Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Das Nationalitätsprinzip und der Krieg erhobenen italienischen Forderungen hätten bei ihrer Verwirklichung zu der Daß Elsaß-Lothringen kraft des Nationalitätsprinzips als Siegespreis zu Und damit auch hier das Satyrspiel nicht fehle, war unter den künftigen Wenn schließlich England zum Schutze Belgiens oder, wie man später ver¬ Außer dem ersten Balkankriege ist noch niemals ein Krieg so zielbewußt Damit scheint aber das Nationalitätsprinzip den Höhepunkt seiner ge¬ Es liegt im Wesen jedes Ideals, daß es sich in der Welt der Wirklichkeit Das Nationalitätsprinzip und der Krieg erhobenen italienischen Forderungen hätten bei ihrer Verwirklichung zu der Daß Elsaß-Lothringen kraft des Nationalitätsprinzips als Siegespreis zu Und damit auch hier das Satyrspiel nicht fehle, war unter den künftigen Wenn schließlich England zum Schutze Belgiens oder, wie man später ver¬ Außer dem ersten Balkankriege ist noch niemals ein Krieg so zielbewußt Damit scheint aber das Nationalitätsprinzip den Höhepunkt seiner ge¬ Es liegt im Wesen jedes Ideals, daß es sich in der Welt der Wirklichkeit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329910"/> <fw type="header" place="top"> Das Nationalitätsprinzip und der Krieg</fw><lb/> <p xml:id="ID_789" prev="#ID_788"> erhobenen italienischen Forderungen hätten bei ihrer Verwirklichung zu der<lb/> ungeheuerlichsten Vergewaltigung fremder Nationalitäten, von Deutschen, Serben,<lb/> Albanesen und Griechen geführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_790"> Daß Elsaß-Lothringen kraft des Nationalitätsprinzips als Siegespreis zu<lb/> Frankreich zurückkehren müsse, war selbstverständlich. Da die gewaltsame Los¬<lb/> reißung durch den Frankfurter Frieden null und nichtig war, gehörte es eigentlich<lb/> schon dazu. Ohne weiteres erklärte daher Joffre vor dem Rathause zu Mül-<lb/> hausen die Wiedervereinigung mit Frankreich. Nicht einmal eine Volksabstimmung,<lb/> auf die man doch sonst französischerseits so viel Wert gelegt hatte, sollte statt¬<lb/> finden. Dabei vergaß man ganz, daß das Reichsland nur zu einem Zehntel<lb/> von Bewohnern französischen Sprachstammes namentlich an der lothringischen<lb/> Grenze bewohnt ist. Für die übrigen neun Zehntel Deutsche, Allemannen und<lb/> Franken, etwa anderthalb Millionen an Zahl, hätte die Vereinigung Elsaß-<lb/> Lothringens mit Frankreich um der paar hunderttausend Franzosen willen wieder<lb/> eine ungeheuerliche Vergewaltigung des Nationalitätsprinzips bedeutet.</p><lb/> <p xml:id="ID_791"> Und damit auch hier das Satyrspiel nicht fehle, war unter den künftigen<lb/> Friedensbedingungen die Neutralisierung des Nordostseekanals und die Rückgabe<lb/> des nördlich davon gelegenen Gebietes an Dänemark in Aussicht genommen.<lb/> Man dachte sich augenscheinlich ganz Schleswig und Nörder-Dithmarschen als<lb/> von Dänen bewohnt.</p><lb/> <p xml:id="ID_792"> Wenn schließlich England zum Schutze Belgiens oder, wie man später ver¬<lb/> allgemeinernd sagte, zum Schutze der kleinen Nationen überhaupt den Krieg<lb/> erklärte, so spielt auch hier das Nationalitätsprtnzip hinein. Dabei übersah<lb/> man wieder, daß es vom Standpunkte des Nationalitätsprinzips ein belgisches<lb/> Volk nie gegeben hat, ja der Bestand des belgischen Staates von seinem Anfange<lb/> bis zu seinem Untergange ein Widerspruch in sich selbst war.</p><lb/> <p xml:id="ID_793"> Außer dem ersten Balkankriege ist noch niemals ein Krieg so zielbewußt<lb/> von allen Seiten im Namen des Nationalitätsprinzips begonnen worden. War<lb/> doch eine der beiden Großmächte, gegen die er sich von Anfang richtete, Österreich<lb/> als Nationalitätenstaat bei Durchführung des Nationalitätsprinzipes von selbst<lb/> geliefert. Andererseits ist überall erkennbar, wie das Nationalitätsprinzip nur<lb/> den Vorwand bildet. Die Durchführung der von Rußland, England, Frankreich,<lb/> Italien und ihren kleineren Verbündeten gesteckten Kriegsziele hätte überall die<lb/> Vergewaltigung fremder Nationalitäten bedeutet.</p><lb/> <p xml:id="ID_794"> Damit scheint aber das Nationalitätsprinzip den Höhepunkt seiner ge¬<lb/> schichtlichen Mission überschritten zu haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_795" next="#ID_796"> Es liegt im Wesen jedes Ideals, daß es sich in der Welt der Wirklichkeit<lb/> nicht rein durchsetzt, sondern mit Widerständen zu kämpfen hat, sich an ihnen<lb/> abschleift und mit ihnen Kompromisse schließt. So hat es in der neueren<lb/> Geschichte auch noch nie einen Staat gegeben, der dem Ideale des Nationalitäts¬<lb/> prinzips voll entsprochen hätte, das ganze Volk im ethnischen oder sprachlichen<lb/> Sinne und nur dieses Volk in einer staatlichen Gemeinschaft zu vereinigen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0242]
Das Nationalitätsprinzip und der Krieg
erhobenen italienischen Forderungen hätten bei ihrer Verwirklichung zu der
ungeheuerlichsten Vergewaltigung fremder Nationalitäten, von Deutschen, Serben,
Albanesen und Griechen geführt.
Daß Elsaß-Lothringen kraft des Nationalitätsprinzips als Siegespreis zu
Frankreich zurückkehren müsse, war selbstverständlich. Da die gewaltsame Los¬
reißung durch den Frankfurter Frieden null und nichtig war, gehörte es eigentlich
schon dazu. Ohne weiteres erklärte daher Joffre vor dem Rathause zu Mül-
hausen die Wiedervereinigung mit Frankreich. Nicht einmal eine Volksabstimmung,
auf die man doch sonst französischerseits so viel Wert gelegt hatte, sollte statt¬
finden. Dabei vergaß man ganz, daß das Reichsland nur zu einem Zehntel
von Bewohnern französischen Sprachstammes namentlich an der lothringischen
Grenze bewohnt ist. Für die übrigen neun Zehntel Deutsche, Allemannen und
Franken, etwa anderthalb Millionen an Zahl, hätte die Vereinigung Elsaß-
Lothringens mit Frankreich um der paar hunderttausend Franzosen willen wieder
eine ungeheuerliche Vergewaltigung des Nationalitätsprinzips bedeutet.
Und damit auch hier das Satyrspiel nicht fehle, war unter den künftigen
Friedensbedingungen die Neutralisierung des Nordostseekanals und die Rückgabe
des nördlich davon gelegenen Gebietes an Dänemark in Aussicht genommen.
Man dachte sich augenscheinlich ganz Schleswig und Nörder-Dithmarschen als
von Dänen bewohnt.
Wenn schließlich England zum Schutze Belgiens oder, wie man später ver¬
allgemeinernd sagte, zum Schutze der kleinen Nationen überhaupt den Krieg
erklärte, so spielt auch hier das Nationalitätsprtnzip hinein. Dabei übersah
man wieder, daß es vom Standpunkte des Nationalitätsprinzips ein belgisches
Volk nie gegeben hat, ja der Bestand des belgischen Staates von seinem Anfange
bis zu seinem Untergange ein Widerspruch in sich selbst war.
Außer dem ersten Balkankriege ist noch niemals ein Krieg so zielbewußt
von allen Seiten im Namen des Nationalitätsprinzips begonnen worden. War
doch eine der beiden Großmächte, gegen die er sich von Anfang richtete, Österreich
als Nationalitätenstaat bei Durchführung des Nationalitätsprinzipes von selbst
geliefert. Andererseits ist überall erkennbar, wie das Nationalitätsprinzip nur
den Vorwand bildet. Die Durchführung der von Rußland, England, Frankreich,
Italien und ihren kleineren Verbündeten gesteckten Kriegsziele hätte überall die
Vergewaltigung fremder Nationalitäten bedeutet.
Damit scheint aber das Nationalitätsprinzip den Höhepunkt seiner ge¬
schichtlichen Mission überschritten zu haben.
Es liegt im Wesen jedes Ideals, daß es sich in der Welt der Wirklichkeit
nicht rein durchsetzt, sondern mit Widerständen zu kämpfen hat, sich an ihnen
abschleift und mit ihnen Kompromisse schließt. So hat es in der neueren
Geschichte auch noch nie einen Staat gegeben, der dem Ideale des Nationalitäts¬
prinzips voll entsprochen hätte, das ganze Volk im ethnischen oder sprachlichen
Sinne und nur dieses Volk in einer staatlichen Gemeinschaft zu vereinigen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |