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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

eindringenden deutschen Truppen, sich auf diesen Franktireurkrieg in großem
Stil eingelassen hat, -- oder daß die Deutschen ihre Verhaltungsmaßregeln ohne
irgendwelche Notwendigkeit, aus bloßer Lust am Morden und Brennen getroffen
haben? Ja, wenn man ehrlich sein will und nicht voreingenommen ist, kann
die Antwort nicht schwer fallen.

Aber außerdem muß man noch ein anderes Prinzip anwenden, wenn
man sich ein einigermaßen zuverlässiges Bild von den Vorgängen in Belgien
machen will: der Umfang muß reduziert werden. Allein der Umstand selbst,
daß Zeugnis gegen Zeugnis steht, zeigt, daß nicht alles wahr sein kann. Und
so liegt es nahe, noch einen Schritt weiterzugehen und anzunehmen, daß auch
nicht alle die einzelnen Zeugnisse, denen keine direkte Verneinung gegenübersteht,
die nackte Wahrheit enthalten."

Gad meint, die bekannten Erfahrungen aus der Psychologie der Zeugen¬
aussagen auch für die von beiden Seiten beigebrachten Dokumente über den
belgischen Volkskrieg gelten lassen zu sollen; er nimmt eine aus der ungeheuren
Erregung der Beteiligten verständliche Neigung zur Legendenbildung an, von der
sich vielleicht beide Parteien nicht freizuhalten vermochten, die sich "wie eine dicke
gallertartige Masse von unbewußter Übertreibung und Erdichtung um den Kern
gebildet hat". Aber er macht auch darauf aufmerksam, daß die Gerüchte von
den "deutschen Greueln" sich eben deshalb um so leichter ausgebreitet haben
mögen, weil sie im voraus zu gerne geglaubt wurden.

"Einer der am häufigsten wiederkehrenden Berichte war gewiß der über
abgehauene Hände. Trotz der absoluten physischen Unwahrheit wurde die Ge¬
schichte bekanntermaßen in weiten Kreisen geglaubt. Bald waren es englische
Soldaten, bald waren es Hunderte von belgischen Kindern, die davon betroffen
waren, über diese Gerüchte erzählt der englische Schriftsteller Harold Platon
("13 it to dö etats?", London 1915), folgendes: Ein junger Mann erzählte
einem meiner Freunde, er kenne einen Soldaten, der im London-Hospital liege,
dem beide Hände abgehauen und beide Augen ausgestochen worden seien.
Mein Freund glaubte es auch und fühlte natürlich das Entsetzen, das wir alle bei
einer solchen Erzählung empfinden würden, ein Entsetzen, bei dem ein Übergang
zum blinden Haß sich schwer verhindern läßt. Die Geschichte verbreitete sich.
Zuletzt wurde im Hospital nachgefragt. Dort hatte man niemals von einem
derartigen Fall gehört. Die Geschichte wurde bald in ein anderes Hospital
verlegt, aber mein Freund nahm sich nicht mehr die Mühe, sie zu verfolgen.
Späterhin wurde erzählt, daß in einem großen Haus in London landesflüchtige
Kinder seien, denen die Deutschen die Hände abgehauen hätten. Nachdem die
Behörde tausende von Briefen empfangen hatte, bat sie die Pn-sse, mit¬
zuteilen, daß die Geschichten ganz aus der Luft gegriffen seien. Als ich das
nächste Mal die Geschichte hörte, kam sie aus einer Stadt in Mittelengland.
Ich bat den Erzähler darum, die Kinder selbst aufzusuchen, und hier ist seine
Antwort: einer unserer Freunde erzählte uns, er wisse bestimmt, daß ein Arzt


Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

eindringenden deutschen Truppen, sich auf diesen Franktireurkrieg in großem
Stil eingelassen hat, — oder daß die Deutschen ihre Verhaltungsmaßregeln ohne
irgendwelche Notwendigkeit, aus bloßer Lust am Morden und Brennen getroffen
haben? Ja, wenn man ehrlich sein will und nicht voreingenommen ist, kann
die Antwort nicht schwer fallen.

Aber außerdem muß man noch ein anderes Prinzip anwenden, wenn
man sich ein einigermaßen zuverlässiges Bild von den Vorgängen in Belgien
machen will: der Umfang muß reduziert werden. Allein der Umstand selbst,
daß Zeugnis gegen Zeugnis steht, zeigt, daß nicht alles wahr sein kann. Und
so liegt es nahe, noch einen Schritt weiterzugehen und anzunehmen, daß auch
nicht alle die einzelnen Zeugnisse, denen keine direkte Verneinung gegenübersteht,
die nackte Wahrheit enthalten."

Gad meint, die bekannten Erfahrungen aus der Psychologie der Zeugen¬
aussagen auch für die von beiden Seiten beigebrachten Dokumente über den
belgischen Volkskrieg gelten lassen zu sollen; er nimmt eine aus der ungeheuren
Erregung der Beteiligten verständliche Neigung zur Legendenbildung an, von der
sich vielleicht beide Parteien nicht freizuhalten vermochten, die sich „wie eine dicke
gallertartige Masse von unbewußter Übertreibung und Erdichtung um den Kern
gebildet hat". Aber er macht auch darauf aufmerksam, daß die Gerüchte von
den „deutschen Greueln" sich eben deshalb um so leichter ausgebreitet haben
mögen, weil sie im voraus zu gerne geglaubt wurden.

„Einer der am häufigsten wiederkehrenden Berichte war gewiß der über
abgehauene Hände. Trotz der absoluten physischen Unwahrheit wurde die Ge¬
schichte bekanntermaßen in weiten Kreisen geglaubt. Bald waren es englische
Soldaten, bald waren es Hunderte von belgischen Kindern, die davon betroffen
waren, über diese Gerüchte erzählt der englische Schriftsteller Harold Platon
(„13 it to dö etats?", London 1915), folgendes: Ein junger Mann erzählte
einem meiner Freunde, er kenne einen Soldaten, der im London-Hospital liege,
dem beide Hände abgehauen und beide Augen ausgestochen worden seien.
Mein Freund glaubte es auch und fühlte natürlich das Entsetzen, das wir alle bei
einer solchen Erzählung empfinden würden, ein Entsetzen, bei dem ein Übergang
zum blinden Haß sich schwer verhindern läßt. Die Geschichte verbreitete sich.
Zuletzt wurde im Hospital nachgefragt. Dort hatte man niemals von einem
derartigen Fall gehört. Die Geschichte wurde bald in ein anderes Hospital
verlegt, aber mein Freund nahm sich nicht mehr die Mühe, sie zu verfolgen.
Späterhin wurde erzählt, daß in einem großen Haus in London landesflüchtige
Kinder seien, denen die Deutschen die Hände abgehauen hätten. Nachdem die
Behörde tausende von Briefen empfangen hatte, bat sie die Pn-sse, mit¬
zuteilen, daß die Geschichten ganz aus der Luft gegriffen seien. Als ich das
nächste Mal die Geschichte hörte, kam sie aus einer Stadt in Mittelengland.
Ich bat den Erzähler darum, die Kinder selbst aufzusuchen, und hier ist seine
Antwort: einer unserer Freunde erzählte uns, er wisse bestimmt, daß ein Arzt


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[0254] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen eindringenden deutschen Truppen, sich auf diesen Franktireurkrieg in großem Stil eingelassen hat, — oder daß die Deutschen ihre Verhaltungsmaßregeln ohne irgendwelche Notwendigkeit, aus bloßer Lust am Morden und Brennen getroffen haben? Ja, wenn man ehrlich sein will und nicht voreingenommen ist, kann die Antwort nicht schwer fallen. Aber außerdem muß man noch ein anderes Prinzip anwenden, wenn man sich ein einigermaßen zuverlässiges Bild von den Vorgängen in Belgien machen will: der Umfang muß reduziert werden. Allein der Umstand selbst, daß Zeugnis gegen Zeugnis steht, zeigt, daß nicht alles wahr sein kann. Und so liegt es nahe, noch einen Schritt weiterzugehen und anzunehmen, daß auch nicht alle die einzelnen Zeugnisse, denen keine direkte Verneinung gegenübersteht, die nackte Wahrheit enthalten." Gad meint, die bekannten Erfahrungen aus der Psychologie der Zeugen¬ aussagen auch für die von beiden Seiten beigebrachten Dokumente über den belgischen Volkskrieg gelten lassen zu sollen; er nimmt eine aus der ungeheuren Erregung der Beteiligten verständliche Neigung zur Legendenbildung an, von der sich vielleicht beide Parteien nicht freizuhalten vermochten, die sich „wie eine dicke gallertartige Masse von unbewußter Übertreibung und Erdichtung um den Kern gebildet hat". Aber er macht auch darauf aufmerksam, daß die Gerüchte von den „deutschen Greueln" sich eben deshalb um so leichter ausgebreitet haben mögen, weil sie im voraus zu gerne geglaubt wurden. „Einer der am häufigsten wiederkehrenden Berichte war gewiß der über abgehauene Hände. Trotz der absoluten physischen Unwahrheit wurde die Ge¬ schichte bekanntermaßen in weiten Kreisen geglaubt. Bald waren es englische Soldaten, bald waren es Hunderte von belgischen Kindern, die davon betroffen waren, über diese Gerüchte erzählt der englische Schriftsteller Harold Platon („13 it to dö etats?", London 1915), folgendes: Ein junger Mann erzählte einem meiner Freunde, er kenne einen Soldaten, der im London-Hospital liege, dem beide Hände abgehauen und beide Augen ausgestochen worden seien. Mein Freund glaubte es auch und fühlte natürlich das Entsetzen, das wir alle bei einer solchen Erzählung empfinden würden, ein Entsetzen, bei dem ein Übergang zum blinden Haß sich schwer verhindern läßt. Die Geschichte verbreitete sich. Zuletzt wurde im Hospital nachgefragt. Dort hatte man niemals von einem derartigen Fall gehört. Die Geschichte wurde bald in ein anderes Hospital verlegt, aber mein Freund nahm sich nicht mehr die Mühe, sie zu verfolgen. Späterhin wurde erzählt, daß in einem großen Haus in London landesflüchtige Kinder seien, denen die Deutschen die Hände abgehauen hätten. Nachdem die Behörde tausende von Briefen empfangen hatte, bat sie die Pn-sse, mit¬ zuteilen, daß die Geschichten ganz aus der Luft gegriffen seien. Als ich das nächste Mal die Geschichte hörte, kam sie aus einer Stadt in Mittelengland. Ich bat den Erzähler darum, die Kinder selbst aufzusuchen, und hier ist seine Antwort: einer unserer Freunde erzählte uns, er wisse bestimmt, daß ein Arzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/254>, abgerufen am 15.01.2025.