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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und der Krieg

national wagte man über einen lockeren Staatenbund der italienischen Staaten
unter dem Vorsitze des Papstes nicht hinauszudenken.

In zielbewußter Weise hat erst Napoleon der Dritte das Nationalitäts¬
prinzip zum leitenden Grundsatze seiner auswärtigen Politik gemacht trotz der
Warnungen Thiers, daß die Einigung Deutschlands die weitere Folge der
italienischen Einheit sein werde. Selbstverständlich erwärmte sich das Oberhaupt
des streng geschlossenen französischen Nationalstaates nicht uneigennützig sür
fremde Nationalitäten, um auch ihnen den Segen nationaler Einheit zu bringen,
den Frankreich schon lange seit seinen alten Königen besaß. Das Nationalitäts-
prinzip war ihm nur das Mittel, um Österreichs Herrschaft in Italien aus den
Angeln zu heben und die Frankreichs, gestützt auf ein sardinisch-subalpinisches
Königreich, an die Stelle zu setzen. An die italienische Einheit dachte er mit
Nichten. Dann wuchs ihm aber die Bewegung über den Kopf, und er hatte
die ganze übrige Zeit seiner Regierung damit zu tun, wenigstens Dämme zu
ziehen, um die Reste des Kirchenstaates zu retten, dessen Untergang ihm die
für feine innere Politik fo notwendigen französischen Ultramontanen nie verziehen
hätten. Gleichzeitig hatte sich aber der französische Kaiser durch seine Vertretung
des Nationalitätsprinzips Deutschland gegenüber in gewissem Sinne die Hände
gebunden, wie das Thiers ganz richtig vorausgesagt hatte. Daß er daneben
im Prager Frieden dem Nationalitätsprinzip gemäß auf Rückabtretung der
vorwiegend dänischen Teile Nord-Schleswigs an Dänemark nach einem künftigen
Plebiszite drang, war gegenüber der gewaltigen Einheitsbewegung Deutschlands
ein unschuldiges politisches Spiel. In der Tat scheiterte Napoleons des Dritten
auswärtige Politik daran, daß er die Geister, die er gerufen, nicht wieder los
wurde. Und das konnte ihm niemand weniger verzeihen als das französische Volk.

Obgleich Napoleon der Dritte als erster unter den Regierenden sich auf
das Nationalitätsprinzip berief, hat sich die Einigung Italiens und Deutschlands
nicht mit ihm, sondern gegen ihn vollzogen. In den beiden Einheitsbewegungen
fand das Nationalitätsprinzip seine freilich nicht restlose Verwirklichung.

Doch schon hatte der neue Grundsatz angefangen, in dem zerbröckelnder
türkischen Reiche sich auf die Balkanhalbinsel zu verpflanzen zur Befreiung der
Hellenen, Rumänen und Slawen von türkischer Fremdherrschaft. Auch hier
bediente sich wieder eine europäische Großmacht des Nationalitätsprinzips als
Hebels ihrer auswärtigen Politik, Rußland. Eigentümlicher Widerspruch der
Dinge. Dieselbe Macht, die Polen vernichtet und des letzten Nestes von Selb¬
ständigkeit entkleidet hatte, die die Ukrainer nur als Bestandteil des russischen
Volkes kannte, fühlte sich berufen, den Balkanvölkern die Freiheit zu bringen.
Und das letzte Ziel der russischen Balkanpolitik, der Erwerb Konstantinopels
und der Meerengen, wo keine Russen noch überhaupt Slawen wohnten, für
Rußland, schlug doch dem Nationalitätsprinzip geradezu ins Gesicht. Hier
wurde das Nationalitätsprinzip zur Umkleidung des Widerspruches mit einem
neuen Einschlage versehen, es ist die Idee des Panslawismus und der Orthodoxie.


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Das Nationalitätsprinzip und der Krieg

national wagte man über einen lockeren Staatenbund der italienischen Staaten
unter dem Vorsitze des Papstes nicht hinauszudenken.

In zielbewußter Weise hat erst Napoleon der Dritte das Nationalitäts¬
prinzip zum leitenden Grundsatze seiner auswärtigen Politik gemacht trotz der
Warnungen Thiers, daß die Einigung Deutschlands die weitere Folge der
italienischen Einheit sein werde. Selbstverständlich erwärmte sich das Oberhaupt
des streng geschlossenen französischen Nationalstaates nicht uneigennützig sür
fremde Nationalitäten, um auch ihnen den Segen nationaler Einheit zu bringen,
den Frankreich schon lange seit seinen alten Königen besaß. Das Nationalitäts-
prinzip war ihm nur das Mittel, um Österreichs Herrschaft in Italien aus den
Angeln zu heben und die Frankreichs, gestützt auf ein sardinisch-subalpinisches
Königreich, an die Stelle zu setzen. An die italienische Einheit dachte er mit
Nichten. Dann wuchs ihm aber die Bewegung über den Kopf, und er hatte
die ganze übrige Zeit seiner Regierung damit zu tun, wenigstens Dämme zu
ziehen, um die Reste des Kirchenstaates zu retten, dessen Untergang ihm die
für feine innere Politik fo notwendigen französischen Ultramontanen nie verziehen
hätten. Gleichzeitig hatte sich aber der französische Kaiser durch seine Vertretung
des Nationalitätsprinzips Deutschland gegenüber in gewissem Sinne die Hände
gebunden, wie das Thiers ganz richtig vorausgesagt hatte. Daß er daneben
im Prager Frieden dem Nationalitätsprinzip gemäß auf Rückabtretung der
vorwiegend dänischen Teile Nord-Schleswigs an Dänemark nach einem künftigen
Plebiszite drang, war gegenüber der gewaltigen Einheitsbewegung Deutschlands
ein unschuldiges politisches Spiel. In der Tat scheiterte Napoleons des Dritten
auswärtige Politik daran, daß er die Geister, die er gerufen, nicht wieder los
wurde. Und das konnte ihm niemand weniger verzeihen als das französische Volk.

Obgleich Napoleon der Dritte als erster unter den Regierenden sich auf
das Nationalitätsprinzip berief, hat sich die Einigung Italiens und Deutschlands
nicht mit ihm, sondern gegen ihn vollzogen. In den beiden Einheitsbewegungen
fand das Nationalitätsprinzip seine freilich nicht restlose Verwirklichung.

Doch schon hatte der neue Grundsatz angefangen, in dem zerbröckelnder
türkischen Reiche sich auf die Balkanhalbinsel zu verpflanzen zur Befreiung der
Hellenen, Rumänen und Slawen von türkischer Fremdherrschaft. Auch hier
bediente sich wieder eine europäische Großmacht des Nationalitätsprinzips als
Hebels ihrer auswärtigen Politik, Rußland. Eigentümlicher Widerspruch der
Dinge. Dieselbe Macht, die Polen vernichtet und des letzten Nestes von Selb¬
ständigkeit entkleidet hatte, die die Ukrainer nur als Bestandteil des russischen
Volkes kannte, fühlte sich berufen, den Balkanvölkern die Freiheit zu bringen.
Und das letzte Ziel der russischen Balkanpolitik, der Erwerb Konstantinopels
und der Meerengen, wo keine Russen noch überhaupt Slawen wohnten, für
Rußland, schlug doch dem Nationalitätsprinzip geradezu ins Gesicht. Hier
wurde das Nationalitätsprinzip zur Umkleidung des Widerspruches mit einem
neuen Einschlage versehen, es ist die Idee des Panslawismus und der Orthodoxie.


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[0239] Das Nationalitätsprinzip und der Krieg national wagte man über einen lockeren Staatenbund der italienischen Staaten unter dem Vorsitze des Papstes nicht hinauszudenken. In zielbewußter Weise hat erst Napoleon der Dritte das Nationalitäts¬ prinzip zum leitenden Grundsatze seiner auswärtigen Politik gemacht trotz der Warnungen Thiers, daß die Einigung Deutschlands die weitere Folge der italienischen Einheit sein werde. Selbstverständlich erwärmte sich das Oberhaupt des streng geschlossenen französischen Nationalstaates nicht uneigennützig sür fremde Nationalitäten, um auch ihnen den Segen nationaler Einheit zu bringen, den Frankreich schon lange seit seinen alten Königen besaß. Das Nationalitäts- prinzip war ihm nur das Mittel, um Österreichs Herrschaft in Italien aus den Angeln zu heben und die Frankreichs, gestützt auf ein sardinisch-subalpinisches Königreich, an die Stelle zu setzen. An die italienische Einheit dachte er mit Nichten. Dann wuchs ihm aber die Bewegung über den Kopf, und er hatte die ganze übrige Zeit seiner Regierung damit zu tun, wenigstens Dämme zu ziehen, um die Reste des Kirchenstaates zu retten, dessen Untergang ihm die für feine innere Politik fo notwendigen französischen Ultramontanen nie verziehen hätten. Gleichzeitig hatte sich aber der französische Kaiser durch seine Vertretung des Nationalitätsprinzips Deutschland gegenüber in gewissem Sinne die Hände gebunden, wie das Thiers ganz richtig vorausgesagt hatte. Daß er daneben im Prager Frieden dem Nationalitätsprinzip gemäß auf Rückabtretung der vorwiegend dänischen Teile Nord-Schleswigs an Dänemark nach einem künftigen Plebiszite drang, war gegenüber der gewaltigen Einheitsbewegung Deutschlands ein unschuldiges politisches Spiel. In der Tat scheiterte Napoleons des Dritten auswärtige Politik daran, daß er die Geister, die er gerufen, nicht wieder los wurde. Und das konnte ihm niemand weniger verzeihen als das französische Volk. Obgleich Napoleon der Dritte als erster unter den Regierenden sich auf das Nationalitätsprinzip berief, hat sich die Einigung Italiens und Deutschlands nicht mit ihm, sondern gegen ihn vollzogen. In den beiden Einheitsbewegungen fand das Nationalitätsprinzip seine freilich nicht restlose Verwirklichung. Doch schon hatte der neue Grundsatz angefangen, in dem zerbröckelnder türkischen Reiche sich auf die Balkanhalbinsel zu verpflanzen zur Befreiung der Hellenen, Rumänen und Slawen von türkischer Fremdherrschaft. Auch hier bediente sich wieder eine europäische Großmacht des Nationalitätsprinzips als Hebels ihrer auswärtigen Politik, Rußland. Eigentümlicher Widerspruch der Dinge. Dieselbe Macht, die Polen vernichtet und des letzten Nestes von Selb¬ ständigkeit entkleidet hatte, die die Ukrainer nur als Bestandteil des russischen Volkes kannte, fühlte sich berufen, den Balkanvölkern die Freiheit zu bringen. Und das letzte Ziel der russischen Balkanpolitik, der Erwerb Konstantinopels und der Meerengen, wo keine Russen noch überhaupt Slawen wohnten, für Rußland, schlug doch dem Nationalitätsprinzip geradezu ins Gesicht. Hier wurde das Nationalitätsprinzip zur Umkleidung des Widerspruches mit einem neuen Einschlage versehen, es ist die Idee des Panslawismus und der Orthodoxie. 15*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/239>, abgerufen am 15.01.2025.