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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Humanitätsgedanke und volkstum

Niemals also kann die Menschheitsidee innerhalb der volklichen Partiku¬
larität verwirklicht werden, kann auch nicht in deren Verlängerungslinie liegen.
Vielmehr muß etwas hinzukommen, was die Partikularität, die Einseitigkeit
aufhebt, soll es zur Verwirklichung des Menschheitsgedankens kommen. Denn
so sehr das Vaterland ebenso wie die Familie erst den ganzen Menschen schaffen
helfen, dürfen sie doch zuletzt nur Gefäße geistiger, menschlicher Inhalte sein
und greifen damit über das Nur - familiäre, Nur ° vaterländische weit hinaus.
Der Geist, wo immer er in die Geschichte tritt, setzt sich in Widerspruch zu der
volklichen Besonderung. Wo er sich durchsetzt, bringt er den bisherigen Begriff
der jeweiligen Nationalkultur zum Verschwinden, kann aber freilich eben damit
wieder einen neuen erzeugen helfen, der dem Menschheitsideal entspricht oder
nahe kommt. So fand die althellenische Nationalkultur der Perserkriege mit
ihrer Frommheit, Unmittelbarkeit, Unbefangenheit und Einfalt ihren Untergang
durch die griechische Aufklärung. Aber gerade indem Sokrates sich von der
nationalen Art entfernte, inaugurierte er das, was wir heute spezifisch hellenische
Philosophie und Weltanschauung nennen. Hier ist die Sprengung der eigen¬
willigen nationalen Sonderart die Vorbedingung für die Selbstoffen¬
barung des Geistes und damit für die Entfaltung des Ideal-volk¬
lichen. Allgemein-menschliche, gar nicht national-hellenische Bedeutung besaß
Platons Idealstaat. Die Religion des israelitischen Volkes war streng
national. Aber die aus seinem Schoße hervorgegangene edelste Frucht: die
Humanitätsreligion Jesu lag nicht in der bloßen Verlängerungslinie des jüdischen
Volkstums, sondern überwand dieses. So ruft überall der Geist eine Entzweiung
mit der Natur, der natürlichen Eigenart hervor. Das Volkstum im engeren und
natürlichen Sinne zeigt sich allemal für die Menschheitsidee hemmend. In
ihm liegt etwas Borniertes und Aggressives, das jede Motivierung als Ratio¬
nalismus ablehnt. Wir kennen diesen Standpunkt an Rußland, wo selbst die
Gebildeten und Weltweise wie Tolstoj einem beschränkten Nationalismus
huldigen. Wo daher in der Geschichte der Geist zur Universalität und damit
zum Menschheitsgedanken durchdringt, da sehen wir als fein erstes Opfer den
Nationalismus, das heißt die auf dem kleinlichen Prinzip der Rassensonderart
aufgebaute Weltanschauung, den Jchkult des Volkstums, dahinhinken. Doch
verfährt der Geist in dem Ersatz, den er an Stelle dieses Individualismus
gibt, den jedes Volk in seinem Leben einmal durchmacht, keineswegs gleichmäßig.
Wir unterscheiden zwei Formen seiner Universalität. Das Christentum setzte an
die Stelle des jüdischen und des römischen Nationalhochmuts die Lehre von
der durchgängigen Gleichheit aller Menschen vor Gott. Hier, wie schon in der
Philosophenschule der Stoiker, wird die volkliche Zugehörigkeit, überhaupt jede
nationale Bestimmung als vollkommen irrelevant übergangen. So erst konnte
die christliche Religion Weltreligion werden. Der andere Weg ist der hellenische.
Der von Griechenland ausgehende menschheitbildende Geist trägt trotz seiner
Universalität die Bezeichnung "griechisch". Aber dies Ewig-Hellenische ist eben
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Humanitätsgedanke und volkstum

Niemals also kann die Menschheitsidee innerhalb der volklichen Partiku¬
larität verwirklicht werden, kann auch nicht in deren Verlängerungslinie liegen.
Vielmehr muß etwas hinzukommen, was die Partikularität, die Einseitigkeit
aufhebt, soll es zur Verwirklichung des Menschheitsgedankens kommen. Denn
so sehr das Vaterland ebenso wie die Familie erst den ganzen Menschen schaffen
helfen, dürfen sie doch zuletzt nur Gefäße geistiger, menschlicher Inhalte sein
und greifen damit über das Nur - familiäre, Nur ° vaterländische weit hinaus.
Der Geist, wo immer er in die Geschichte tritt, setzt sich in Widerspruch zu der
volklichen Besonderung. Wo er sich durchsetzt, bringt er den bisherigen Begriff
der jeweiligen Nationalkultur zum Verschwinden, kann aber freilich eben damit
wieder einen neuen erzeugen helfen, der dem Menschheitsideal entspricht oder
nahe kommt. So fand die althellenische Nationalkultur der Perserkriege mit
ihrer Frommheit, Unmittelbarkeit, Unbefangenheit und Einfalt ihren Untergang
durch die griechische Aufklärung. Aber gerade indem Sokrates sich von der
nationalen Art entfernte, inaugurierte er das, was wir heute spezifisch hellenische
Philosophie und Weltanschauung nennen. Hier ist die Sprengung der eigen¬
willigen nationalen Sonderart die Vorbedingung für die Selbstoffen¬
barung des Geistes und damit für die Entfaltung des Ideal-volk¬
lichen. Allgemein-menschliche, gar nicht national-hellenische Bedeutung besaß
Platons Idealstaat. Die Religion des israelitischen Volkes war streng
national. Aber die aus seinem Schoße hervorgegangene edelste Frucht: die
Humanitätsreligion Jesu lag nicht in der bloßen Verlängerungslinie des jüdischen
Volkstums, sondern überwand dieses. So ruft überall der Geist eine Entzweiung
mit der Natur, der natürlichen Eigenart hervor. Das Volkstum im engeren und
natürlichen Sinne zeigt sich allemal für die Menschheitsidee hemmend. In
ihm liegt etwas Borniertes und Aggressives, das jede Motivierung als Ratio¬
nalismus ablehnt. Wir kennen diesen Standpunkt an Rußland, wo selbst die
Gebildeten und Weltweise wie Tolstoj einem beschränkten Nationalismus
huldigen. Wo daher in der Geschichte der Geist zur Universalität und damit
zum Menschheitsgedanken durchdringt, da sehen wir als fein erstes Opfer den
Nationalismus, das heißt die auf dem kleinlichen Prinzip der Rassensonderart
aufgebaute Weltanschauung, den Jchkult des Volkstums, dahinhinken. Doch
verfährt der Geist in dem Ersatz, den er an Stelle dieses Individualismus
gibt, den jedes Volk in seinem Leben einmal durchmacht, keineswegs gleichmäßig.
Wir unterscheiden zwei Formen seiner Universalität. Das Christentum setzte an
die Stelle des jüdischen und des römischen Nationalhochmuts die Lehre von
der durchgängigen Gleichheit aller Menschen vor Gott. Hier, wie schon in der
Philosophenschule der Stoiker, wird die volkliche Zugehörigkeit, überhaupt jede
nationale Bestimmung als vollkommen irrelevant übergangen. So erst konnte
die christliche Religion Weltreligion werden. Der andere Weg ist der hellenische.
Der von Griechenland ausgehende menschheitbildende Geist trägt trotz seiner
Universalität die Bezeichnung „griechisch". Aber dies Ewig-Hellenische ist eben
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[0047] Humanitätsgedanke und volkstum Niemals also kann die Menschheitsidee innerhalb der volklichen Partiku¬ larität verwirklicht werden, kann auch nicht in deren Verlängerungslinie liegen. Vielmehr muß etwas hinzukommen, was die Partikularität, die Einseitigkeit aufhebt, soll es zur Verwirklichung des Menschheitsgedankens kommen. Denn so sehr das Vaterland ebenso wie die Familie erst den ganzen Menschen schaffen helfen, dürfen sie doch zuletzt nur Gefäße geistiger, menschlicher Inhalte sein und greifen damit über das Nur - familiäre, Nur ° vaterländische weit hinaus. Der Geist, wo immer er in die Geschichte tritt, setzt sich in Widerspruch zu der volklichen Besonderung. Wo er sich durchsetzt, bringt er den bisherigen Begriff der jeweiligen Nationalkultur zum Verschwinden, kann aber freilich eben damit wieder einen neuen erzeugen helfen, der dem Menschheitsideal entspricht oder nahe kommt. So fand die althellenische Nationalkultur der Perserkriege mit ihrer Frommheit, Unmittelbarkeit, Unbefangenheit und Einfalt ihren Untergang durch die griechische Aufklärung. Aber gerade indem Sokrates sich von der nationalen Art entfernte, inaugurierte er das, was wir heute spezifisch hellenische Philosophie und Weltanschauung nennen. Hier ist die Sprengung der eigen¬ willigen nationalen Sonderart die Vorbedingung für die Selbstoffen¬ barung des Geistes und damit für die Entfaltung des Ideal-volk¬ lichen. Allgemein-menschliche, gar nicht national-hellenische Bedeutung besaß Platons Idealstaat. Die Religion des israelitischen Volkes war streng national. Aber die aus seinem Schoße hervorgegangene edelste Frucht: die Humanitätsreligion Jesu lag nicht in der bloßen Verlängerungslinie des jüdischen Volkstums, sondern überwand dieses. So ruft überall der Geist eine Entzweiung mit der Natur, der natürlichen Eigenart hervor. Das Volkstum im engeren und natürlichen Sinne zeigt sich allemal für die Menschheitsidee hemmend. In ihm liegt etwas Borniertes und Aggressives, das jede Motivierung als Ratio¬ nalismus ablehnt. Wir kennen diesen Standpunkt an Rußland, wo selbst die Gebildeten und Weltweise wie Tolstoj einem beschränkten Nationalismus huldigen. Wo daher in der Geschichte der Geist zur Universalität und damit zum Menschheitsgedanken durchdringt, da sehen wir als fein erstes Opfer den Nationalismus, das heißt die auf dem kleinlichen Prinzip der Rassensonderart aufgebaute Weltanschauung, den Jchkult des Volkstums, dahinhinken. Doch verfährt der Geist in dem Ersatz, den er an Stelle dieses Individualismus gibt, den jedes Volk in seinem Leben einmal durchmacht, keineswegs gleichmäßig. Wir unterscheiden zwei Formen seiner Universalität. Das Christentum setzte an die Stelle des jüdischen und des römischen Nationalhochmuts die Lehre von der durchgängigen Gleichheit aller Menschen vor Gott. Hier, wie schon in der Philosophenschule der Stoiker, wird die volkliche Zugehörigkeit, überhaupt jede nationale Bestimmung als vollkommen irrelevant übergangen. So erst konnte die christliche Religion Weltreligion werden. Der andere Weg ist der hellenische. Der von Griechenland ausgehende menschheitbildende Geist trägt trotz seiner Universalität die Bezeichnung „griechisch". Aber dies Ewig-Hellenische ist eben » 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/47>, abgerufen am 24.08.2024.