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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

an Sir F. Bertie keine Rede von Belgiens Neutralität sei. Aber ist der Mann
denn verrückt? fragt man. Ja, unleugbar müßte er es sein, wenn er solchen
Unsinn gesprochen hätte -- solche Lüge, wie Johannes Jörgensen es nennt.
Aber das hat er natürlich nicht getan. Nur für Jörgensens nach Lüge und
Gemeinheit eifrig spähenden Blick nimmt es sich so aus. Die saepe ist außer¬
ordentlich einfach. Bethmann-Hollweg spricht vom ersten Teil der Depesche,
wo die englische Regierung Frankreich Hilfe verspricht für den Fall eines
deutschen Flottenangriffes gegen die französische Küste oder den französischen
Handel. Von der belgischen Neutralität verlautete kein Wort, sagte er da.
Das tat es auch nicht in diesem Zusammenhang. Englands Versprechen, dies
geht klar aus der Depesche hervor, wurde ganz ohne Rücksicht darauf gegeben,
ob etwas mit Belgien geschähe oder nicht. Nur dies will der Reichskanzler
sagen. Daß später in derselben Depesche ohne den geringsten Zusammenhang
mit dem Vorangehenden von den Folgen einer eventuellen Kränkung der belgischen
Neutralität die Rede ist, hat mit der Sache gar nichts zu tun. Alles dies ist
vielleicht sehr richtig, wird man wohl einwenden, aber es ist ja ganz un¬
wesentlich. O nein, doch nicht so ganz. Derartiges hat seine große, sympto¬
matische Bedeutung, weil es klar zeigt, in welch hohem Grade auch bei dieser
Gelegenheit die Fähigkeit zu klarem Denken und redlichem Urteil geschwächt
wurde infolge des von Haß und Fanatismus aufgepeitschten Gemütszustandes,
in dem der Verfasser sich befand. Wenn man auf mehrere derartige Fälle
trifft, liest man mit Vorsicht weiter. Man versteht, daß das Buch als Dokument
keinen Wert hat, weil man sich nicht darauf verlassen kann."

Gad kommt nun auf den Hauptteil des Jörgenschen Buches zu sprechen,
der sich mit dem Überfall auf Belgien und dem Austreten der deutschen Truppen
dort beschäftigt. Die Verletzung der belgischen Neutralität findet er nicht ent¬
schuldbar, wenn auch verständlich. Dann fährt er fort:

"Nur eins soll in diesem Zusammenhang gesagt werden: Deutschlands
Verbrechen ist nicht so groß, wie man im allgemeinen annimmt. Es scheint
nämlich allmählich ganz mechanisch in das allgemeine Bewußtsein übergegangen
zu sein, daß Deutschland Belgien überfallen habe, um zu rauben und zu
brennen und allerhand Grausamkeiten zu begehen. Aber so schlimm ist es nun
doch nicht; Deutschland wollte durch Belgien marschieren auf ähnliche Art. wie
z. B. nun die Engländer und Franzosen durch Griechenland marschieren.
Belgien wollte es nicht leiden, und da erklärte Deutschland Belgien den Krieg,
um sich den Durchgang mit Gewalt zu erzwingen. Das war das Verbrechen.
Wie die Deutschen sich dann in Belgien aufgeführt haben, nachdem sie herein¬
gekommen waren, das ist eine andere Frage, und es ist von Bedeutung, diese
beiden Dinge auseinander zu halten."

Wie macht es nun Jörgensen, wenn er ein Bild von dem Betragen der
Deutschen in Belgien entwerfen will? Er nimmt sich zwei deutsche Agitations¬
schriften, den "Aufruf an die Kulturwelt" der dreiundneunzig Wissenschaftler


Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

an Sir F. Bertie keine Rede von Belgiens Neutralität sei. Aber ist der Mann
denn verrückt? fragt man. Ja, unleugbar müßte er es sein, wenn er solchen
Unsinn gesprochen hätte — solche Lüge, wie Johannes Jörgensen es nennt.
Aber das hat er natürlich nicht getan. Nur für Jörgensens nach Lüge und
Gemeinheit eifrig spähenden Blick nimmt es sich so aus. Die saepe ist außer¬
ordentlich einfach. Bethmann-Hollweg spricht vom ersten Teil der Depesche,
wo die englische Regierung Frankreich Hilfe verspricht für den Fall eines
deutschen Flottenangriffes gegen die französische Küste oder den französischen
Handel. Von der belgischen Neutralität verlautete kein Wort, sagte er da.
Das tat es auch nicht in diesem Zusammenhang. Englands Versprechen, dies
geht klar aus der Depesche hervor, wurde ganz ohne Rücksicht darauf gegeben,
ob etwas mit Belgien geschähe oder nicht. Nur dies will der Reichskanzler
sagen. Daß später in derselben Depesche ohne den geringsten Zusammenhang
mit dem Vorangehenden von den Folgen einer eventuellen Kränkung der belgischen
Neutralität die Rede ist, hat mit der Sache gar nichts zu tun. Alles dies ist
vielleicht sehr richtig, wird man wohl einwenden, aber es ist ja ganz un¬
wesentlich. O nein, doch nicht so ganz. Derartiges hat seine große, sympto¬
matische Bedeutung, weil es klar zeigt, in welch hohem Grade auch bei dieser
Gelegenheit die Fähigkeit zu klarem Denken und redlichem Urteil geschwächt
wurde infolge des von Haß und Fanatismus aufgepeitschten Gemütszustandes,
in dem der Verfasser sich befand. Wenn man auf mehrere derartige Fälle
trifft, liest man mit Vorsicht weiter. Man versteht, daß das Buch als Dokument
keinen Wert hat, weil man sich nicht darauf verlassen kann."

Gad kommt nun auf den Hauptteil des Jörgenschen Buches zu sprechen,
der sich mit dem Überfall auf Belgien und dem Austreten der deutschen Truppen
dort beschäftigt. Die Verletzung der belgischen Neutralität findet er nicht ent¬
schuldbar, wenn auch verständlich. Dann fährt er fort:

„Nur eins soll in diesem Zusammenhang gesagt werden: Deutschlands
Verbrechen ist nicht so groß, wie man im allgemeinen annimmt. Es scheint
nämlich allmählich ganz mechanisch in das allgemeine Bewußtsein übergegangen
zu sein, daß Deutschland Belgien überfallen habe, um zu rauben und zu
brennen und allerhand Grausamkeiten zu begehen. Aber so schlimm ist es nun
doch nicht; Deutschland wollte durch Belgien marschieren auf ähnliche Art. wie
z. B. nun die Engländer und Franzosen durch Griechenland marschieren.
Belgien wollte es nicht leiden, und da erklärte Deutschland Belgien den Krieg,
um sich den Durchgang mit Gewalt zu erzwingen. Das war das Verbrechen.
Wie die Deutschen sich dann in Belgien aufgeführt haben, nachdem sie herein¬
gekommen waren, das ist eine andere Frage, und es ist von Bedeutung, diese
beiden Dinge auseinander zu halten."

Wie macht es nun Jörgensen, wenn er ein Bild von dem Betragen der
Deutschen in Belgien entwerfen will? Er nimmt sich zwei deutsche Agitations¬
schriften, den „Aufruf an die Kulturwelt" der dreiundneunzig Wissenschaftler


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[0250] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen an Sir F. Bertie keine Rede von Belgiens Neutralität sei. Aber ist der Mann denn verrückt? fragt man. Ja, unleugbar müßte er es sein, wenn er solchen Unsinn gesprochen hätte — solche Lüge, wie Johannes Jörgensen es nennt. Aber das hat er natürlich nicht getan. Nur für Jörgensens nach Lüge und Gemeinheit eifrig spähenden Blick nimmt es sich so aus. Die saepe ist außer¬ ordentlich einfach. Bethmann-Hollweg spricht vom ersten Teil der Depesche, wo die englische Regierung Frankreich Hilfe verspricht für den Fall eines deutschen Flottenangriffes gegen die französische Küste oder den französischen Handel. Von der belgischen Neutralität verlautete kein Wort, sagte er da. Das tat es auch nicht in diesem Zusammenhang. Englands Versprechen, dies geht klar aus der Depesche hervor, wurde ganz ohne Rücksicht darauf gegeben, ob etwas mit Belgien geschähe oder nicht. Nur dies will der Reichskanzler sagen. Daß später in derselben Depesche ohne den geringsten Zusammenhang mit dem Vorangehenden von den Folgen einer eventuellen Kränkung der belgischen Neutralität die Rede ist, hat mit der Sache gar nichts zu tun. Alles dies ist vielleicht sehr richtig, wird man wohl einwenden, aber es ist ja ganz un¬ wesentlich. O nein, doch nicht so ganz. Derartiges hat seine große, sympto¬ matische Bedeutung, weil es klar zeigt, in welch hohem Grade auch bei dieser Gelegenheit die Fähigkeit zu klarem Denken und redlichem Urteil geschwächt wurde infolge des von Haß und Fanatismus aufgepeitschten Gemütszustandes, in dem der Verfasser sich befand. Wenn man auf mehrere derartige Fälle trifft, liest man mit Vorsicht weiter. Man versteht, daß das Buch als Dokument keinen Wert hat, weil man sich nicht darauf verlassen kann." Gad kommt nun auf den Hauptteil des Jörgenschen Buches zu sprechen, der sich mit dem Überfall auf Belgien und dem Austreten der deutschen Truppen dort beschäftigt. Die Verletzung der belgischen Neutralität findet er nicht ent¬ schuldbar, wenn auch verständlich. Dann fährt er fort: „Nur eins soll in diesem Zusammenhang gesagt werden: Deutschlands Verbrechen ist nicht so groß, wie man im allgemeinen annimmt. Es scheint nämlich allmählich ganz mechanisch in das allgemeine Bewußtsein übergegangen zu sein, daß Deutschland Belgien überfallen habe, um zu rauben und zu brennen und allerhand Grausamkeiten zu begehen. Aber so schlimm ist es nun doch nicht; Deutschland wollte durch Belgien marschieren auf ähnliche Art. wie z. B. nun die Engländer und Franzosen durch Griechenland marschieren. Belgien wollte es nicht leiden, und da erklärte Deutschland Belgien den Krieg, um sich den Durchgang mit Gewalt zu erzwingen. Das war das Verbrechen. Wie die Deutschen sich dann in Belgien aufgeführt haben, nachdem sie herein¬ gekommen waren, das ist eine andere Frage, und es ist von Bedeutung, diese beiden Dinge auseinander zu halten." Wie macht es nun Jörgensen, wenn er ein Bild von dem Betragen der Deutschen in Belgien entwerfen will? Er nimmt sich zwei deutsche Agitations¬ schriften, den „Aufruf an die Kulturwelt" der dreiundneunzig Wissenschaftler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/250>, abgerufen am 15.01.2025.