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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Humanitätsgedanke und volkstum

Eigenart. Während der Mann in seiner gesamten Seinsweise einem Dualismus
unterworfen ist, insofern bei ihm die Sphären der geschlechtlichen Differenzierung
und der Kulturtätigkeit schroff auseinanderfallen, offenbart sich das Weibliche
in ungebrochener Einheitlichkeit und genießt damit die Vorzüge der Avrundung
und Ausgeglichenheit. Trotz der Richtigkeit dieser Darstellung betont jedoch
Marianne Weber, daß anderseits der Wert des Weibes -- und das bedeutet
eine ganz andere Fragestellung! -- niemals darin aufgehen könne, Weib zu
sein. Denn liegt im rein Menschlichen, wir meinen: in der Summe objektiv
geschaffener Kulturgüter, ein hoher geistiger Wert, der über die sich abschließende
Partikularität des Geschlechtergegensatzes hinausgreift, so soll auch das Weib
an diesen reinmenschlichen Gütern teilnehmen. Wir werden sagen: von Natur
wegen ist das Weib durch seine Eigenart abseits des ideal Menschlichen besondere,
von Geistes wegen soll es sich zur Humanität hindurchringen.

Es ist nun die Frage, ob die hier für das Wetbtum gegebene Lösung
entsprechend auch für das Volkstum gilt. Dort wie hier stünde dann einer physisch,
beziehungsweise historisch willkürlich gegebenen Eigenart ein ewig gültiges, richtung-
weisendes Ideal gegenüber, zu dessen Erreichung die zufällige Eigenart bloßes
Mittel ist, Sie spielte damit die Doppelrolle eines jeden solchen Mittels: einer
den Höhenflug befördernden Stufenleiter und zugleich des zu überwindenden
Entwicklungsstadiums. Die volkliche Eigenart gäbe den Widerstand, aber auch
den Angriffspunkt für das Weiterschreiten ab, wie die Lust des Vogels Flug
erst durch Widerstand und Reibung befördert. In der Tat können wir bei
genauerem Zusehen der Volksindividualität wie aller Individualität keinen ab¬
soluten, keinen Eigenwert beimessen, wie wir einen solchen dem Humanitäts¬
ideal zuerkennen müssen. Mögen wir in diesem (nach R. Eifler) die höchste
mögliche Entfaltung menschlicher Kultur und Gesittung als Endziel des Handelns,
mit Wundt als Inhalt des Sittengesetzes, als idealen Zielpunkt der Geschichte
oder mit H. Cohen als "Kontrollinstanz aller Tugenden, das Zentrum aller
Tugenden; daher auch die höchste Instanz aller Erzeugnisse, aller Ideale der
Sittlichkeit" begreifen, stets liegt in ihm das Ideale, Unerfahrbare, Raum und
Zeit Entrückte, absolut ausnahmslos alle Menschen und Völker in gleicher Weise
Angehende. Mit dem Humanitätsideal kann sich daher keine Individualität,
weder eines Menschen noch eines Volkes, an Wert und Bedeutung messen. Die
Individualität kann immer nur einen Wert für etwas besitzen, also niemals
einen sittlichen, sondern nur einen pädagogischen. Als Beispiel betrachte man
die Eigenart des russischen Volkes, wie sie sich in seiner Musik offenbart. Diese
eignet sich nur für einen ganz bestimmten Ausdruck; ihr fehlt der universale
Zug, die Richtung auf das Ideal-menschliche. Denn einer resignierenden,
fatalistisch-schwermutvollen Stimmung als Grundton einer ganzen Kunst kann
nicht mehr allgemein-menschliche Bedeutung zuerkannt werden. Die Humanitätsidee
liegt in der entgegengesetzten Richtung, hat kraftvolle Aktivität und positive
Gemütsstimmung zum Inhalt.


Humanitätsgedanke und volkstum

Eigenart. Während der Mann in seiner gesamten Seinsweise einem Dualismus
unterworfen ist, insofern bei ihm die Sphären der geschlechtlichen Differenzierung
und der Kulturtätigkeit schroff auseinanderfallen, offenbart sich das Weibliche
in ungebrochener Einheitlichkeit und genießt damit die Vorzüge der Avrundung
und Ausgeglichenheit. Trotz der Richtigkeit dieser Darstellung betont jedoch
Marianne Weber, daß anderseits der Wert des Weibes — und das bedeutet
eine ganz andere Fragestellung! — niemals darin aufgehen könne, Weib zu
sein. Denn liegt im rein Menschlichen, wir meinen: in der Summe objektiv
geschaffener Kulturgüter, ein hoher geistiger Wert, der über die sich abschließende
Partikularität des Geschlechtergegensatzes hinausgreift, so soll auch das Weib
an diesen reinmenschlichen Gütern teilnehmen. Wir werden sagen: von Natur
wegen ist das Weib durch seine Eigenart abseits des ideal Menschlichen besondere,
von Geistes wegen soll es sich zur Humanität hindurchringen.

Es ist nun die Frage, ob die hier für das Wetbtum gegebene Lösung
entsprechend auch für das Volkstum gilt. Dort wie hier stünde dann einer physisch,
beziehungsweise historisch willkürlich gegebenen Eigenart ein ewig gültiges, richtung-
weisendes Ideal gegenüber, zu dessen Erreichung die zufällige Eigenart bloßes
Mittel ist, Sie spielte damit die Doppelrolle eines jeden solchen Mittels: einer
den Höhenflug befördernden Stufenleiter und zugleich des zu überwindenden
Entwicklungsstadiums. Die volkliche Eigenart gäbe den Widerstand, aber auch
den Angriffspunkt für das Weiterschreiten ab, wie die Lust des Vogels Flug
erst durch Widerstand und Reibung befördert. In der Tat können wir bei
genauerem Zusehen der Volksindividualität wie aller Individualität keinen ab¬
soluten, keinen Eigenwert beimessen, wie wir einen solchen dem Humanitäts¬
ideal zuerkennen müssen. Mögen wir in diesem (nach R. Eifler) die höchste
mögliche Entfaltung menschlicher Kultur und Gesittung als Endziel des Handelns,
mit Wundt als Inhalt des Sittengesetzes, als idealen Zielpunkt der Geschichte
oder mit H. Cohen als „Kontrollinstanz aller Tugenden, das Zentrum aller
Tugenden; daher auch die höchste Instanz aller Erzeugnisse, aller Ideale der
Sittlichkeit" begreifen, stets liegt in ihm das Ideale, Unerfahrbare, Raum und
Zeit Entrückte, absolut ausnahmslos alle Menschen und Völker in gleicher Weise
Angehende. Mit dem Humanitätsideal kann sich daher keine Individualität,
weder eines Menschen noch eines Volkes, an Wert und Bedeutung messen. Die
Individualität kann immer nur einen Wert für etwas besitzen, also niemals
einen sittlichen, sondern nur einen pädagogischen. Als Beispiel betrachte man
die Eigenart des russischen Volkes, wie sie sich in seiner Musik offenbart. Diese
eignet sich nur für einen ganz bestimmten Ausdruck; ihr fehlt der universale
Zug, die Richtung auf das Ideal-menschliche. Denn einer resignierenden,
fatalistisch-schwermutvollen Stimmung als Grundton einer ganzen Kunst kann
nicht mehr allgemein-menschliche Bedeutung zuerkannt werden. Die Humanitätsidee
liegt in der entgegengesetzten Richtung, hat kraftvolle Aktivität und positive
Gemütsstimmung zum Inhalt.


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[0046] Humanitätsgedanke und volkstum Eigenart. Während der Mann in seiner gesamten Seinsweise einem Dualismus unterworfen ist, insofern bei ihm die Sphären der geschlechtlichen Differenzierung und der Kulturtätigkeit schroff auseinanderfallen, offenbart sich das Weibliche in ungebrochener Einheitlichkeit und genießt damit die Vorzüge der Avrundung und Ausgeglichenheit. Trotz der Richtigkeit dieser Darstellung betont jedoch Marianne Weber, daß anderseits der Wert des Weibes — und das bedeutet eine ganz andere Fragestellung! — niemals darin aufgehen könne, Weib zu sein. Denn liegt im rein Menschlichen, wir meinen: in der Summe objektiv geschaffener Kulturgüter, ein hoher geistiger Wert, der über die sich abschließende Partikularität des Geschlechtergegensatzes hinausgreift, so soll auch das Weib an diesen reinmenschlichen Gütern teilnehmen. Wir werden sagen: von Natur wegen ist das Weib durch seine Eigenart abseits des ideal Menschlichen besondere, von Geistes wegen soll es sich zur Humanität hindurchringen. Es ist nun die Frage, ob die hier für das Wetbtum gegebene Lösung entsprechend auch für das Volkstum gilt. Dort wie hier stünde dann einer physisch, beziehungsweise historisch willkürlich gegebenen Eigenart ein ewig gültiges, richtung- weisendes Ideal gegenüber, zu dessen Erreichung die zufällige Eigenart bloßes Mittel ist, Sie spielte damit die Doppelrolle eines jeden solchen Mittels: einer den Höhenflug befördernden Stufenleiter und zugleich des zu überwindenden Entwicklungsstadiums. Die volkliche Eigenart gäbe den Widerstand, aber auch den Angriffspunkt für das Weiterschreiten ab, wie die Lust des Vogels Flug erst durch Widerstand und Reibung befördert. In der Tat können wir bei genauerem Zusehen der Volksindividualität wie aller Individualität keinen ab¬ soluten, keinen Eigenwert beimessen, wie wir einen solchen dem Humanitäts¬ ideal zuerkennen müssen. Mögen wir in diesem (nach R. Eifler) die höchste mögliche Entfaltung menschlicher Kultur und Gesittung als Endziel des Handelns, mit Wundt als Inhalt des Sittengesetzes, als idealen Zielpunkt der Geschichte oder mit H. Cohen als „Kontrollinstanz aller Tugenden, das Zentrum aller Tugenden; daher auch die höchste Instanz aller Erzeugnisse, aller Ideale der Sittlichkeit" begreifen, stets liegt in ihm das Ideale, Unerfahrbare, Raum und Zeit Entrückte, absolut ausnahmslos alle Menschen und Völker in gleicher Weise Angehende. Mit dem Humanitätsideal kann sich daher keine Individualität, weder eines Menschen noch eines Volkes, an Wert und Bedeutung messen. Die Individualität kann immer nur einen Wert für etwas besitzen, also niemals einen sittlichen, sondern nur einen pädagogischen. Als Beispiel betrachte man die Eigenart des russischen Volkes, wie sie sich in seiner Musik offenbart. Diese eignet sich nur für einen ganz bestimmten Ausdruck; ihr fehlt der universale Zug, die Richtung auf das Ideal-menschliche. Denn einer resignierenden, fatalistisch-schwermutvollen Stimmung als Grundton einer ganzen Kunst kann nicht mehr allgemein-menschliche Bedeutung zuerkannt werden. Die Humanitätsidee liegt in der entgegengesetzten Richtung, hat kraftvolle Aktivität und positive Gemütsstimmung zum Inhalt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/46>, abgerufen am 28.09.2024.