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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

Damit kommt man nicht weiter. Es will aber sagen, daß, wenn Be¬
hauptung gegen Behauptung steht, wenn zwei von juristischer und historischer
Betrachtung aus gleich starke Beweise gegeneinander stehen, der Bericht zunächst
der wahrscheinlichere ist, der die geringste Abweichung vom normal Mensch¬
lichen enthält. Die Methode dürfte unangreifbar und zugleich die einzig an-
wendbare sein, wenn es sich um die Untersuchung und Beurteilung eines
historischen Materials wie die widerstreitenden Berichte über die Begebenheiten
in Belgien handelt. Wenn aber diese Methode nichtsdestoweniger weit davon
entfernt ist, allgemein angewendet zu werden, so liegt dies in einem bestimmten
Psychologischen Prozeß begründet, der fast mit dem ganzen neutralen Publikum
vor sich gegangen ist. Nicht nur war die Sympathie fast überall -- aus
mancherlei Gründen, die hier nicht untersucht werden sollen -- auf seiten der
einen Partei, was eine objektive Beurteilung erschwerte, sondern dazu kam auch
noch, daß die französisch-englisch-belgischen Berichte zuerst erschienen und ihre
Wirkung taten, ehe die deutschen vorlagen. Wir glaubten fast alle, daß die
Berichte über die Deutschen in Belgien sozusagen in ihrer ganzen Ausdehnung
wahr wären, weil sie an und für sich so überzeugend wirkten, und weil wir
die Berichte von deutscher Seite, die ebenso überzeugend wirken, noch nicht
kannten. Wir hatten die Zeit gehabt, unser Urteil zu fällen, und das hieraus
entspringende Gefühl zeigte sich und mußte sich zeigen als Mißtrauen gegen die
deutschen Berichte. Die Verschiebung, die stattgefunden hat, ist also die folgende:
erst glaubt man, daß die Deutschen Verbrecher sind, weil sie Grausamkeiten in
Belgien begangen haben, und dann meint man, von diesem Glauben aus¬
gehend, keinen Grund zu haben, den Beweisen, die sie dagegen anführen, Ver¬
trauen zu schenken. Es ist außerordentlich wesentlich, daß man sich diese
Ungerechtigkeit klar macht, denn nur hierdurch kann man ihr abhelfen."

Gad unternimmt nun den Versuch, sich ein ruhiges Bild davon zu machen,
was in Belgien denn eigentlich wirklich geschehen ist; er will in Güte versuchen,
zu verstehen, wie das, was etwa geschehen ist, entstehen konnte.

Er glaubt zunächst feststellen zu sollen, daß die deutschen amtlichen Ver¬
öffentlichungen (vor allem also das Weißbuch) in Dänemark mit so geringer Auf-
merksamkeit gelesen worden sind, daß es ihm nötig erscheint, sie kurz ins Ge-
dächtnis zurückzurufen.

In nüchterner und bemerkenswert prägnanter Weise schildert Gad die Ent-
stehung des Franktireurkrieges in Belgien und dessen Wirkung auf ein regel¬
rechtes Heer, das nichtsahnend überfallen wird von anscheinend friedlichen
Ortsbewohnern, und -- die unvermeidlichen Folgen dieses völkerrechtswidrigen
Aktes.

"Was ist nun die Wahrheit? Ja, was ist das wahrscheinlichere, d. h.
was ist am leichtesten verständlich, wenn man von den allgemein menschlichen
Voraussetzungen ausgeht? Daß die belgische Bevölkerung, getrieben von ihrer
Vaterlandsliebe und von einer sehr leicht verständlichen Feindschaft gegen die


Grenzboten I 1916 16
Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

Damit kommt man nicht weiter. Es will aber sagen, daß, wenn Be¬
hauptung gegen Behauptung steht, wenn zwei von juristischer und historischer
Betrachtung aus gleich starke Beweise gegeneinander stehen, der Bericht zunächst
der wahrscheinlichere ist, der die geringste Abweichung vom normal Mensch¬
lichen enthält. Die Methode dürfte unangreifbar und zugleich die einzig an-
wendbare sein, wenn es sich um die Untersuchung und Beurteilung eines
historischen Materials wie die widerstreitenden Berichte über die Begebenheiten
in Belgien handelt. Wenn aber diese Methode nichtsdestoweniger weit davon
entfernt ist, allgemein angewendet zu werden, so liegt dies in einem bestimmten
Psychologischen Prozeß begründet, der fast mit dem ganzen neutralen Publikum
vor sich gegangen ist. Nicht nur war die Sympathie fast überall — aus
mancherlei Gründen, die hier nicht untersucht werden sollen — auf seiten der
einen Partei, was eine objektive Beurteilung erschwerte, sondern dazu kam auch
noch, daß die französisch-englisch-belgischen Berichte zuerst erschienen und ihre
Wirkung taten, ehe die deutschen vorlagen. Wir glaubten fast alle, daß die
Berichte über die Deutschen in Belgien sozusagen in ihrer ganzen Ausdehnung
wahr wären, weil sie an und für sich so überzeugend wirkten, und weil wir
die Berichte von deutscher Seite, die ebenso überzeugend wirken, noch nicht
kannten. Wir hatten die Zeit gehabt, unser Urteil zu fällen, und das hieraus
entspringende Gefühl zeigte sich und mußte sich zeigen als Mißtrauen gegen die
deutschen Berichte. Die Verschiebung, die stattgefunden hat, ist also die folgende:
erst glaubt man, daß die Deutschen Verbrecher sind, weil sie Grausamkeiten in
Belgien begangen haben, und dann meint man, von diesem Glauben aus¬
gehend, keinen Grund zu haben, den Beweisen, die sie dagegen anführen, Ver¬
trauen zu schenken. Es ist außerordentlich wesentlich, daß man sich diese
Ungerechtigkeit klar macht, denn nur hierdurch kann man ihr abhelfen."

Gad unternimmt nun den Versuch, sich ein ruhiges Bild davon zu machen,
was in Belgien denn eigentlich wirklich geschehen ist; er will in Güte versuchen,
zu verstehen, wie das, was etwa geschehen ist, entstehen konnte.

Er glaubt zunächst feststellen zu sollen, daß die deutschen amtlichen Ver¬
öffentlichungen (vor allem also das Weißbuch) in Dänemark mit so geringer Auf-
merksamkeit gelesen worden sind, daß es ihm nötig erscheint, sie kurz ins Ge-
dächtnis zurückzurufen.

In nüchterner und bemerkenswert prägnanter Weise schildert Gad die Ent-
stehung des Franktireurkrieges in Belgien und dessen Wirkung auf ein regel¬
rechtes Heer, das nichtsahnend überfallen wird von anscheinend friedlichen
Ortsbewohnern, und — die unvermeidlichen Folgen dieses völkerrechtswidrigen
Aktes.

„Was ist nun die Wahrheit? Ja, was ist das wahrscheinlichere, d. h.
was ist am leichtesten verständlich, wenn man von den allgemein menschlichen
Voraussetzungen ausgeht? Daß die belgische Bevölkerung, getrieben von ihrer
Vaterlandsliebe und von einer sehr leicht verständlichen Feindschaft gegen die


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[0253] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen Damit kommt man nicht weiter. Es will aber sagen, daß, wenn Be¬ hauptung gegen Behauptung steht, wenn zwei von juristischer und historischer Betrachtung aus gleich starke Beweise gegeneinander stehen, der Bericht zunächst der wahrscheinlichere ist, der die geringste Abweichung vom normal Mensch¬ lichen enthält. Die Methode dürfte unangreifbar und zugleich die einzig an- wendbare sein, wenn es sich um die Untersuchung und Beurteilung eines historischen Materials wie die widerstreitenden Berichte über die Begebenheiten in Belgien handelt. Wenn aber diese Methode nichtsdestoweniger weit davon entfernt ist, allgemein angewendet zu werden, so liegt dies in einem bestimmten Psychologischen Prozeß begründet, der fast mit dem ganzen neutralen Publikum vor sich gegangen ist. Nicht nur war die Sympathie fast überall — aus mancherlei Gründen, die hier nicht untersucht werden sollen — auf seiten der einen Partei, was eine objektive Beurteilung erschwerte, sondern dazu kam auch noch, daß die französisch-englisch-belgischen Berichte zuerst erschienen und ihre Wirkung taten, ehe die deutschen vorlagen. Wir glaubten fast alle, daß die Berichte über die Deutschen in Belgien sozusagen in ihrer ganzen Ausdehnung wahr wären, weil sie an und für sich so überzeugend wirkten, und weil wir die Berichte von deutscher Seite, die ebenso überzeugend wirken, noch nicht kannten. Wir hatten die Zeit gehabt, unser Urteil zu fällen, und das hieraus entspringende Gefühl zeigte sich und mußte sich zeigen als Mißtrauen gegen die deutschen Berichte. Die Verschiebung, die stattgefunden hat, ist also die folgende: erst glaubt man, daß die Deutschen Verbrecher sind, weil sie Grausamkeiten in Belgien begangen haben, und dann meint man, von diesem Glauben aus¬ gehend, keinen Grund zu haben, den Beweisen, die sie dagegen anführen, Ver¬ trauen zu schenken. Es ist außerordentlich wesentlich, daß man sich diese Ungerechtigkeit klar macht, denn nur hierdurch kann man ihr abhelfen." Gad unternimmt nun den Versuch, sich ein ruhiges Bild davon zu machen, was in Belgien denn eigentlich wirklich geschehen ist; er will in Güte versuchen, zu verstehen, wie das, was etwa geschehen ist, entstehen konnte. Er glaubt zunächst feststellen zu sollen, daß die deutschen amtlichen Ver¬ öffentlichungen (vor allem also das Weißbuch) in Dänemark mit so geringer Auf- merksamkeit gelesen worden sind, daß es ihm nötig erscheint, sie kurz ins Ge- dächtnis zurückzurufen. In nüchterner und bemerkenswert prägnanter Weise schildert Gad die Ent- stehung des Franktireurkrieges in Belgien und dessen Wirkung auf ein regel¬ rechtes Heer, das nichtsahnend überfallen wird von anscheinend friedlichen Ortsbewohnern, und — die unvermeidlichen Folgen dieses völkerrechtswidrigen Aktes. „Was ist nun die Wahrheit? Ja, was ist das wahrscheinlichere, d. h. was ist am leichtesten verständlich, wenn man von den allgemein menschlichen Voraussetzungen ausgeht? Daß die belgische Bevölkerung, getrieben von ihrer Vaterlandsliebe und von einer sehr leicht verständlichen Feindschaft gegen die Grenzboten I 1916 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/253>, abgerufen am 15.01.2025.