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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

nicht eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum zugrunde gegangen
sei, außer, wenn die deutschen Soldaten genötigt waren, sich zu verteidigen.
Selbstverständlich ist eine Menge Belgier zugrunde gegangen, denn es ist Krieg
zwischen Belgien und Deutschland, und im Kriege geht, Gott bessere es, manches
zugrunde. "Aber das zu leugnen, haben jene deutschen Wissenschaftler ja auch
niemals beabsichtigt; sie gebrauchen das Wort antasten, das sich vergreifen be¬
deutet und sich nur bezieht und beziehen kann auf dasjenige Auftreten der
deutschen Soldaten, das außerhalb der eigentlichen militärischen Operationen
fällt." Oder es gilt der Behauptung der in Rede stehenden Kundgebung,
daß Deutschland den Krieg nicht gewollt habe. Die Männer der deutschen
Wissenschaft behaupten: erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde
Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie
ein Mann. Die "Glocke Roland" antwortet nun: es ist weder Dänemark,
noch die Schweiz, noch Holland, von denen die Rede sein kann, denn die leben
bis ciato in Frieden mit Deutschland; es kann auch nicht Österreich sein, denn
das ist Deutschlands Verbündeter, auch nicht Rußland oder Frankreich, denn
es war doch wahrhaftig Deutschland, das jenen den Krieg erklärte, und nicht
umgekehrt. Und England grenzt ja nicht an Deutschland. So bleibt also nur
Belgien, das große, mächtige Belgien, welches das arme kleine Deutschland
überfallen hat. -- Das ist ja alles sehr unterhaltend, meint Gad, aber nichts¬
destoweniger reines Geschwätz. Daß England nicht eine der drei Mächte sein
könnte, von denen die Rede ist, weil es keine Landesgrenze mit Deutschland
gemein hat, daß mau von Frankreich und Rußland nicht sagen können sollte,
sie hätten Deutschland überfallen, weil Deutschland es war, das den Krieg
erklärte! "Es kann ja wohl sein, daß sie es nicht taten. Es kann wohl sein,
daß Deutschland die größte Schuld am Kriege trägt. Man löst nur nicht buse
Frage, die noch lange Zeit den Historikern Stoff zum Nachdenken geben wird
(wie steht es z. B. mit Edward des Siebenten Schuld?), indem man uns er¬
zählt, daß es Deutschland war, das den Krieg erklärte. Danke, das wußten
wir l Die 93 deutschen Wissenschaftler auch. Aber wir wissen auch, daß der formell
den Krieg Erklärende und der reell Angreifende nicht derselbe zu sein braucht."

Dann ist da eine Stelle, wo Johannes Jörgensen den deutschen Reichs¬
kanzler entweder "der Nachlässigkeit der Wahrheit gegenüber oder der Gleich¬
gültigkeit gegen die Wahrheit" beschuldigt, Bethmann-Hollweg habe gesagt, daß
in einem gegebenen Zusammenhang kein Wort von Belgiens Neutralität stehe,
und Johannes Jörgensen zählt sie auf: Bitte. 64 Wörter. Da könne doch
jeder sehen, was für Lügner die Deutschen sind, wenn sogar der Reichskanzler
etwas derartiges liefern kann! "Dieses ganze Stück in der .Glocke Roland'
Zeugt von einer solchen Unfähigkeit, ein historisches Aktenstück zu lesen, daß es
an das Unglaubliche grenzt. Man mache sich klar, daß es sich darum dreht,
der Reichskanzler hat gelogen, indem er vor dem Deutschen Reichstag aus¬
gesprochen haben soll, daß in einer gewissen Depesche von Sir Edward Grey


Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

nicht eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum zugrunde gegangen
sei, außer, wenn die deutschen Soldaten genötigt waren, sich zu verteidigen.
Selbstverständlich ist eine Menge Belgier zugrunde gegangen, denn es ist Krieg
zwischen Belgien und Deutschland, und im Kriege geht, Gott bessere es, manches
zugrunde. „Aber das zu leugnen, haben jene deutschen Wissenschaftler ja auch
niemals beabsichtigt; sie gebrauchen das Wort antasten, das sich vergreifen be¬
deutet und sich nur bezieht und beziehen kann auf dasjenige Auftreten der
deutschen Soldaten, das außerhalb der eigentlichen militärischen Operationen
fällt." Oder es gilt der Behauptung der in Rede stehenden Kundgebung,
daß Deutschland den Krieg nicht gewollt habe. Die Männer der deutschen
Wissenschaft behaupten: erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde
Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie
ein Mann. Die „Glocke Roland" antwortet nun: es ist weder Dänemark,
noch die Schweiz, noch Holland, von denen die Rede sein kann, denn die leben
bis ciato in Frieden mit Deutschland; es kann auch nicht Österreich sein, denn
das ist Deutschlands Verbündeter, auch nicht Rußland oder Frankreich, denn
es war doch wahrhaftig Deutschland, das jenen den Krieg erklärte, und nicht
umgekehrt. Und England grenzt ja nicht an Deutschland. So bleibt also nur
Belgien, das große, mächtige Belgien, welches das arme kleine Deutschland
überfallen hat. — Das ist ja alles sehr unterhaltend, meint Gad, aber nichts¬
destoweniger reines Geschwätz. Daß England nicht eine der drei Mächte sein
könnte, von denen die Rede ist, weil es keine Landesgrenze mit Deutschland
gemein hat, daß mau von Frankreich und Rußland nicht sagen können sollte,
sie hätten Deutschland überfallen, weil Deutschland es war, das den Krieg
erklärte! „Es kann ja wohl sein, daß sie es nicht taten. Es kann wohl sein,
daß Deutschland die größte Schuld am Kriege trägt. Man löst nur nicht buse
Frage, die noch lange Zeit den Historikern Stoff zum Nachdenken geben wird
(wie steht es z. B. mit Edward des Siebenten Schuld?), indem man uns er¬
zählt, daß es Deutschland war, das den Krieg erklärte. Danke, das wußten
wir l Die 93 deutschen Wissenschaftler auch. Aber wir wissen auch, daß der formell
den Krieg Erklärende und der reell Angreifende nicht derselbe zu sein braucht."

Dann ist da eine Stelle, wo Johannes Jörgensen den deutschen Reichs¬
kanzler entweder „der Nachlässigkeit der Wahrheit gegenüber oder der Gleich¬
gültigkeit gegen die Wahrheit" beschuldigt, Bethmann-Hollweg habe gesagt, daß
in einem gegebenen Zusammenhang kein Wort von Belgiens Neutralität stehe,
und Johannes Jörgensen zählt sie auf: Bitte. 64 Wörter. Da könne doch
jeder sehen, was für Lügner die Deutschen sind, wenn sogar der Reichskanzler
etwas derartiges liefern kann! „Dieses ganze Stück in der .Glocke Roland'
Zeugt von einer solchen Unfähigkeit, ein historisches Aktenstück zu lesen, daß es
an das Unglaubliche grenzt. Man mache sich klar, daß es sich darum dreht,
der Reichskanzler hat gelogen, indem er vor dem Deutschen Reichstag aus¬
gesprochen haben soll, daß in einer gewissen Depesche von Sir Edward Grey


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[0249] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen nicht eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum zugrunde gegangen sei, außer, wenn die deutschen Soldaten genötigt waren, sich zu verteidigen. Selbstverständlich ist eine Menge Belgier zugrunde gegangen, denn es ist Krieg zwischen Belgien und Deutschland, und im Kriege geht, Gott bessere es, manches zugrunde. „Aber das zu leugnen, haben jene deutschen Wissenschaftler ja auch niemals beabsichtigt; sie gebrauchen das Wort antasten, das sich vergreifen be¬ deutet und sich nur bezieht und beziehen kann auf dasjenige Auftreten der deutschen Soldaten, das außerhalb der eigentlichen militärischen Operationen fällt." Oder es gilt der Behauptung der in Rede stehenden Kundgebung, daß Deutschland den Krieg nicht gewollt habe. Die Männer der deutschen Wissenschaft behaupten: erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann. Die „Glocke Roland" antwortet nun: es ist weder Dänemark, noch die Schweiz, noch Holland, von denen die Rede sein kann, denn die leben bis ciato in Frieden mit Deutschland; es kann auch nicht Österreich sein, denn das ist Deutschlands Verbündeter, auch nicht Rußland oder Frankreich, denn es war doch wahrhaftig Deutschland, das jenen den Krieg erklärte, und nicht umgekehrt. Und England grenzt ja nicht an Deutschland. So bleibt also nur Belgien, das große, mächtige Belgien, welches das arme kleine Deutschland überfallen hat. — Das ist ja alles sehr unterhaltend, meint Gad, aber nichts¬ destoweniger reines Geschwätz. Daß England nicht eine der drei Mächte sein könnte, von denen die Rede ist, weil es keine Landesgrenze mit Deutschland gemein hat, daß mau von Frankreich und Rußland nicht sagen können sollte, sie hätten Deutschland überfallen, weil Deutschland es war, das den Krieg erklärte! „Es kann ja wohl sein, daß sie es nicht taten. Es kann wohl sein, daß Deutschland die größte Schuld am Kriege trägt. Man löst nur nicht buse Frage, die noch lange Zeit den Historikern Stoff zum Nachdenken geben wird (wie steht es z. B. mit Edward des Siebenten Schuld?), indem man uns er¬ zählt, daß es Deutschland war, das den Krieg erklärte. Danke, das wußten wir l Die 93 deutschen Wissenschaftler auch. Aber wir wissen auch, daß der formell den Krieg Erklärende und der reell Angreifende nicht derselbe zu sein braucht." Dann ist da eine Stelle, wo Johannes Jörgensen den deutschen Reichs¬ kanzler entweder „der Nachlässigkeit der Wahrheit gegenüber oder der Gleich¬ gültigkeit gegen die Wahrheit" beschuldigt, Bethmann-Hollweg habe gesagt, daß in einem gegebenen Zusammenhang kein Wort von Belgiens Neutralität stehe, und Johannes Jörgensen zählt sie auf: Bitte. 64 Wörter. Da könne doch jeder sehen, was für Lügner die Deutschen sind, wenn sogar der Reichskanzler etwas derartiges liefern kann! „Dieses ganze Stück in der .Glocke Roland' Zeugt von einer solchen Unfähigkeit, ein historisches Aktenstück zu lesen, daß es an das Unglaubliche grenzt. Man mache sich klar, daß es sich darum dreht, der Reichskanzler hat gelogen, indem er vor dem Deutschen Reichstag aus¬ gesprochen haben soll, daß in einer gewissen Depesche von Sir Edward Grey

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/249>, abgerufen am 15.01.2025.