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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Andrassy und die österreichisch-ungarische Vrientpolitik

Mimerarbeit im Orient den österreichischen Interessen direkt entgegenarbeitete,
in Schach zu halten durch die Pflege freundschaftlicher Beziehungen mit anderen
Staaten. Mit England wollte er in bestem Einvernehmen stehen aus der
Erwägung heraus, eine Allianz zwischen Deutschland und Nußland zu ver¬
hindern, mit Deutschland zunächst, um den russischen panslawistischen Strömungen
erfolgreich entgegentreten zu können. So äußerte sich Andrassy in einer Be¬
gründung seiner Haltung während des Deutsch-Französischen Krieges zu Kaiser
Franz Josef: "Es leitete mich die Überzeugung, daß, solange 36 Millionen
Franzosen und die voraussichtlichen inneren Schwierigkeiten der deutschen Unifikation
existieren, der Fall nicht vorkommen kann, daß wir Rußland gegenüber Deutsch-'
land brauchen, dagegen der Fall, daß wir die Stütze Deutschlands gegen die
traditionellen Tendenzen der Nüssen bedürfen können, nur zu leicht möglich ist."

Die Politik Andrassys in der böhmischen Krisis ist von so ausgezeichneten
Kennern wie Eduard v. Wertheimer und Theodor v. Sosnosky gerade in ent¬
gegengesetztem Sinne beurteilt worden. Der Andrassy-Biograph gerät in eine
gewisse Überschätzung Andrassys auch in der Wertung seines Anteils am Zustande¬
kommen des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisses. Sosnosky hingegen
glaubt die Stellungnahme Andrassys zu einer Okkupation Bosniens und der
Herzegowina, die besonders in Militärkreisen aufs eifrigste propagiert wurde,
nicht nur als passiv, sondern "noch schlimmer: als geradezu widersinnig" be¬
zeichnen zu müssen. Andrassy wollte in der Tat im Orient nicht durch Kriege,
sondern nur in friedlicher Weise Eroberungen machen. Und wenn er immer
wieder gegen die "absolut annexionistische Politik" mancher Kreise Front machte,
so ziemt es nicht, diesen Standpunkt des Ministers, der in der Erhaltung der
Türkei das erste Gebot für die Orientpolitik Österreich-Ungarns sah, mit den
reaktionären Bestrebungen des alten Staatskanzlers Metternich zu vergleichen.

Vielmehr: Die weltpolitische Bedeutsamkeit der Türkei für die Zentral¬
mächte in ihrer ganzen Größe zum ersten Male erkannt zu haben, wird alle Zeit
das unvergängliche Verdienst Andrassys bleiben. Er hielt die Aufteilung der
europäischen Türkei nicht nur vom österreichischen Standpunkt, sondern auch aus
europäischem Interesse für den größten politischen Fehler. Nur aus solchen
Gesichtspunkten wollte er die Türken nicht aus den beiden Provinzen mit Gewalt
vertreiben, verdrängen, sie vielmehr solange als möglich dort durch Erteilung
von Ratschlägen und Anempfehlung von Reformen stützen, im gegebenen Moment
jedoch an ihre Stelle treten, falls ihnen die Kraft mangle, ihre Position selbst
zu verteidigen. Schwächlich und energielos kann solche Politik nicht bezeichnet
werden. Denn auch in diesen Jahren, die dem Berliner Kongreß vorangingen,
halte Andrassy die Zustimmung der Großmächte -- vielleicht mit Ausnahme
Rußlands -- für eine Okkupation Bosniens und der Herzegowina gefunden.
Wohl war diese Politik eine Friedenspolitik, mit Nichten aber -- wie ihm so
oft zum Vorwurf gemacht wurde -- eine solche um jeden Preis. In der ungarischen
Delegation erklärte er (im September 1875), daß der europäische Friede aller


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Andrassy und die österreichisch-ungarische Vrientpolitik

Mimerarbeit im Orient den österreichischen Interessen direkt entgegenarbeitete,
in Schach zu halten durch die Pflege freundschaftlicher Beziehungen mit anderen
Staaten. Mit England wollte er in bestem Einvernehmen stehen aus der
Erwägung heraus, eine Allianz zwischen Deutschland und Nußland zu ver¬
hindern, mit Deutschland zunächst, um den russischen panslawistischen Strömungen
erfolgreich entgegentreten zu können. So äußerte sich Andrassy in einer Be¬
gründung seiner Haltung während des Deutsch-Französischen Krieges zu Kaiser
Franz Josef: „Es leitete mich die Überzeugung, daß, solange 36 Millionen
Franzosen und die voraussichtlichen inneren Schwierigkeiten der deutschen Unifikation
existieren, der Fall nicht vorkommen kann, daß wir Rußland gegenüber Deutsch-'
land brauchen, dagegen der Fall, daß wir die Stütze Deutschlands gegen die
traditionellen Tendenzen der Nüssen bedürfen können, nur zu leicht möglich ist."

Die Politik Andrassys in der böhmischen Krisis ist von so ausgezeichneten
Kennern wie Eduard v. Wertheimer und Theodor v. Sosnosky gerade in ent¬
gegengesetztem Sinne beurteilt worden. Der Andrassy-Biograph gerät in eine
gewisse Überschätzung Andrassys auch in der Wertung seines Anteils am Zustande¬
kommen des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisses. Sosnosky hingegen
glaubt die Stellungnahme Andrassys zu einer Okkupation Bosniens und der
Herzegowina, die besonders in Militärkreisen aufs eifrigste propagiert wurde,
nicht nur als passiv, sondern „noch schlimmer: als geradezu widersinnig" be¬
zeichnen zu müssen. Andrassy wollte in der Tat im Orient nicht durch Kriege,
sondern nur in friedlicher Weise Eroberungen machen. Und wenn er immer
wieder gegen die „absolut annexionistische Politik" mancher Kreise Front machte,
so ziemt es nicht, diesen Standpunkt des Ministers, der in der Erhaltung der
Türkei das erste Gebot für die Orientpolitik Österreich-Ungarns sah, mit den
reaktionären Bestrebungen des alten Staatskanzlers Metternich zu vergleichen.

Vielmehr: Die weltpolitische Bedeutsamkeit der Türkei für die Zentral¬
mächte in ihrer ganzen Größe zum ersten Male erkannt zu haben, wird alle Zeit
das unvergängliche Verdienst Andrassys bleiben. Er hielt die Aufteilung der
europäischen Türkei nicht nur vom österreichischen Standpunkt, sondern auch aus
europäischem Interesse für den größten politischen Fehler. Nur aus solchen
Gesichtspunkten wollte er die Türken nicht aus den beiden Provinzen mit Gewalt
vertreiben, verdrängen, sie vielmehr solange als möglich dort durch Erteilung
von Ratschlägen und Anempfehlung von Reformen stützen, im gegebenen Moment
jedoch an ihre Stelle treten, falls ihnen die Kraft mangle, ihre Position selbst
zu verteidigen. Schwächlich und energielos kann solche Politik nicht bezeichnet
werden. Denn auch in diesen Jahren, die dem Berliner Kongreß vorangingen,
halte Andrassy die Zustimmung der Großmächte — vielleicht mit Ausnahme
Rußlands — für eine Okkupation Bosniens und der Herzegowina gefunden.
Wohl war diese Politik eine Friedenspolitik, mit Nichten aber — wie ihm so
oft zum Vorwurf gemacht wurde — eine solche um jeden Preis. In der ungarischen
Delegation erklärte er (im September 1875), daß der europäische Friede aller


13*
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/287>, abgerufen am 15.01.2025.