Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus Lmanuel Geibels Schülerzeit

Daß diese dichterischen Versuche von einem Gymnasiasten stammen, der da
im hochragenden Pfarrhaus in der Fischgasse in Lübeck, hoch oben im vierten
Stock "im heimlichen Nest" an der Dachrinne "dreimalselige Stunden des
unbewußten Gestaltens" verträumte, "und dem glückte das Maß, eh' er die Regel
gelernt", sollte von ihrer Beachtung niemanden zurückschrecken. Es steht doch unter
ihnen schon das Lied vom "Zigeunerbuben im Norden", das er einst in der
Schule, in einer Zeichenstunde, aufs Papier geworfen hat, das, von Reissiger
in Musik gesetzt, bald Volkslied geworden und in Stuttgart neun Jahre später
dem erfreuten Dichter vom Kronprinzen Karl von Württemberg unter Liszts
Begleitung hinreißend vorgesungen worden istl*) Es stehen darunter fünf, die
er selbst der Aufnahme in die "Gesammelten Werke" gewürdigt, eins, das er in
die erste Auflage der "Gedichte" aufgenommen, zwei, die man in die Nachla߬
gedichte eingereiht, und sechs, die Gaedertz der Mitteilung in seiner Lebens¬
beschreibung Geibels für wert gehalten hat.

Daß die nationale Saite seines Herzens, die ganz von selbst, von keinem
anderen angeschlagen, in ihm von allen unsern Dichtern zuerst erklungen ist, in
diesen Liedern nicht schwingt, ist ein Zufall; denn im selben Jahre 1834 war
"Friedrich Rotbart" schon geschrieben und so der Grundton gefunden für seine
ganze künftige nationale Dichtung, in der er das Höchste erreichen sollte; im
selben Jahr war verfaßt das feurige Gedicht mit dem Ausblick auf "Des
Deutschen Reiches Morgenrot" bei Gaedertz Seite 36; aus Lübeck und Bonn,
aus den Jahren 1834 und 1835, stammen alle 26 Gedichte der G. W. I.,
Seite 3 bis 29.

Daß wir deutlichen Anklängen an andere, jene Zeit beherrschende Dichter
wie in seinen übrigen Jugendgedichten, so auch in diesen 19 Versuchen begegnen,
ist nur natürlich; jeder fängt wohl so an; es hat ihn auch nicht bekümmert;
"ich hört' die Meister singen und sang den Meistern nach", sagt er. Es
sind natürlich auch schwache Erzeugnisse darunter, deren Zurückhaltung kein
Unglück wäre; nur etwa acht von den neunzehn Gedichten sind als frei von
erheblichen Mängeln anzusehen; bei den einen enttäuscht der matte oder un¬
bedeutende oder ratlos-verlegene Schluß, bei andern der -- vielleicht auch nicht
einmal falsche -- Weltschmerz oder die bloß geahnte oder verbotene Liebe.
Aber es ist doch schon der ihm eigentümliche Ton, der durch seine gesamte
Dichtung klingt, in ihnen hörbar; in neunzehn Stücken vierzehn verschiedene
und zwar wohlgewählte, bezeichnende Strophen aufweisend, der Form nach fast
tadellos, lassen sie seine einstige, ja baldige Vollendung ahnen, und manche
üben, dem noch unbewußten Sehnen des Herzens entsprungen, in ihrer einfachen
Klarheit und Wahrheit auf^ den nicht voreingenommenen Beurteiler einen Reiz
aus, dem er sich willig hingeben wird.



*) Geibels Briefe an Malsburg, herausgegeben von- A. Duncker, S. 76. Wilhelm
Imsen erzählt, wie dies Gedicht den ersten Strahl von Poesie in seine junge Seele
geworfen habe.
Aus Lmanuel Geibels Schülerzeit

Daß diese dichterischen Versuche von einem Gymnasiasten stammen, der da
im hochragenden Pfarrhaus in der Fischgasse in Lübeck, hoch oben im vierten
Stock „im heimlichen Nest" an der Dachrinne „dreimalselige Stunden des
unbewußten Gestaltens" verträumte, „und dem glückte das Maß, eh' er die Regel
gelernt", sollte von ihrer Beachtung niemanden zurückschrecken. Es steht doch unter
ihnen schon das Lied vom „Zigeunerbuben im Norden", das er einst in der
Schule, in einer Zeichenstunde, aufs Papier geworfen hat, das, von Reissiger
in Musik gesetzt, bald Volkslied geworden und in Stuttgart neun Jahre später
dem erfreuten Dichter vom Kronprinzen Karl von Württemberg unter Liszts
Begleitung hinreißend vorgesungen worden istl*) Es stehen darunter fünf, die
er selbst der Aufnahme in die „Gesammelten Werke" gewürdigt, eins, das er in
die erste Auflage der „Gedichte" aufgenommen, zwei, die man in die Nachla߬
gedichte eingereiht, und sechs, die Gaedertz der Mitteilung in seiner Lebens¬
beschreibung Geibels für wert gehalten hat.

Daß die nationale Saite seines Herzens, die ganz von selbst, von keinem
anderen angeschlagen, in ihm von allen unsern Dichtern zuerst erklungen ist, in
diesen Liedern nicht schwingt, ist ein Zufall; denn im selben Jahre 1834 war
„Friedrich Rotbart" schon geschrieben und so der Grundton gefunden für seine
ganze künftige nationale Dichtung, in der er das Höchste erreichen sollte; im
selben Jahr war verfaßt das feurige Gedicht mit dem Ausblick auf „Des
Deutschen Reiches Morgenrot" bei Gaedertz Seite 36; aus Lübeck und Bonn,
aus den Jahren 1834 und 1835, stammen alle 26 Gedichte der G. W. I.,
Seite 3 bis 29.

Daß wir deutlichen Anklängen an andere, jene Zeit beherrschende Dichter
wie in seinen übrigen Jugendgedichten, so auch in diesen 19 Versuchen begegnen,
ist nur natürlich; jeder fängt wohl so an; es hat ihn auch nicht bekümmert;
„ich hört' die Meister singen und sang den Meistern nach", sagt er. Es
sind natürlich auch schwache Erzeugnisse darunter, deren Zurückhaltung kein
Unglück wäre; nur etwa acht von den neunzehn Gedichten sind als frei von
erheblichen Mängeln anzusehen; bei den einen enttäuscht der matte oder un¬
bedeutende oder ratlos-verlegene Schluß, bei andern der — vielleicht auch nicht
einmal falsche — Weltschmerz oder die bloß geahnte oder verbotene Liebe.
Aber es ist doch schon der ihm eigentümliche Ton, der durch seine gesamte
Dichtung klingt, in ihnen hörbar; in neunzehn Stücken vierzehn verschiedene
und zwar wohlgewählte, bezeichnende Strophen aufweisend, der Form nach fast
tadellos, lassen sie seine einstige, ja baldige Vollendung ahnen, und manche
üben, dem noch unbewußten Sehnen des Herzens entsprungen, in ihrer einfachen
Klarheit und Wahrheit auf^ den nicht voreingenommenen Beurteiler einen Reiz
aus, dem er sich willig hingeben wird.



*) Geibels Briefe an Malsburg, herausgegeben von- A. Duncker, S. 76. Wilhelm
Imsen erzählt, wie dies Gedicht den ersten Strahl von Poesie in seine junge Seele
geworfen habe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324473"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus Lmanuel Geibels Schülerzeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_188"> Daß diese dichterischen Versuche von einem Gymnasiasten stammen, der da<lb/>
im hochragenden Pfarrhaus in der Fischgasse in Lübeck, hoch oben im vierten<lb/>
Stock &#x201E;im heimlichen Nest" an der Dachrinne &#x201E;dreimalselige Stunden des<lb/>
unbewußten Gestaltens" verträumte, &#x201E;und dem glückte das Maß, eh' er die Regel<lb/>
gelernt", sollte von ihrer Beachtung niemanden zurückschrecken. Es steht doch unter<lb/>
ihnen schon das Lied vom &#x201E;Zigeunerbuben im Norden", das er einst in der<lb/>
Schule, in einer Zeichenstunde, aufs Papier geworfen hat, das, von Reissiger<lb/>
in Musik gesetzt, bald Volkslied geworden und in Stuttgart neun Jahre später<lb/>
dem erfreuten Dichter vom Kronprinzen Karl von Württemberg unter Liszts<lb/>
Begleitung hinreißend vorgesungen worden istl*) Es stehen darunter fünf, die<lb/>
er selbst der Aufnahme in die &#x201E;Gesammelten Werke" gewürdigt, eins, das er in<lb/>
die erste Auflage der &#x201E;Gedichte" aufgenommen, zwei, die man in die Nachla߬<lb/>
gedichte eingereiht, und sechs, die Gaedertz der Mitteilung in seiner Lebens¬<lb/>
beschreibung Geibels für wert gehalten hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_189"> Daß die nationale Saite seines Herzens, die ganz von selbst, von keinem<lb/>
anderen angeschlagen, in ihm von allen unsern Dichtern zuerst erklungen ist, in<lb/>
diesen Liedern nicht schwingt, ist ein Zufall; denn im selben Jahre 1834 war<lb/>
&#x201E;Friedrich Rotbart" schon geschrieben und so der Grundton gefunden für seine<lb/>
ganze künftige nationale Dichtung, in der er das Höchste erreichen sollte; im<lb/>
selben Jahr war verfaßt das feurige Gedicht mit dem Ausblick auf &#x201E;Des<lb/>
Deutschen Reiches Morgenrot" bei Gaedertz Seite 36; aus Lübeck und Bonn,<lb/>
aus den Jahren 1834 und 1835, stammen alle 26 Gedichte der G. W. I.,<lb/>
Seite 3 bis 29.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_190"> Daß wir deutlichen Anklängen an andere, jene Zeit beherrschende Dichter<lb/>
wie in seinen übrigen Jugendgedichten, so auch in diesen 19 Versuchen begegnen,<lb/>
ist nur natürlich; jeder fängt wohl so an; es hat ihn auch nicht bekümmert;<lb/>
&#x201E;ich hört' die Meister singen und sang den Meistern nach", sagt er. Es<lb/>
sind natürlich auch schwache Erzeugnisse darunter, deren Zurückhaltung kein<lb/>
Unglück wäre; nur etwa acht von den neunzehn Gedichten sind als frei von<lb/>
erheblichen Mängeln anzusehen; bei den einen enttäuscht der matte oder un¬<lb/>
bedeutende oder ratlos-verlegene Schluß, bei andern der &#x2014; vielleicht auch nicht<lb/>
einmal falsche &#x2014; Weltschmerz oder die bloß geahnte oder verbotene Liebe.<lb/>
Aber es ist doch schon der ihm eigentümliche Ton, der durch seine gesamte<lb/>
Dichtung klingt, in ihnen hörbar; in neunzehn Stücken vierzehn verschiedene<lb/>
und zwar wohlgewählte, bezeichnende Strophen aufweisend, der Form nach fast<lb/>
tadellos, lassen sie seine einstige, ja baldige Vollendung ahnen, und manche<lb/>
üben, dem noch unbewußten Sehnen des Herzens entsprungen, in ihrer einfachen<lb/>
Klarheit und Wahrheit auf^ den nicht voreingenommenen Beurteiler einen Reiz<lb/>
aus, dem er sich willig hingeben wird.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_31" place="foot"> *) Geibels Briefe an Malsburg, herausgegeben von- A. Duncker, S. 76. Wilhelm<lb/>
Imsen erzählt, wie dies Gedicht den ersten Strahl von Poesie in seine junge Seele<lb/>
geworfen habe.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Aus Lmanuel Geibels Schülerzeit Daß diese dichterischen Versuche von einem Gymnasiasten stammen, der da im hochragenden Pfarrhaus in der Fischgasse in Lübeck, hoch oben im vierten Stock „im heimlichen Nest" an der Dachrinne „dreimalselige Stunden des unbewußten Gestaltens" verträumte, „und dem glückte das Maß, eh' er die Regel gelernt", sollte von ihrer Beachtung niemanden zurückschrecken. Es steht doch unter ihnen schon das Lied vom „Zigeunerbuben im Norden", das er einst in der Schule, in einer Zeichenstunde, aufs Papier geworfen hat, das, von Reissiger in Musik gesetzt, bald Volkslied geworden und in Stuttgart neun Jahre später dem erfreuten Dichter vom Kronprinzen Karl von Württemberg unter Liszts Begleitung hinreißend vorgesungen worden istl*) Es stehen darunter fünf, die er selbst der Aufnahme in die „Gesammelten Werke" gewürdigt, eins, das er in die erste Auflage der „Gedichte" aufgenommen, zwei, die man in die Nachla߬ gedichte eingereiht, und sechs, die Gaedertz der Mitteilung in seiner Lebens¬ beschreibung Geibels für wert gehalten hat. Daß die nationale Saite seines Herzens, die ganz von selbst, von keinem anderen angeschlagen, in ihm von allen unsern Dichtern zuerst erklungen ist, in diesen Liedern nicht schwingt, ist ein Zufall; denn im selben Jahre 1834 war „Friedrich Rotbart" schon geschrieben und so der Grundton gefunden für seine ganze künftige nationale Dichtung, in der er das Höchste erreichen sollte; im selben Jahr war verfaßt das feurige Gedicht mit dem Ausblick auf „Des Deutschen Reiches Morgenrot" bei Gaedertz Seite 36; aus Lübeck und Bonn, aus den Jahren 1834 und 1835, stammen alle 26 Gedichte der G. W. I., Seite 3 bis 29. Daß wir deutlichen Anklängen an andere, jene Zeit beherrschende Dichter wie in seinen übrigen Jugendgedichten, so auch in diesen 19 Versuchen begegnen, ist nur natürlich; jeder fängt wohl so an; es hat ihn auch nicht bekümmert; „ich hört' die Meister singen und sang den Meistern nach", sagt er. Es sind natürlich auch schwache Erzeugnisse darunter, deren Zurückhaltung kein Unglück wäre; nur etwa acht von den neunzehn Gedichten sind als frei von erheblichen Mängeln anzusehen; bei den einen enttäuscht der matte oder un¬ bedeutende oder ratlos-verlegene Schluß, bei andern der — vielleicht auch nicht einmal falsche — Weltschmerz oder die bloß geahnte oder verbotene Liebe. Aber es ist doch schon der ihm eigentümliche Ton, der durch seine gesamte Dichtung klingt, in ihnen hörbar; in neunzehn Stücken vierzehn verschiedene und zwar wohlgewählte, bezeichnende Strophen aufweisend, der Form nach fast tadellos, lassen sie seine einstige, ja baldige Vollendung ahnen, und manche üben, dem noch unbewußten Sehnen des Herzens entsprungen, in ihrer einfachen Klarheit und Wahrheit auf^ den nicht voreingenommenen Beurteiler einen Reiz aus, dem er sich willig hingeben wird. *) Geibels Briefe an Malsburg, herausgegeben von- A. Duncker, S. 76. Wilhelm Imsen erzählt, wie dies Gedicht den ersten Strahl von Poesie in seine junge Seele geworfen habe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/64>, abgerufen am 22.07.2024.