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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

und das Buch "Die Wahrheit über den Krieg", herausgegeben von zehn hervor"
ragenden Berliner Persönlichkeiten, vor. Ihnen stellt er eine Reihe von amtlichen
und anderen französischen, englischen und belgischen Berichten und Dokumenten¬
sammlungen gegenüber. Er vergleicht sie und kommt zu dem Ergebnis,
daß die Deutschen nur Behauptungen anführen, die anderen dagegen Beweise,
und wo sich ein Widerspruch findet -- was ja überall der Fall ist -- da sind
es somit die Deutschen, die lügen, die anderen, die die Wahrheit sprechen.

Hierzu findet Gad zweierlei zu bemerken. Erstens: wenn die deutschen
Wissenschaftler behaupten, daß nicht eines einzigen Belgiers Leben oder Eigen¬
tum angetastet worden ist, so glaubt auch er allerdings, daß sie damit zu viel
gesagt haben.

Wenn aber Ren 6 Chambry in "I^a vöritö sur l^ouvain" schreibt: "Vor
der Ankunft hatte der Gemeindevorstand alle Einwohner aufgefordert, die
Waffen, die sie etwa im Besitze hätten, auf dem Rathause abzuliefern, und es
war niemand, der dem Befehle nicht Folge geleistet hätte", so zitiert es
Jörgensen vollkommen ernsthaft als die unbedingte Wahrheit. Dies ist nicht
"kair pia,^". Wo bleibt denn hier die Ironie, fragen auch wir. Zweitens:
Es liegt eine Dokumentensammlung von deutscher Seite vor, die ganz der
französisch-englisch-belgischen entspricht. Warum hat Jörgensen diese nicht mit
in Betracht gezogen? Sie lag vielleicht nicht vor, als er sein Buch begann,
aber sie lag vor, lange ehe "Glocke Roland" herausgegeben wurde. Wäre es
nun Jörgensen darauf angekommen, die Wahrheit darzustellen und nicht die
Leser um jeden Preis in eine bestimmte Auffassung hineirizuhetzen, so hätte er
sich nicht der unabweisbaren Pflicht entziehen können, den betreffenden Abschnitt
umzuschreiben. Denn die erwähnte deutsche Dokumentensammlung "Die völker¬
rechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs" entzieht Jörgensens Beweis¬
führung vollständig den Boden, meint Gad.

Jörgensen sagt von den deutschen Beweisen: "Sie haben durchweg die eine
Eigentümlichkeit gemein -- sie sind fast alle schwebend, in Unbestimmtheit ge¬
halten; keine oder nur schwache Ortsangaben, keine Namen der Personen, von
denen die Rede ist." Und dies ist der einzige Grund, den er anführen kann,
um ihnen systematisch in Bausch und Bogen sein Vertrauen zu versagen. Aber
in dem deutschen Weißbuch werden außer einer Anzahl Berichte von deutschen
Offizieren in Belgien etwa 200 beeidigte Zeugenaussagen von deutschen Offizieren
und Soldaten aufgeführt, die darauf ausgehen, zu zeigen, daß von feiten der
belgischen Bevölkerung sowohl Franktireurkrieg in großem Stil betrieben (was
Jörgensen wohlgemut verneint), als auch Grausamkeiten gegen die deutschen
Soldaten verübt wurden (was er zur reinsten Erdichtung stempelt). Und alle
diese Berichte, die auf gerichtliche Verhöre begründet und durch den Eid bekräftigt
sind, geben sehr genaue und ins einzelne gehende Angaben darüber, was die
Betreffenden selbst gesehen und erlebt haben. "Es besteht keinerlei vernünftiger
Grund dafür, daß man diesen Dokumenten als historischem Beweismaterial


Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

und das Buch „Die Wahrheit über den Krieg", herausgegeben von zehn hervor«
ragenden Berliner Persönlichkeiten, vor. Ihnen stellt er eine Reihe von amtlichen
und anderen französischen, englischen und belgischen Berichten und Dokumenten¬
sammlungen gegenüber. Er vergleicht sie und kommt zu dem Ergebnis,
daß die Deutschen nur Behauptungen anführen, die anderen dagegen Beweise,
und wo sich ein Widerspruch findet — was ja überall der Fall ist — da sind
es somit die Deutschen, die lügen, die anderen, die die Wahrheit sprechen.

Hierzu findet Gad zweierlei zu bemerken. Erstens: wenn die deutschen
Wissenschaftler behaupten, daß nicht eines einzigen Belgiers Leben oder Eigen¬
tum angetastet worden ist, so glaubt auch er allerdings, daß sie damit zu viel
gesagt haben.

Wenn aber Ren 6 Chambry in „I^a vöritö sur l^ouvain" schreibt: „Vor
der Ankunft hatte der Gemeindevorstand alle Einwohner aufgefordert, die
Waffen, die sie etwa im Besitze hätten, auf dem Rathause abzuliefern, und es
war niemand, der dem Befehle nicht Folge geleistet hätte", so zitiert es
Jörgensen vollkommen ernsthaft als die unbedingte Wahrheit. Dies ist nicht
«kair pia,^". Wo bleibt denn hier die Ironie, fragen auch wir. Zweitens:
Es liegt eine Dokumentensammlung von deutscher Seite vor, die ganz der
französisch-englisch-belgischen entspricht. Warum hat Jörgensen diese nicht mit
in Betracht gezogen? Sie lag vielleicht nicht vor, als er sein Buch begann,
aber sie lag vor, lange ehe „Glocke Roland" herausgegeben wurde. Wäre es
nun Jörgensen darauf angekommen, die Wahrheit darzustellen und nicht die
Leser um jeden Preis in eine bestimmte Auffassung hineirizuhetzen, so hätte er
sich nicht der unabweisbaren Pflicht entziehen können, den betreffenden Abschnitt
umzuschreiben. Denn die erwähnte deutsche Dokumentensammlung „Die völker¬
rechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs" entzieht Jörgensens Beweis¬
führung vollständig den Boden, meint Gad.

Jörgensen sagt von den deutschen Beweisen: „Sie haben durchweg die eine
Eigentümlichkeit gemein — sie sind fast alle schwebend, in Unbestimmtheit ge¬
halten; keine oder nur schwache Ortsangaben, keine Namen der Personen, von
denen die Rede ist." Und dies ist der einzige Grund, den er anführen kann,
um ihnen systematisch in Bausch und Bogen sein Vertrauen zu versagen. Aber
in dem deutschen Weißbuch werden außer einer Anzahl Berichte von deutschen
Offizieren in Belgien etwa 200 beeidigte Zeugenaussagen von deutschen Offizieren
und Soldaten aufgeführt, die darauf ausgehen, zu zeigen, daß von feiten der
belgischen Bevölkerung sowohl Franktireurkrieg in großem Stil betrieben (was
Jörgensen wohlgemut verneint), als auch Grausamkeiten gegen die deutschen
Soldaten verübt wurden (was er zur reinsten Erdichtung stempelt). Und alle
diese Berichte, die auf gerichtliche Verhöre begründet und durch den Eid bekräftigt
sind, geben sehr genaue und ins einzelne gehende Angaben darüber, was die
Betreffenden selbst gesehen und erlebt haben. „Es besteht keinerlei vernünftiger
Grund dafür, daß man diesen Dokumenten als historischem Beweismaterial


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[0251] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen und das Buch „Die Wahrheit über den Krieg", herausgegeben von zehn hervor« ragenden Berliner Persönlichkeiten, vor. Ihnen stellt er eine Reihe von amtlichen und anderen französischen, englischen und belgischen Berichten und Dokumenten¬ sammlungen gegenüber. Er vergleicht sie und kommt zu dem Ergebnis, daß die Deutschen nur Behauptungen anführen, die anderen dagegen Beweise, und wo sich ein Widerspruch findet — was ja überall der Fall ist — da sind es somit die Deutschen, die lügen, die anderen, die die Wahrheit sprechen. Hierzu findet Gad zweierlei zu bemerken. Erstens: wenn die deutschen Wissenschaftler behaupten, daß nicht eines einzigen Belgiers Leben oder Eigen¬ tum angetastet worden ist, so glaubt auch er allerdings, daß sie damit zu viel gesagt haben. Wenn aber Ren 6 Chambry in „I^a vöritö sur l^ouvain" schreibt: „Vor der Ankunft hatte der Gemeindevorstand alle Einwohner aufgefordert, die Waffen, die sie etwa im Besitze hätten, auf dem Rathause abzuliefern, und es war niemand, der dem Befehle nicht Folge geleistet hätte", so zitiert es Jörgensen vollkommen ernsthaft als die unbedingte Wahrheit. Dies ist nicht «kair pia,^". Wo bleibt denn hier die Ironie, fragen auch wir. Zweitens: Es liegt eine Dokumentensammlung von deutscher Seite vor, die ganz der französisch-englisch-belgischen entspricht. Warum hat Jörgensen diese nicht mit in Betracht gezogen? Sie lag vielleicht nicht vor, als er sein Buch begann, aber sie lag vor, lange ehe „Glocke Roland" herausgegeben wurde. Wäre es nun Jörgensen darauf angekommen, die Wahrheit darzustellen und nicht die Leser um jeden Preis in eine bestimmte Auffassung hineirizuhetzen, so hätte er sich nicht der unabweisbaren Pflicht entziehen können, den betreffenden Abschnitt umzuschreiben. Denn die erwähnte deutsche Dokumentensammlung „Die völker¬ rechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs" entzieht Jörgensens Beweis¬ führung vollständig den Boden, meint Gad. Jörgensen sagt von den deutschen Beweisen: „Sie haben durchweg die eine Eigentümlichkeit gemein — sie sind fast alle schwebend, in Unbestimmtheit ge¬ halten; keine oder nur schwache Ortsangaben, keine Namen der Personen, von denen die Rede ist." Und dies ist der einzige Grund, den er anführen kann, um ihnen systematisch in Bausch und Bogen sein Vertrauen zu versagen. Aber in dem deutschen Weißbuch werden außer einer Anzahl Berichte von deutschen Offizieren in Belgien etwa 200 beeidigte Zeugenaussagen von deutschen Offizieren und Soldaten aufgeführt, die darauf ausgehen, zu zeigen, daß von feiten der belgischen Bevölkerung sowohl Franktireurkrieg in großem Stil betrieben (was Jörgensen wohlgemut verneint), als auch Grausamkeiten gegen die deutschen Soldaten verübt wurden (was er zur reinsten Erdichtung stempelt). Und alle diese Berichte, die auf gerichtliche Verhöre begründet und durch den Eid bekräftigt sind, geben sehr genaue und ins einzelne gehende Angaben darüber, was die Betreffenden selbst gesehen und erlebt haben. „Es besteht keinerlei vernünftiger Grund dafür, daß man diesen Dokumenten als historischem Beweismaterial

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/251>, abgerufen am 15.01.2025.