wir die Frage etwas später ohne und gegen Österreich erledigen." Laut und vernehmlich klingt aus dem von Andrassy verfaßten Antwortschreiben des Kaisers Franz Josef an den Zaren die feste und zielbewußte Politik des Grafen heraus: „Erteilt Rußland den Befehl zum Einmarsch seiner Truppen in die türkischen Provinzen, so ist auch Öfterreich- Ungarn zur Mobilisierung eines Teils seiner Armee und zur Wahrung seiner Interessen entschlossen. Die gegenseitigen Zusicherungen der Reichsstadter Ver¬ abredung sind hinfällig, wenn sie bei definitiver Regelung des Zustandes der europäischen Türkei verletzt würden." Andrassy konnte sich in jenen Tagen nicht im direkten Gegensatz und offene Feindschaft zu Rußland stellen. Er hatte sich einerseits nach einem Kriege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/288>, abgerufen am 15.01.2025.